haasis:wortgeburten

„DER ATEM GOTTES BERÜHRT DIE VÖLKER“
HITLER UND DIE EVANGELISCHE KIRCHE.
PREDIGTEN MEINES VATERS ERWIN HAASIS (1936-1943) IN MÜHLACKER/ENZ

(digitalisiert und kommentiert März/Juli 2008 vom Sohn Hellmut G. Haasis)

Im Jahr 2007 entdeckte ich Reste der Predigtnotizen meines Vaters. Für eine überarbeitete Fassung meiner Elser-Biografie sammelte ich Nachträge. Was die Geistlichen der großen Konfessionen nach Elsers Anschlag 1939 am nächsten Sonntag predigten, gehört bisher zu den Grauzonen der Überlieferung. Und was predigte damals mein Vater?

Wenige Meldungen in Kirchenblättern, wie ich sie in der Elser-Biografie notiert hatte, zeigen noch lange nicht, wie die Pfarrer das Attentat verarbeiteten, für sich und die anderen Ratlosen.

Auf einen Glücksfall stieß ich im Nachlass meines Vaters, des 2. evangelischen Stadtpfarrers in Mühlacker/Enz, Kreis Vaihingen/Enz. Er hatte, wie eine Minderheit seiner Kollegen in Württemberg, im Jahr 1937 den Eid auf den Schreihals von Braunau verweigert.

Aus theologischen Gründen: Ihr oberster Herr sei Gott, ihre Richtschnur das Evangelium, nicht der Reichskanzler.

Mein Vater rechnete damit, entlassen zu werden, wie es in anderen evangelischen Landeskirchen im Reich auch geschah. Meine Mutter hielt zu ihm und lag ihm nicht in den Ohren, er müsse sich wegen der Familie anpassen.

Sie hatten schon eine kleine Tochter, meine Schwester Evamaria, geboren 1935. Sie hätten nur zu den Eltern meiner Mutter nach Stuttgart ziehen können, wo mein Vater in einer Buchhandlung Arbeit gesucht hätte.

Als ein dem Regime unbequemer Pfarrer? Ich denke nicht, dass irgendeine Stuttgarter Buchhandlung ihn einzustellen sich hätte getrauen dürfen und auch bloß mögen wollen.

Hochzeit Gertrud+Erwin Haasis (1934),
im Hintergrund die Hakenkreuzfahne, von meinem
Großvater, Bezirkskaminfegermeister, vorne links, ohne Zwang der Partei
gehisst


PROVOKATION DURCH DIE HITLER-JUGEND

Im Dezember 1935 kam es beim Besuch des Landesbischofs Theophil Wurm in Mühlacker zu einer Provokation durch die Hitlerjugend. Nach der Beendigung des Nachmmittags-Gottesdienstes in Dürrmenz zogen die Pfarrer des Dekanatsbezirks in Zweierreihen aus der Kirche.

Da wurden sie von der in einem provozierend engen Spalier links und rechts sich herandrängenden Hitlerjungen mit klappernden Sammelbüchsen des Winterhilfswerks empfangen, die den Kampfspruch skandierten:

„Die einen werden vom Fressen satt,
die andern werden Soldat.“

Ein widerliches Geschrei, das meiner Mutter bis zu ihrem Tod 2002 ins Gedächtnis eingebrannt blieb.

Die Gemeinde wie die Pfarrer empfanden die HJ-Aktion als PROVOKATION. Mein Vater sagte deshalb an den beiden Weihnachtsfeiertagen bei den Abkündigungen am Ende des Gottesdienstes:

Wenn wieder ein Besuch komme, mögen die Eltern dafür sorgen, dass die Kinder sich nicht so TAKTLOS benehmen.

Dies empfand die NSDAP-Kreisleitung als ANGRIFF. – Auch in der Kirche fehlte es nicht an Spitzeln.

In einer Beilage zur Mühlacker Zeitung DER BRAUNE SENDER (welch schöner Name) erfolgte ein Schlag gegen meinen Vater.
(Siehe hinten im Anhang)

Sofort war mein Vater, waren meine Eltern isoliert. Auf der Straße wechselten Passanten die Straßenseite, wenn sie nicht vorher abbiegen konnten. Niemand grüßte. Niemand besuchte sie. Monatelang.

Halt, eine Ausnahme gab’s in der KOLLEKTIVEN FEIGHEIT: die Apothekersfamilie RICHTER, der mein Vater durch die nichtschlagende Tübinger Verbindung Nicaria verbunden war.

Die Richters standen am Weihnachtstag plötzlich vor unserem Haus, am Berg im ULRICHSWEG über der Enz, und brachten auf einem LEITERWAGEN ihre EISENBAHN Spur 0 mit. Meine Mutter, erst anderthalb Jahr verheiratet und bereits unter einem unvorstellbaren politischen Druck, atmete auf.

Das übrige Mühlacker beugte sich feige der Partei – ohne dazu aufgefordert oder gar gezwungen zu sein.

Mein Vater stand von jetzt an unter GESTAPOAUFSICHT. Bald sprach ihn nach einem Gottesdienst der FELDSCHÜTZ an, er müsse ihm etwas GESTEHEN:

Er habe den Auftrag, ab jetzt über die Gottesdienste meines Vater BERICHTE zu schreiben, er wisse aber nicht WAS.
Wer ihn beauftragt habe?
Die GESTAPO DER KREISSTADT VAIHINGEN.

Mein Vater lud den Feldschützen ein, nach dem Mittagessen zu ihm zu kommen, man könne den Bericht GEMEINSAM SCHREIBEN.

SCHLIITZOHRIGER UNGEHORSAM

Und so schrieben der Pfarrer und der ehrliche „Spitzel“ jeden Sonntag in Eintracht an DIE GESTAPO.

Stoff für einen SCHRÄGEN Film. Der Pfarrer und ein selten charakterfester Mensch wiegen die Worte ab, wie man sie bei der Gestapo gerade noch als Beobachtung ausgeben kann – und doch niemand ans Messer liefert.

Diesee SCHLITZOHRIGER UNGEHORSAM war durchaus möglich – man musste sich nur getrauen.

War das Widerstand? Was sagen dazu unsere Herren (und Damen) Universitätsforscherlehrerpromoviertenhabilitiertengraduierten?

Gertrud+Erwin Haasis mit Evmarie (1935)

 

Die ganze Szene ist ein köstliches Ereignis, reif zu einem SCHWANK IN TRÜBEN ZEITEN. Noch heute gratuliere ich dem aufrechten Mann, der sich zu helfen wusste und NICHT AUF DEN KOPF GEFALLEN war.
Ein einfacher Feldschütz von Mühlacker.

EHRE SEINEM ANDENKEN. Und ein Blumensträußchen auf sein GRAB.

Leider haben die Gestapo-Leute von Vaihingen bei Kriegsende diese Berichte mit allem anderen Material VERBRANNT. Vielleicht waren die Papiere aber auch so neutral aus- und abgewogen, dass sie uns heute ohne die nicht mehr vorstellbare Angst mausgrau, langweilig, weichgespült erschienen?

Wenig später bekam mein Vater eine VORLADUNG zur Gestapo nach Vaihingen. Mit bangen Gefühlen ging er hin, ohne seiner Frau etwas zu sagen. Alle wussten vom KZ DACHAU, die GOTTBEGNADETE VERGESSLICHKEIT nach 1945 war noch nicht ausgebrochen.

Mein Vater wurde gründlich, aber FAIR VERHÖRT, wie er meiner Mutter erzählte. Zur Erinnerung kaufte er eine schwungvolle dunkle Vase, die noch heute in unserer Familie in Ehren gehalten wird.

Zum Glück hatten ihn GELERNTE KRIPOLEUTE verhört, keine skrupellosen, ehrgeizigen Aufsteiger aus der Partei, SA-Leute oder so. Keine Schlägerbande aus dem Sumpf der moralfreien Karrieristen, der NEUEN ELITE.

Gestapo: Warum er im Gottesdienst in einem Lied bestimmte VERSE AUSLASSE und andere singen lasse? Warum er diesen oder jenen Bibeltext gewählt habe? usw.

Mein Vater nannte gute Gründe, er blieb nicht stecken.

Gestapo: In einer Anzeige werde ihm vorgeworfen, bei Liedern Verse, die FÜR DAS REICH sprächen, auszulassen, dagegen Verse, die FÜR DIE KIRCHE seien, singen zu lassen.
Es herrschte KIRCHENKAMPF.

Die Vorwürfe konnte er als unsinnig erklären.

Zum Schluss fragte mein Vater zurück, wer ihn angezeigt habe?

(Mit Vergnügen stelle ich fest: Mit einer solchen unbekümmerten, von KEINER AUTORITÄT eingeschüchterten Frageweise bin ich ganz sein Sohn.)

Die Gestapo meinte, sie dürfe die Person nicht nennen, aber unter dem SIEGEL DER VERSCHWIEGENHEIT könne er sie erfahren. Es war ein KIRCHENGEMEINDERAT – der Name hat sich in meiner Familie verloren.

Es war jemand, der vor 1933 ein GEWALTIGER PIETIST war, sich flugs zum Nationalsozialismus bekehrte – und nach dem UMSTURZ, wie das Kriegsende im Volksmund hieß, gleich wieder zu den Pietisten wechselte.

Mein Vater wurde im November 1939 zum Militär eingezogen, tat zuerst Dienst in einer Ludwigsburger Kaserne, qualifizierte sich in Lehrgängen zum Oberzahlmeister, kam damit in den Offiziersrang und fuhr im LAZARETTZUG als Mitglied des Stabs mit.

Im August 1944 VERLOR ER SEIN LEBEN bei einem Bombenangriff auf Strasbourg/Straßburg im Elsaß. Sein Grab bekam er auf dem Militärfriedhof hinter dem Hauptbahnhof.
Das ist der ORT MEINER TRAUER von Kindheit an.

NICHTS POLITISCHES ?

Bisher hatte ich geglaubt, mein Vater habe sich bei politischen Ereignissen des Dritten Reiches herausgehalten.

Meine Mutter: Er predigte immer nur das reine Evangelium, NICHTS POLITISCHES.

Gemeint hatte sie wohl, dass er nie wie die Deutschen Christen, die Nazi-Gläubigen in der evangelischen Kirche, HITLERS IDEOLOGIE in die christliche Botschaft aufnahm. Damit hatte sie absolut recht.

Na ja, etwas skeptischer hätte ich sein können, denn meine Mutter verteidigte auch unerschütterlich, bei allen VOLKSABSTIMMUNGEN (Saar, Österreich, Wiederbesetzung des Rheinlandes usw.) hätten alle, auch sie beide, selbstverständlich mit JA gestimmt: FÜRS VATERLAND.

Zum ersten Mal verwundert war ich vor ungefähr 30 Jahren, als ich im väterlichen Nachlass in den Predigtnotizen blätterte.

Für den Sonntag nach der REICHSPOGROMNACHT (9. November 1938) fand ich aufschlussreiche Stichworte zu einer kitzligen Predigt. Mein Vater predigte nach Stichworten, nicht nach einem fertigen Text, was freilich bedeutet, dass der wirkliche Wortlaut der Predigten viel umfangreicher gewesen war.

Nachdem die SYNAGOGEN GEBRANNT hatten und Zigtausende Juden in ein KZ verschleppt worden waren, notierte er für seine Predigt:

Trotz allem, was geschah, Adolf Hitler ist die von Gott verordnete Obrigkeit.

Dies war die LUTHERISCHE STAATSTHEOLOGIE IN REINFORM, Württembergs Theologen hingen meistens der lutherischen Orthodoxie an. Im Dienstzimmer meines Vater hing ein BILD MARTIN LUTHERS, wie bei Katholiken ein Heiliger. Diesen beschränkten Geist spürte ich noch in den 1960er Jahren.

Für mich war diese Aussage meines Vaters empörend. Von klein auf pflegte ich meine Fragen und Meinungen NICHT ZU ERSTICKEN – genau wie mein Vater.

Erwin Haasis, Scherenschnitt (um 1936)

 

So entwickelte ich ein Talent, die FALSCHEN, UNBEQUEMEN FRAGEN zu stellen.

Also las ich dieses Zitat meiner Mutter vor und fragte, was das sei?

Sie war hell empört und schimpfte, selbstverständlich NICHT auf die politische Theologie meines Vaters, sondern auf meine UNVERSCHÄMTE FRAGE.

Ich höre sie noch jetzt neben mir WETTERN, direkt neben meiner Tastatur am Computer:

„So eine Frechheit hättest du dir NIE erlaubt, wenn dein Vater noch lebte.“

Irgendwie fühlte ich mich nun für SEINEN TOD MITVERANTWORTLICH – fast mitschuldig.
Die Nazis waren SCHÖN ENTLASTET.

Der Grundsatz meiner Mutter: Unangenehme Dinge werden verschwiegen, so gehört es sich, so macht man es.
ALLE MACHEN ES SO. BASTA.

Jedenfalls hätte ich als letzter das Recht, meinen Vater in den Dreck zu ziehen. UNDSOWEITERUNDSOFORT.
Die Leier kannte ich.

Über diese Fragen herrschte ab jetzt jahrelang SENDESTILLE. Meine Mutter verstand etwas vom Schweigen. Erst rund zehn Jahre später RUTSCHTE IHR HERAUS, sie habe damals alle Predigtnotizen und anderen schriftlichen Unterlagen meines Vaters VERBRANNT. Schuld sei ich.

WUMM. ICH WAR WIEDER VERSORGT.

Schon wieder dieser Bösewicht, der Hellmut. Aber das notwendige SCHULDBEWUSSTSEIN wollte sich nicht so richtig einstellen. Ja, wo war es denn geblieben?

Nun fand ich im Januar 2008 einen vergessenen Rest von Predigtnotizen meines Vater, unter Briefen und Tagebüchern aus der Kriegszeit. Von meiner Mutter fast wie eine RELIQUIE aufbewahrt in einer lackierten braunen Holzkiste, der Deckel oben läuft in einer Schiene, vorne ein Riegel, um alles abzuschließen.

Hier ein Auszug aus einem schreibmaschinenschriftlichen Text meines Vaters:

„Predigt an Kirchweih über Mt [Matthäus] 18, 20.
12. XI. 1939
Text: Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.

Einltg.: Kirchweih, Erinnerung an die Weihe des Gotteshauses unserer Gemeinde, an den Mangel eines eigentlichen Gotteshauses in unserem Ortsteil [gemeint war Mühlacker, die eigentliche Kirche, die alte, stand in Dürrmenz, dem älteren Ort, früher Oberamt].

Kirche wird auch verstanden von der Sache, die hier vertreten wird, Kirche gleich Gemeinde.“

Ausführlich setzt sich mein Vater mit den aktuellen ANGRIFFEN AUF DIE KIRCHE auseinander. Das empfinde ich als mutig. Ich stelle ihn mir vor, wie er alleine auf der Kanzel um Wahrheit und Offenheit kämpfte, angesichts einer Gemeinde, in der es viel zu viel MITLÄUFER gab. Und SPITZEL.

„Was muss aber diese Kirche alles hören und sich gegenwärtig sagen lassen, was hat sie schon alle Zeiten her über sich ergehen lassen müssen?

Man kritisiert an der Kirche, der Gemeinde: Die Kirchgänger werden zu Kirchenläufern, die auch nicht besser seien als andere Leute, oft noch schlechter, die Pfarrer predigten ums Geld, die Kirche habe nichts hingebracht an die Leute in so langen Jahrhunderten usw.

man kündigt der Kirche den Tod an. Sie ist veraltet, unzeitgemäß. Und wer die Angst des Menschen kennt, den Eindruck des Veralteten, Unzeitgemäßen zu machen, der weiß, wie schlimm dieser Vorwurf gemeint ist.

man bekämpft die Kirche mit allen Mitteln der Gewalt, der Propaganda, des Schlechtmachens, der Ausschaltung aus der Öffentlichkeit. Das geht durch unsere ganze Zeit hindurch: der Mensch braucht die Kirche nicht mehr, er schafft sie ab, er macht sie überflüssig.“

Dann spricht mein Vater von der OHNMACHT der Kirche, ihrer Einflusslosigkeit. Was jetzt über die Kirche hereinbreche, sei vielleicht von Gott aus gesehen „kein so schreckliches Unglück“.

Und er tröstet sich und die Zuhörer mit der KÜNFTIGEN „Herrlichkeit der Kirche. Sie beruhe auf der Vereinigung der Gläubigen mit ihrem Herrn. Sie umspanne Himmel und Erde, Vergangenheit, Gegenwart u. Zukunft bis hinein zur letzten Offenbarung Christi am Ende der Tage. Sie erzähle nicht bloß von der leidenden u. kämpfenden, sondern auch von der jubilierenden u. TRIUMPHIERENDEN KIRCHE.

Erwin Haasis (links, 1942)

 

„Die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwinden.“ Schon zu der Apostel Zeiten haben die sonst oft unübersteigbaren Schranken der Völker, der Rassen und Sprachen ihrem Siegeszug nicht standhalten können.“

Es komme nicht auf die äußere Form an, das „Sterben der russischen Christenheit“ führe nicht zum Tod, „sondern zur Neubelebung durch Gottes Geist.“ Jeder solle sich nicht fragen, was andere tun, sondern er solle selber etwas nur „im Namen Jesu“ tun. Dann sei Jesus mitten unter der Gemeinde. Dann werde die Kirche unüberwindlich, „denn ihr Herr hat alle Feinde überwunden und zuletzt auch den Tod.“

Mein Vater will Schluss machen – da stürzt unvermittelt, als Fremdgut, ELSERS ANSCHLAG in den Raum:

(siehe auch Nachtrag Nr. 27 zu meiner Elser-Biografie HYPERLINK "http://haasis-wortgeburten.anares.org/elser/bio_nachtrag_27.php" http://haasis-wortgeburten.anares.org/elser/bio_nachtrag_27.php

„Kirchweih, Vereinsfest, etwas Überständiges, Veraltetes? Nein Freudentag, dass Gott einen Ort der Liebe u. Versöhnung gestiftet hat in der Welt des Kampfes.

Erschrocken über das Attentat. Neben dem Dank, dass Gott das Leben unseres Führers erhalten hat durch ein Wunder, steht die Ahnung, wie tief sich in diese Welt der Hass eingefressen hat, dass es zu so etwas hat kommen können.

Ist die Kirche veraltet, unnötig? Sie ist nötiger als je, so nötig wie das liebe Brot, Amen.“

Das klingt verzweifelt stark nach HIMMLERS und GOEBBELS SPRACHREGELUNG, Hitler sei nur durch „ein Wunder“ vor Elsers Anschlag gerettet worden.
Für alles ist letztlich Gott verantwortlich, der christliche, versteht sich bei meinem Vater.

Die Nazis sprachen statt dessen lieber von der VORSEHUNG.

In der Welt habe sich tief der Hass eingefressen – damit meint mein Vater nicht das Regime, seine Behauptung fällt allein auf Elser und ähnliche Strömungen, vor allem auf den Bolschewismus - gemeint war die GANZE Sowjetunion.

Mein Vater verarbeitete Elsers Attentat durch ein gleich bleibendes Interpretationsmuster: Gott habe einen ORT DER LIEBE UND VERSÖHNUNG gestiftet. Gemeint ist: durch seinen Sohn Christus und dessen stellvertretenden TOD AM KREUZ.

Mit diesem RELIGIÖSEN VORSPRUNG gegen alle Realität suchte mein Vater sich und die Gemeinde durch alle Widerlichkeiten des Krieges hindurchzubringen. Grundsätzlich schaute er zwar nicht weg, freilich wollte er die ganze Härte der Zustände nicht zum Thema erheben.
Ein unpolitischer Prediger war er aber nicht.

DEUTSCHNATIONAL

In einer anderen Predigt, am 6. März 1938 (2. Kor. 7, 10), finde ich die lutherische Staatstheologie ausgeführt. Wir stoßen ins KERNGEBIET DES DEUTSCHNATIONALISMUS vor, unter dessen Einfluss mein Vater stand, auch meine Mutter, wie ich immer wieder ärgerlich feststellen musste, jahrzehntelang.

Deshalb hat es nie an Zoff zwischen Mutter und mir, dem jüngsten Sohn, gefehlt.

„Seit 200 Jahren wird in Preußen u. ihm folgend in Deutschland alle politische Führung betrachtet als Dienst am Volk, seit Friedr. d. Gr[oßen] davon geredet hat, dass er der 1. Diener seines Staates sei bis zu A. Hitler, der sein gz. [ganzes] Werk doch verstanden wissen will als Dienst für sein Volk.“

Da bedauere ich wieder einmal, dass ich meinen Vater nach dem Krieg NICHT SPRECHEN konnte. Ich denke nicht, dass er alles verpennt, verleugnet, beschönigt hätte.

Wie ich weiterblättere in seinen Notizen, fallen mir die Augen bei der Weihnachtspredigt 1937 über Römerbrief 8, 28-32 schier AUS DEM KOPF.

Ist Weihnachten bloß Sentimentalität, Müdigkeit vor „der Tageshelle der Vernunft“, das „Halbdunkel des Märchens u. der Phantasie?“ Nein, denn dann hätte sich unser Weihnachtsfest nicht in der ganzen Welt verbreiten können, „dass in dieser Stunde auch in der glühenden Hitze Afrikas, vielleicht im Kanonendonner Spaniens oder Chinas auch W[eihnachten] gefeiert wird.“

Also war der SPANISCHE BÜRGERKRIEG durchaus gegenwärtig in der Gemeinde – der nazideutsche Beitrag mit der LEGION CONDOR wohl nur bei Widerstandskämpfern.

KIRCHENKAMPF

Ein völlig anderer Ton findet sich im Bittgottesdienst vom 23. Februar 1938, veranstaltet als ein besonderer Abendgottesdienst. Die AUFREGUNG ist zu spüren. Mein Vater spricht den offenen Kirchenkampf gegen die Herrschaft der Naziströmung in der Kirche an [„Deutsche Christen“, eine lupenreine Hitlergruppierung], wie er in Thüringen und Braunschweig herrscht.

Hier vermute ich, dass sein Kollege, der 1. Stadtpfarrer Otto Rieger (1879-1956), der in Dürrmenz REGIMETREU PREDIGTE, diesen Streit unter den Teppich kehrte. Wenigstens haben Gemeindemitglieder bis ins Pflegeheim hinein von diesem Unterschied beider Pfarrer erzählt.

(Wer es genauer lesen will, kann sich Riegers „MILITÄRISCHE UNTERLAGEN“ anschauen, die im Evang. LANDESKIRCHLICHEN ARCHIV STUTTGART aufbewahrt werden.)

Ausdrücklich zitiert mein Vater den Naziphilosophen ARTHUR ROSENBERG (1893-1946, in Nürnberg gehenkt), „hinter dem viele staatliche und Parteiautorität steht“, wie er ausdrücklich sagt, und lehnt ihn kompromisslos ab.

Also das ging! Man durfte sich nur nicht ständig in die Hose machen. Das Werk hatte er gelesen, wie sein Namensstempel zeigte, den er erst nach der Lektüre einzudrucken pflegte.

Wo es in einzelnen Regionen keine ordentliche evangelische Kirchenleitung mehr gebe, werde zum finanziellen Opfer für diese Pfarrer aufgerufen. Hunderte Pfarrer und Vikare könnten nur noch mit diesen Opfersammlungen in ihrem Amt gehalten werden. Gegen diese Sammlungen gebe es (staatliche) Verbote.

Weil das von Zuhörern bezweifelt werden könnte, schildert mein Vater „an Hand von Berichten die Lage in Ostpreußen als einem der vor Weihnachten umstrittensten Gebiete der ev[angelischen] Kirche.“

Das war ein tapferer SCHLAG GEGEN DIE STAATS- UND PARTEIGLÄUBIGEN. Wie überhaupt in diesem Text meines Vaters der Duktus viel klarer, direkter ist als sonst.

Und man spürt den KALTEN WIND, der meinem Vater und der Gemeinde ins Gesicht bläst. - Der Staat versuche in Sachsen durch Entzug der Finanzen die Kirche in die Hand zu bekommen, sagt der freche Haasis weiter.

Ich kann mir ausmalen, wie viele unter den Zuhörern ROTE OHREN bekamen, ihre HERZEN KLOPFTEN. Etliche dürften Angst bekommen und gemeckert haben, der Haasis solle endlich seinen VORLAUTEN MUND HALTEN, sonst komme er NOCH IN ETWAS HINEIN
– wie die Schwaben zu sagen pflegen, wenn ihnen ihr Herz IN DIE HOSE GERUTSCHT ist, lange bevor es überhaupt einen Konflikt gegeben hat.

Erstaunlicherweise machte sich die GESTAPO nicht bemerkbar, die sicher über jeden Huster meines Vaters informiert war. Meine Mutter wenigstens hielt mir, dem FRECHDACHS gegenüber, erst 1942 geboren, immer daran fest:

Wenn mein Vater einmal in Dürrmenz predigte, beim Kollegen Rieger, sei die Kirche VOLL gewesen bis auf den letzten Platz, wie sonst nur an Weihnachten und wie beim Kollegen Rieger nie.

Bei solchen Konflikts-Partien der Familiengeschichte war ich immer ein PIETÄTVOLLER ANHÄNGER MEINES VATERS, bin es jetzt noch. Wenn ich selber in der Publizistik oder in Versammlungen angegriffen werde, denke ich gelegentlich an meinen Vater - und fühle mich bestärkt.

Aber der hatte es UNENDLICH schwerer, das gebe ich ohne Zögern zu.

In der vollen Kirche tuschelte man, was der Erwin Haasis heute wohl wieder sage?

Kein Wunder, dass mein Vater bald gesundheitlich angeschlagen war. Wegen Herzrhythmusstörungen suchte er in Stuttgart einen Kardiologen auf. Sein nervöser Magen-Darm-Bereich reagierte mit permanentem Durchfall. Meine Mutter bekam mit keinem Hausmittel, nicht mal mit Wasserkakao und ähnlichem, den Darm dicht. Seine Predigten wurden ihr zur Qual.

Aber wenn mein Vater auf der Kanzel stand und ANGESTARRT wurde, hielt der Darm schlagartig. Aber gleich danach – das alte Leiden.

(Ach ja, das war jetzt wieder ganz daneben, diesen NEBENGELEIS - aber so ist das Leben, es besteht vor allem aus Nebengeleisen - und das sind auch die interessantesten. Denk ich vor mich hin im ruhigen Arbeitszimmer, nebenan spielt auf meiner CD-Anlage ein Sinti-Jazz oder ein Rembetiko.)

Es ist unendlich schade, dass ich mit meinem Vater niemals über entscheidende Situation seines Lebens sprechen konnte. MAN HAT MICH DARUM BETROGEN.

ERSTE KRIEGSPREDIGT

Wieder ganz anders klingt mein Vater in der ersten Kriegspredigt (2. Kor. 5, 17-21), am 10. September 1939, einem Abendgottesdienst, diesmal mit Abendmahl.

Die Wehrmacht walzt gerade MIT MASSENMORDEN DIE POLEN NIEDER und versenkt als europäische Premiere WARSCHAU IN SCHUTT UND ASCHE.

Es ist besser, meiner Seele jetzt Handschuhe, Schal und Mütze anzuziehen, womöglich kommt eine neue Peinlichkeit des Deutschnationalismus.

Der erste Absatz ist noch klar. Der angeschlagene Ton meines Vaters verträgt sich nicht mit dem Hurrapatriotismus des kriegsbesoffenen deutschen Volkes. Meine Mutter sagte aber, nach deutschen Siegen in Polen hätten in Mühlacker die Kirchenglocken geläutet. Pflicht.

Und mein Vater hatte abwechselnd mit anderen Männern auf dem Kirchturm Wache zu schieben, damit er rechtzeitig eine feindliche Bomberflotte melden und den Leuten empfehlen könnte, hurtig in die LUFTSCHUTZKELLER überzusiedeln. Was für ein naiver Verein für Kriegsspielerei, die NAZIPARTEI.

Der Predigtton fällt nun anders aus. Hier folgt eine vollständige Abschrift.

„Einleitung: Um was kreisen unablässig unsere Gedanken in diesen Tagen, um den Wunsch nach Frieden. Es graust uns, wenn wir denken an all das, was unserem Volk vielleicht noch bevorsteht, wenn erst das Völkerringen richtig in Gang gekommen ist, es zwingt uns auf die Knie zum Danken, wenn wir im Herzen die Hoffnung haben, es wird noch einmal der Kelch des Weltkrieges an Europa vorübergehen und an unserem lb. [lieben] deutschen Volk.

Überleitung: Von einem anderen Frieden lasst uns heute Abend reden, von dem Frieden mit Gott.

Mag nun unser Schicksal, das des einzelnen u. das unseres ganzen Volks, ja des ganzen christlichen Abendlandes, sich entscheiden, wie Gott es beschlossen hat u. durch menschliche Schuld und Sünde hindurch zum Ende führen wird, das eine wollten wir nicht missen in all dieser friedlosen Zeit: Frieden mit Gott.

Und je höher draußen die Wellen der Unruhe an uns heranbranden u. je wilder Hass u. Gewalt ihre Triumphe feiern, desto nötiger ist uns das eine, dass wir im Reinen sind mit Gott, dass wir wissen, wo wir dran sind mit dem, der alle Menschen- u. Völkergeschichte in seinen Händen hält.

Das aber ist die Botschaft der Hlg. [Heiligen] Schrift an unsere Gegenwart: Versöhnung des Menschen mit Gott. Die Welt draußen hat vielerlei zu verkündigen u. zu propagieren, sie bietet uns allerlei an, was sie sich zurecht gemacht hat als Trost u. Hilfe, als Erklärung der Lebensrätsel u. als Heilmittel für das unruhige Menschenherz, aber wir haben nur eines zu tun, die Versöhnung mit Gott anzubieten. Mag sein, dass für viele die Stunde dafür noch nicht gekommen ist, dass sie diese eine Stimme, welches die Stimme Gottes ist, noch nicht heraushören aus all dem Lärm des Tages, daran ändert das nichts, dass wir verkündigen Christus den Herrn u. Heiland der Welt.

Wenn es nicht zeitgemäß ist, dann ist es ewigkeitsgemäß u. wir stehen, unsere kämpfenden Brüder in der Front voran, heute so im furchtbaren Ernst des Lebens u. Sterbens drin, dass uns das Zeitgemäße ruhig gleichgültig sein darf, wenn wir nur das Ewigkeitsgemäße haben.

Versöhnung mit Gott ewigkeitsgemäß, weil sie uns für Leben u. Sterben einen Trost tief ins Herz hinein senkt, den Trost: Christus ist auch für mich gestorben u. um seinetwillen ist Gott mir Sünder gnädig.

Versöhnung mit Gott ewigkeitsgemäß, weil sie mich beten lehrt: Vater, nicht mein, sondern dein Wille geschehe.

Alle Spekulationen über Gott, alles Gerede über Gottesvorstellungen u. Weltanschauungen, das sich die Menschen so zurecht machen, das gibt dir das nicht an Kraft u. Licht in dein Leben als Christus, so ist er eine neue Kreatur, das Alte ist vergangen, siehe es ist alles neu geworden.

Das können wir nicht erfinden. „Wenn es keine Religion gäbe, müsste man eine erfinden.“ Aber es beruht auf Gottes Handeln in Christus, es beruht auf Wahrheit: Gott, der uns mit sich selber versöhnt hast durch Jesus Christus.

Hier finden Schuld und Bitterkeit, hier finden Ungerechtigkeit u. Irrtum ihr Ende. Wenn in diesen Tagen u. Wochen mancher falsche Trost, manche billige Ausrede zusammenbrechen mag vor dem Ernst der Wirklichkeit, wenn so vieles nicht Stich halten wird in Kanonendonner u. Sterbensnot, das Kreuz Christi ist auch dafür aufgerichtet, dass unter ihm die Menschen Frieden finden, weil sie hier alle Schuld u. alles Leid ablegen dürfen zu den Füßen dessen, der Schuld u. Not für uns getragen hat auf Golgatha.

Jetzt genügt Menschenwitz nicht mehr, Gottestrost muss es sein, wenn unsere Seele dadurch stille werden soll.

„Fest von Bergamo“ Reigen des Todes, zuerst noch zu begraben, dann liegen bleiben der Toten, dann wilde Lebensgier u. Rausch. Frommer Gesang einer Prozession, an d. Spitze ein Mönch mit einem riesigen Holzkreuz. Alles in die Kirche. Der Mönch will predigen, ein wilder Geselle unterbricht ihn: Schweig Mönch, in Bergamo ist Gott tot.

Der Mönch: Hört doch! Gottes Sohn sieht den Spott, die würfelnden Kriegsknechte, er sah, dass es keinen Wert hatte, für diese Menschheit zu sterben, darum riss er in hlg. Zorn s. Hände vom Kreuz, entriss den Kriegsknechten s. Gewand u. fuhr gen Himmel. Das Kreuz blieb leer, ihr habt recht, es gibt keinen Gott u. keine Erlösung für uns. Wir sind alle verloren.“

Totenstille in der Kirche, da schreit der wilde Geselle von vorhin wieder: Mönch, häng den Heiland wieder ans Kreuz!

Viele haben in unserer Zeit u. auch in unserem Volk damit gespielt, das Kreuz zu leeren wie in der Sage, aber wenn es ernst wird, dann schreit unsere Seele aus ihrer Not, wenn sie noch nicht ganz stumpf geworden ist: Mönch, häng den Heiland wieder an das Kreuz!

Wir feiern heute das Abendmahl und was einst das A[bend]M[ahl] gewesen ist für den Herrn, das mag es in diesen Tagen wiederum für viele sein, Abschied von der Heimat, Abschied von stiller Behaglichkeit, Abschied von einer alten Welt, die vergeht, Abschied vom Leben überhaupt.

Aber durch dieses Abschiednehmen hindurch klingt auch das andere: Ich lebe und ihr sollt auch leben, Sieg u. Auferstehung in Christus, unserem Herrn.

Im Holzfällerlager im Ural, s. Kraft u. Licht, 1939 Nr. 11.“

So ins Lesen gekommen, möchte ich auch die anderen 25 Predigtnotizen durchgehen, mit Blick auf den politischen Gehalt und die Einbettung in die christliche Verarbeitung der NAZISTISCHEN UND KRIEGERISCHEN UMGEBUNG.

25. Oktober 1936. 1. Tim. 2, 1-6. Es geht um das Gebet, es sei ein Reden des Herzens m. G. – Meint: mit Gott. Mein Vater kürzt das gelegentlich ab: eine Formel.

Fürbitte geschehe für alle Menschen. (Das überstieg die NS-Ideologie.) Man bete auch für „Missionare, Verfolgte um ihres Glaubens willen, Opfer des Krieges u. der Grausamkeit.“

(Ob der Deutschnationale auch für die Gegner der Deutschen bat? sicher nicht – bei meinem Vater kommen sie einfach nicht vor. Das war wohl allgemein so, andernfalls hätte die SA ihn verprügelt, wie den Kollegen JULIUS VON JAN (1897-1964, sein Fall siehe in Wikipedia) November 1938 in Oberlenningen, nachdem er die ÜBERFÄLLE AUF DIE JUDEN UND SYNAGOGEN für eine Sünde erklärt hatte.

Eine besondere Fürbitte, meinte mein Vater, gelte der „Obrigkeit. Sie ist verantwortlich für uns im Rahmen des Volkes, sie ist besonders wichtig für den Geist u. die Geschicke eines Volkes, ihr Beispiel im Guten u. Bösen findet Nachahmung, wird als Recht angesehen, fordert Gehorsam. Luther: Eltern und Herren.“

Hier liegt der Wurm BEGRABEN: der „Rahmen des Volks“, da konnten die Nazis ohne weiteres mitgehen.

WO BLEIBT DIE RASSE?

Predigt am 31. Januar 1937. Lukas 9, 51-56.
Jesus reiste durch Samaria, dort herrschte „unglückselige Spaltung aus Gründen der Rasse, der Religion, der Geschichte der verwandten Stämme“. Jesus spürt am eigenen Lieb den Hass der Völker und Religionen.
Und plötzlich schlägt es wieder durch:

„Unsere ev. Kirche nach Pauli Worten untertan der Obrigkeit in allen Dingen weltlichen Lebens, Röm. 13.“

„Die andere Frage, die bei unserer Geschichte auftaucht, Jesus u. der Völkerhass, der Klassen-, der Rassenhass, der Religions-, der Konfessionshass. Jesus spricht jedem Hass hier das Todesurteil, dem kann sich niemand entziehen....“

Am Ende siegt Jesus, bei meinem Vater ERWIN HAASIS und wenigstens in dieser Predigt. Ein schmales Territorium.

Diese vage Aussage war meines Vaters EINZIGE AUSFLUCHT. „Gebe es Gott, dass wir in der Gegenwart zw. Bolschewismus und neu entstehenden Nationalreligionen die Kraft u. den Geist des Heilandes nicht verlieren, die warten kann in Liebe!“

PREDIGER IM KONZENTRATIONSLAGER

Predigt am 22. März 1937, Montag. „Passionsandacht“.
Einleitung: „Passionsandacht vor einem Jahr: unter dem Eindruck schwerer kirchlicher Bedrängnis, eine Reihe von Predigern des Evang[eliums] war im Konzentrationslager, schwerer Druck damals vor allem auf der Kirche von Sachsen. Heute steht noch viel mehr auf dem Spiel.“ Gerade deshalb will sich mein Vater „ganz auf die Gestalt Christi wenden“.

Einige Gemeinden wurden also von ihren Pfarrern informiert über das Konzentrationslager, die Erinnerung an die Kämpfe mit den NS-Christen wach gehalten. Wohl nicht zum ersten Mal hörten die Mühlackerer von meinem Vater das WORT KONZENTRATIONSLAGER.

Predigt am Sonntag Cantate, 25. April 1937. Joh. 5, 30-38. Das Zeugnis für Christus sei „die einzig rechtmäßige Waffe für die Kirche Christi“. Es gebe Verfolgung in Russland – da konnten Aufmerksame durchaus Parallelen mit Hitlers Reich feststellen. Dort lebten Priester in der Verfolgung „von Almosen der Gläubigen“. – Ähnliches sprach mein Vater bei den aufgelösten Kirchen in Sachsen und Thüringen an.

Am Ende unvermittelt: „Gottlosenverbände in Frankreich [stellen] rot[e] T[r]auscheine aus.“ Also für Freidenker und Atheisten hatte er kein Verständnis.

Predigt am 27. Juni 1937. Lukas 1, 1-11. Deutschland komme „in seine Mannesjahre“, werde 35 Jahre alt. Man suche der Religion zu schaden „durch Hassgesänge, „gesundes heidnisches Lachen“, „durch Ausschaltung aus der Öffentlichkeit, durch politische Verleumdung usw.“ „Man sucht ihr zu helfen – und das ist nicht weniger gefährlich – durch neue Methoden, die alten der Predigt taugen nicht mehr, durch polit. Gleichschaltung, durch Angleichung an pol. [handschriftliche Verbesserung nicht sicher zu lesen: kult.] Anschauungen u. an das Erleben unserer Generation im politischen Raum. Man will sie volkstümlich machen um jeden Preis.“

Das war ein AFFRONT GEGEN DIE NS-STRÖMUNG.

Es folgt ein Angriff auf die RASSENIDEOLOGIE, ähnlich war es schon gelegentlich in meines Vaters Predigten zu hören.

„Die Rede von der Sünde wird heute in aller Öffentlichkeit verfemt u. verächtlich gemacht als ein menschenunwürdiges Unterfangen u. der Selbstbetrug von der Güte des Menschen, der einmal vor 200 Jahren in Europa große Mode war, feiert eine seltsame Auferstehung mit Hilfe des Rassegedankens, der auf die nordische Rasse alles Gute u. alle Vorzüge häuft und damit praktisch die Sünde für den nordischen Menschen gegenstandlos macht.“

Mein Vater empfahl sich ein weiteres Mal der AUFMERKSAMKEIT DER NAZIS.
Dabei entsinne ich mich an ein Bruchstück aus dem verbrannten Nachlassteil. Da hatte er nach der Lektüre von Hitlers „MEIN KAMPF“ notiert:

Der Antisemitismus sei der SCHWÄCHSTE TEIL VON HITLERS IDEEN. Eine Rede Hitlers hatte er in Stuttgart schon vor 1933 gehört – und die Eintrittskarte als was Erinnerungswürdiges aufbewahrt.

Also taugten nach ihm andere Teile von Hitlers Ideen doch etwas? Waren weniger schwach?

Erwin Haasis (links) Lazarettzug am Brennerpass 1943 (illegale Aufnahme)

 

Die gemeinsame Plattform des Deutschnationalismus: vor allem Kampf gegen die Demokratie und den Versailler Friedensvertrag – so nehme ich an, so passt es auch zur politischen Bibliothek meines Vaters, wie ich sie noch gesehen habe.

Die Kirchen seien „in vielen Städten Deutschlands“ voll von Menschen, „die etwas suchen und nicht etwa von ehemaligen Kommunisten, die versteckte Politik treiben wollen.“

Es folgen die Predigten von Weihnachten 1937 und vom 23. Februar 1938, wie vorher besprochen. Am 6. März 1938 (2. Kor. 7, 10) findet sich die schon oben besprochene Stelle mit der STAATSTHEOLOGIE.

Vorher setzte sich mein Vater wieder einmal vom Hass ab, den er ausschließlich auf Russland und die alte württembergische Geschichte bezieht. Woanders? Gar in Deutschland?
Aber nein.

„Das Gebäude des Hasses steht u. es hat oft eine furchtbare Lebenskraft in uns gewonnen. J. J. Moser, jener württ. untadelige u. fromme Beamte hat die Willkür des Herzogs zu verspüren bekommen u. musste ohne Urteil u. Recht 6 Jahre auf dem Hohentwiel in strengster Haft verbringen.

Gegenwart: Welche Orgien feiert der Hass u. die Leidenschaft in Russland. Man erschrickt, dass Menschen so miteinander umgehen können. Und doch ist’s so, die Wirklichkeit zerstört unbarmherzig alle Träume von menschlicher Güte u. Barmherzigkeit.“

KRIEGSPREDIGT IM GEIST VON 1914/18

Nach der KAPITULATION ÖSTERREICHS am 12. März 1938 hatte mein Vater es eilig, sich gleich zum Beginn seiner Predigt am 13. März dazu zu äußern. Zu allem Unglück war auch „Heldengedenktag“, die Predigt ging über den Psalm 77, 12-14.
Die Einleitung griff tief bis zu den Ellenbogen hinein in das GLÜCKSGEFÜHL DER DEUTSCHNATIONALEN.

„In weltgeschichtlichen Stunden feiern wir Heldengedenktag 1938. Das Herz zittert bei dem, was wir in diesen Tagen miterleben. Wer will uns die Freude verwehren, die Freude darüber, dass unsere deutschen Brüder in Österreich den Weg gefunden haben zum großen deutschen Volk? Wenn es wahr ist, dass zu den Gaben von Gottes Schöpfung auch unser Volkstum gehört, dann danken wir in dieser Stunde auch Gott, dass er endlich zusammenführt, was zusammengehört.“

Das deutsche Volkstum – eine Schöpfung Gottes?
Brrrrrrrrrr. Da schüttelt es einen mächtig.

In diesem dumpfen Ton geht es weiter. Die deutschnationale Haltung bietet sich an als BRÜCKE ZU HITLER. Vom Sterben Jesu, seinem Opfer, der Passionszeit geht es hinüber zu den „Gräbern der Gefallenen“.
Die SOLDATEN - ein ZWEITER MESSIAS?

Und in diesem geistigen Jammer folgt eine LUPENREINE KRIEGSPREDIGT IM GEIST VON 1914/18. Man sollte sich diese SCHEUSSLICHKEIT AUSDRUCKEN, mehrmals lesen und ins Clo hängen, zur täglichen Lektüre.

„1914-1918. Gedanken gehen zurück an das, was wir in diesen schicksalsschweren Jahren erlebt u. durchlitten haben. Wohl [lebt] unter uns eine Jugend, die nur vom Erzählen den großen Krieg kennt, aber die meisten von uns wissen aus eigenem Erleben an Front u. in Heimat, was diese Jahre uns gebracht haben, was uns damals bewegte, was unsere Herzen höher schlagen ließ in stolzer Freude, was sie zus[ammen]krampfte in wehem Schmerz.

Der Krieg beginnt, das Schicksal klopft an, der Atem Gottes berührt die Völker. Siegreicher Vormarsch im Westen, große Siege im Osten. Der Krieg [ist] bald zu Ende, bis Weihnachten sind wir zu Haus.

Man schreibt 1915: die Hoffnung hat getrogen. Die Fronten erstarren, die Opfer wachsen an Blut u. Gut. Gefallen, vermisst, verwundet, so kehren die Meldungen von der Front in die Heimat ein u. sie bringen Tränen, Leid, Sorgen u. Weh in die Häuser, in Städte u. Dörfer.

Man schreibt 1916, dann 1917. Noch immer wächst der Krieg u. nimmt zu an Umfang u. Erbitterung, mit der er geführt wird. Sein Symbol sind jetzt geworden die Trichterfelder um Verdun, eine Landschaft des Todes, gespenstisch, ihre Bewohner umwittert von einer anderen Welt. Gott, dein Weg ist heilig, in einer völlig anderen Weise als in ruhigen Friedenszeiten empfinden die Menschen Größe u. Weltüberlegenheit Gottes.

Man schreibt 1918. Ist es noch immer nicht zu Ende? Mit letzter, fast versagender Kraft wehrt sich unser Volk. Der Geist der Zersetzung, der Vaterlandsfeindschaft u. Gottlosigkeit ist am Werk, an s[einem] Werk, das noch immer ein Werk der Zerstörung war. Endlich der Zus[ammen]bruch, das Ende, Niederlage u. Unehre, die sich auf unser Volk häufen. Ist Gottes Weg noch heilig? Begreiflich ist er nicht!

Der Leidensgang ist zu Ende. 2 000 0000 Tote bezeichnen ihn, Gräber, die auf das ganze Erdenrund hin zerstreut sind. Eine Aussaat, bei deren Anblick bang sich die Frage erhebt, wird sie wohl einmal Frucht bringen?“

Der überlieferte Text bricht ab, es fehlen wohl ein bis zwei Blätter. Vielleicht wird mein Vater wieder einmal Gott als noch größer und tröstlicher ins Spiel gebracht haben?

Aber dieser Text zeigt in GNADENLOSER DEUTLICHKEIT, wie tief er – und mit ihm viele seiner Kollegen, vielleicht die Mehrheit seiner Generation – in die WELTKRIEGSIDEOLOGIE einbetoniert waren. Bis zum Hals voll Kriegsbegeisterung. Noch immer – nichts gelernt.

Am 19. März 1939 ging die Predigt für die Konfirmation über Joh. 14, 27. Man lebe in einer „bewegten Gegenwart, die jeden Tag Überraschungen, Entdeckungen, Erfindungen“ bringe. Christus lasse uns nicht in Ruhe, aber er schenke uns FRIEDEN.

Am Ende ein politischer Schluss:

„Wir können auch heute nicht an den pol. Ereignissen wortlos vorübergehen, wenn Gott unserem Volk zu s[einem] polit. Aufstieg eine innere Erweckung schenken würde u. es segnete an Leib und Seele. Wie wundervoll, wenn eines mit dem anderen Hand in Hand ginge: ein starkes, frommes deutsches Volk, stolz in der Welt, aber tief demütig vor Gott.“

Ich werde den Eindruck nicht los: Damit war so ziemlich ALLES VORBEREITET FÜR DEN NEUEN KRIEG. Diese Konfirmanden wurden DENKBAR SCHLECHT aufs Leben unter Hitler vorbereitet, ihr Glaube war ein Glaube an das deutsche Volkstum, angeblich eine BESONDERE SCHÖPFUNG Gottes.

Das deutsche Volk erhielt damit, ohne dass diese Generation es sich klar machte, GÖTTLICHEN CHARAKTER.
Diese theologische Linie hat wesentliche Mitschuld am HINEINSCHLITTERN in den Weltkrieg.

Die Predigt am Karfreitag 15. April 1938 (L. G. VI 9-12) erklärt das Kreuz und wirft es zusammen mit dem „Eisernen Kreuz“ als „Zeichen der Tapferkeit des Mannes“ und mit dem Roten Kreuz für Barmherzigkeit. In den Kreuzzügen haben die Ordensritter unter diesem Zeichen „den deutschen Osten erobert“.

Diese Logik muss man sich ausmalen: Der Osten wurde durch den Krieg, durch Morden, durch Blutbäder, durch Vergewaltigungen - DEUTSCH.

Mein Vater war als junger Mann so VOM DEUTSCHEN OSTEN BEGEISTERT, dass er zum Entsetzen seines Vaters JAKOB HAASIS, eines Mechanikers beim Telegrafenamt in Stuttgart, ein halbes Jahr unbezahlten Urlaub nahm, um an die STÄTTEN DER DEUTSCHEN OSTKOLONISATION zu pilgern. Höhepunkt: die Marienburg in Ostpreußen.

Noch in seinem KRIEGSTAGEBUCH im Lazarettzug 1943-44 beschreibt er genau, ab wo auf der Fahrt nach Osten der deutsche CHARAKTER DER BEBAUUNG abnehme. Meine Mutter war derselben Meinung.

Gleich wieder fand ich etwas zu meckern.

NS-GESCHICHTE VON GOTT GESCHENKT

Nicht bloß einmal schwärmte sie mir vor, mein Vater habe immer gesagt, PRAG sei EINE DEUTSCHE STADT. Gleichzeitig warnte sie mich bis ins hohe Alter vor den Tschechen, das seien alles DEUTSCHENFEINDE.

Jedes Gespräch über das historische Verhalten der Deutschen und Österreicher gegenüber den Tschechen blieb nutzlos. In dieser Frage blieb sie INFORMATIONSRESISTENT.

In der Predigt am Ostermontag 13. April 1938 (Apostelgeschichte 2, 22-32) rettet mein Vater das Alte Testament vor dem Verruf, ein JUDENBUCH zu sein. Es sei dadurch existenzberechtigt, weil es „als Hinweis auf Christus“ gelte – nur deshalb.

Predigt 24. April 1938 über Offenbarung Johannes 1, 17-18. Stichwort meines Vaters: „Christus ist nicht tot.“ Warum ist die Welt so oft ohne Liebe und Sinn und Zweck? Ist das nicht zum verzweifeln?

Nein, denn Gott schenkt den Deutschen einen GEWALTIGEN AUFSTIEG. Die NS-Geschichte bekommt GÖTTLICHEN CHARAKTER, so will mir scheinen.

„Warum so schwerer Geisteskampf, dass wir nur mit größter Sorge unsere Jugend in diese Zeit hineinwachsen sehen, in der so viele im Glauben unsicher werden? Hätte uns Gott nicht den gr[oßen] pol[itischen] Zus[ammen]schluss im Dritten Reich erleben lassen können, ohne diese Kämpfe um das Heilige, das wir doch gerade in den Auseinandersetzungen mit der Gottlosigkeit des B.[elzebub?] so dringend brauchen werden.“

Dann greift mein Vater, wie es seinem Predigtmuster entspricht, zu seinem höchsten Trumpf, zum Letzten überhaupt: „Über allem Leid wird zuletzt Gott sich erheben, er bleibt endlich doch der Sieger.“

Na ja, so kann man in jeder Ausweglosigkeit den GOTT DES LETZTEN aus dem Ärmel ziehen.
Was auch immer künftig an Widerlichkeiten passiert, SIEGEN wird doch ein Anderer, der Höchste.

Gegen Ende ein Passus über die immer negativer werdende Zeitgeschichte. Zehntausende seien im „SPANISCHEN BÜRGERKRIEG“ verschlungen worden, Tausende unschuldiger chinesischer Frauen und Kinder seien Bomben zum Opfer gefallen, der Bolschewismus fordere „unzählbare Sklaven“.

Überhaupt fällt auf, dass der BOLSCHEWISMUS ständig als NEGATIVPARTNER einspringt.
Gewalttaten der eigenen Leute, der christlichen Völker?– O nein, so etwas kennt der heilige, christliche, württembergische Deutschnationalismus einfach nicht.

Diese TOTENFELDER sind nach der Meinung meines Vaters THEOLOGISCH bitter NOTWENDIG, denn gerade in sie hinein „ertönt das Wort der Liebe Gottes“. Wir haben einen gnädigen Gott, sagt mein Vater. - Wir vielleicht, sofern wir parieren und in der Kirche bleiben und alles glauben – aber die Anderen?

HITLER FRIEDENSPOLITIKER

Unvermeidlich die Logik: JE SCHLIMMER, DESTO BESSER, WENIGSTENS FÜR DIE PREDIGT. Darauf gründet auch die Theologie des Apostels Paulus.

Kaum hat Hitler im September 1938 die Tschechoslowakei zerschlagen, nach dem illusionären Münchner Abkommen mit England und Frankreich, da fällt der DEUTSCHNATIONALISMUS VON HITLERS GNADEN wieder massiv in die Predigt meines Vaters ein: Erntedank 2. Oktober 1938 (Psalm 50, 14-15).

Der Deutsche Arbeiter, NSBO-Beilage Dezember 1935

 

CHAUVINISMUS ALS GOTTESOFFENBARUNG

Man soll Gott danken, der Nationalglauben hat überhaupt VIEL ZU DANKEN. Die „HEIMHOLUNG“ DER SUDETENDEUTSCHEN mausert sich zu einer neuen GOTTESOFFENBARUNG.

„Wir atmen auf. Als fast keine Hoffnung mehr war, da[ss] ein guter Ausgang, die Rückkehr der sudetendeutschen Brüder ins Reich ohne blutigen Krieg, ohne eine kriegerische Auseinandersetzung, deren Ausmaß nicht abzusehen gewesen wäre.“

In diesem guten Ausgang für HITLERS POLITIK sieht mein Vater direkt die Gebete der Deutschen ERHÖRT. Die Kirche, die Gemeinden – EIN EINZIGES HEER VON BETENDEN MITLÄUFERN. –

WAS FÜR EINE MILITÄRTHEOLOGIE!
Den Sohn fröstelt es.

Ein wenig gewinnt die Predigt kurz noch DISTANZ, durch die Endzeithoffnung, die freilich hier keinerlei Funktion mehr besitzt.

„Auch in der ungeheuren Freude über das gelungene Friedenswerk von München geht es nicht wie ein Sehnen der Menschheit nach jener Zeit, da Streit u. Schwert, Kampf u. Hass weit hinter uns liegen werden: Wir warten eines neuen Himmels und einer neuen Erde, nach seiner Verheißung, in welchen Gerechtigkeit wohnt.“

„Aufatmen geht durch Sudetenland. Wir empfinden mit. Huß [Jan Hus, um 1370-1415 in Konstanz verbrannt ], das Land früherer Rel[igions]kämpfe.“
Mein Vater erinnert an die kleine evangelische Minderheit im eroberten Land.

Kein Gedanke daran, dass in seinem Geschichtsglauben ausgerechnet DIE DEUTSCHE PANZERARMEE GOTT SPIELT.

DER SOLDATENTOD – WIE SCHÖN

Beim nächsten Heldengedenktag am 12. März 1939 (Matthäus 20, 28) bekommt der TOD aller im Weltkrieg Gestorbenen einen HOHEN RELIGIÖSEN WERT: „Ihr Tod hat Früchte getragen.“
Also ging der Krieg doch in Ordnung? Bekam den Segen?

Gemeint ist Deutschlands Aufstieg zu der jetzigen Größe. Ähnlich pflegte Hitler jedes Jahr am 8. November seine toten Kameraden des fehlgeschlagenen Putsches von 1923 zu HEILIGEN. Gefeiert wird am Ende „die Vereinigung [mit] der Ostmark“- gemeint ist: mit Österreich.

Ich bin mir sicher, hätte ich meinem Vater meine Elser-Biografie zeigen können, er hätte zuerst einmal keinen Satz akzeptiert.
Das hätte einen schönen geistigen Wettbewerb um die historische Wahrheit gegeben.

Aber ich bin auch wieder sicher – warum eigentlich? – mein Vater wäre mit einem zertrümmerten Nationalgefühl heimgekommen und hätte lernbegierig, wie er eigentlich immer war, sich Stück für Stück dem Aufbruch eines neuen Geschichtsbewusstseins angeschlossen.

Umso auffallender auf einmal die von FRIEDENSSEHNSUCHT geprägte Predigt vom 10. September 1939 (schon anfangs besprochen, man lese dort noch einmal nach). Am 1. Oktober hält mein Vater eine „Erntedank- und Kriegsbetstunde“. Es folgt am 12. November 1939 die Predigt nach Elsers Attentat (siehe vorne).

SIEGESJUBEL GEHT ZURÜCK

Die wenigen Predigten von 1940/41 zeigen KEINE DEUTSCHNATIONALEN SPUREN mehr, hier wird nicht mehr für Siege gedankt, das deutsche Volkstum kommt nirgends mehr siegend voran. Es gab ja auch keinen Grund mehr.

Am 25. Mai 1941 (Joh. 7, 33-39) dominieren „der Durst nach Gerechtigkeit“, „Hunger nach Liebe, Vollkommenheit und Erkenntnis“. Dagegen stehen „die Greuel der Kriege, die Qualen der Krankheiten, das Böse in mannigfacher Gestalt“.

Doppeldeutig das Ende: „Wir gehen mit unserem Christenglauben nicht dem Ende entgegen, sondern dem Sieg." Es endet mit der Hoffnung auf einen OFFENEN HIMMEL, wo unser König uns grüßt. Das klingt schon arg jenseitssüchtig: entrückt.

Die Predigtnotizen werden immer kürzer, mein Vater kann nur noch predigen, wenn er Urlaub hat. Am 17. August 1941 (Luk. 19, 1-10):
„Welt voll Revolutionen. Die wahre letzte Revolution ist die des Herzens. Sie geht von Jesus aus.“

Es folgt ein großer Sprung bis zur letzten erhaltenen Predigt am 27. Juni 1943 (Matthäus 6, 33). Sogar DER TOTALE KRIEG kommt zur Sprache. Ich habe bei diesem letzten größeren Text den Eindruck: Mein Vater will sich nicht vor der zunehmenden BRUTALITÄT DES KRIEGES verdrücken, so wie er bei jedem Halt des LAZARETTZUGS die betreffende Stadt kennen lernen wollte.

So wanderte er als einziger des Stabs, des ganzen Zugpersonals, durch das TOTAL ZERBOMBTE KASSEL und sah, was auf die anderen Städte noch zukommen würde. Seither sagte er, wenn auch leise, es werde noch viel viel schlimmer kommen.

14 Monate später war mein Vater tot. In Frankreich, in Straßburg/Strasbourg.

Seine letzte erhaltene Predigt sei vollständig wiedergegeben, 27. Juni 1943, Matthäus 6, 33.
„Einl[eitung]. In der Welt [sind] andere Sachen viel wichtiger, 1. Essen beim Menschen, Gewaltanwendung in der Politik, Geldverdienen und die uralte Frage der Menschheit: Was werden wir essen, was werden wir trinken, womit werden wir uns kleiden. Hamstern Nahrungssorgen heute wichtig genug.

An all dem hat der Christ seinen vollen Anteil, dem können wir uns nicht entziehen und dem wollen wir uns nicht entziehen, die Sorge für die Unsrigen und fürs Vaterland treibt uns dazu. „In Essen und Trinken, in Schlafen und Wachen sieht man sie wie andere Menschen machen.“

Aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein: Geld regiert die Welt, aber nicht das Himmelreich. Ganz zufrieden ist die Welt mit sich doch nicht, ein Stachel bleibt in ihr zurück, denn sie spürt selber, dass sie zu Grund ginge – auf sich selbst gestellt – ohne dass noch andere Mächte zu ihrem Heil in ihr tätig wären, auch wenn sie selber sich nicht diesen Kräften unterordnet. Sie braucht Brot des Lebens, darum weiß der Herr und gibt den Jüngern solch eine hohe Bedeutung ihres Amtes, wenn er sie Salz und Licht der Welt nennt. So unscheinbar die Gemeinde Gottes sein mag, so sehr man sie auch heute doch unentbehrlich für das Innere der Menschheit. Russland ohne Christen! Germanen in der Völkerwanderung, die doch als Sieger das Christentum annahmen ohne jeden Zwang, den niemand hätte auf sie ausüben können.

Im Kriege Hilfe D. R. K. [Deutsches Rotes Kreuz], Kreuzeszeichen, barmherzige Samariter. Im Frieden Krankenhäuser-Lazarette. Totaler Krieg, geht ans Mark der Völker, weil sie sich schonungsloser als je zugrunde richten.

Gnade im Gerichtsleben.

(Eindruck des Sohnes: Ein HINTERTÜRLEIN bleibt in der Welt für die Botschaft von Christus anscheinend noch immer offen.)

II. Christus sagt: Zuerst das Reich Gottes, dann erst alles Übrige.
Christus ist nicht bescheiden, darum dreht sich in Hass und Liebe alles um ihn. Auch wir sollen nicht so bescheiden sein, dass wir uns zufrieden geben, wenn ein Neutraler gerade so uns noch passieren lässt. Als Pfarrer oft Gelegenheit zu hören, dass man nichts gegen den Glauben habe. Das kann uns völlig wurst sein und berührt Gottes Größe nicht. Ein junger Deutscher sagt: er habe nichts gegen Deutschland und den Führer und die Wehrmacht – damit wäre aber auch seine Leistung fürs Volk beendigt, dem würde man etwas erzählen.

Für Christus ist das keine Redensart, sondern der Ausdruck der Welt, in der er drin steht und sich bewegt, das merkt man an allen Punkten:

In Palästina heute noch Scheidung der Geister an ihm, weil er so unbedingt seine Sache vertraut.

Er gibt dem Begriff des Dienens einen neuen Sinn und Adel. Arbeit adelt – das kann nur auf christlichem Boden ausgesprochen werden, weder die alten Deutschen noch die alten Römer noch die alten Juden haben das nachgelebt.

Andere Wertung des Geldes. Kloster im Mittelalter, auch auf ev[angelischem]. Boden ohne Klostereinrichtung [ist] das Geld nicht alles. Geld regiert wohl die Welt, aber nicht das Reich Gottes.

Andere Wertung des Lebens. „Das Leben ist der Güter höchstes nicht.“ Immer sind Menschen f[ürs] Vaterland oder für eine pol[itische] oder sonstige Sache gestorben, aber der waffenlose Sieg einer blutig verfolgten Religion über ihre staatlichen Feinde, das ist einmal in der Geschichte der Menschheit. Darum sterben auch heute noch die Märtyrer für Christus.

Schluss:
Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das Übrige alles zufallen. Lb. [liebe] Gemeinde, das ist Wahrheit, die der Herr mit seinem Blute besiegelt hat und die sich in der Gemeinde stetig wiederholt und erhärtet.
Halle mit 4 Gulden erbaut.
Erste 100 chinesische Christen.“

Mir scheint, angesichts der ÜBERMACHT DES KRIEGES UND DER NAZIS sieht sich mein Vater gezwungen, die christliche Rettung zu REDUZIEREN auf die ihm eigene Theologie: die vom HINTERTÜRLEIN.

Wie in seinen Sätzen nachzulesen, bricht die NS- und Kriegswirklichkeit ÜBERMÄCHTIG in die Predigten meines Vaters ein.

Das war die EINE ÜBERLIEFERUNGSLINIE MEINES VATERS.
Eine zweite steckt in zwei Dutzend umfangreichen BRIEFEN AUS DEM LAZARETTZUG an meine Mutter (1943-44).
Eine dritte in dem im Lazarettzug geführten TAGEBUCH.
Darüber später.

ANHANG
Im Naziblättchen DER DEUTSCHE ARBEITER. Sonderbeilage der NSBO, Gau Württemberg, erfolgte zum Jahresende 1935 eine breite Attacke gegen meinen Vater. Der stempelte den Zeitungsartikel: 31. Dez. 1935 – das war der Tag, an dem er den Artikel ablegte.

In einem halbseitigen Artikel fragte die NSDAP-Kreisleitung in Mühlacker, 29. Dezember 1935, scheinheilig:

„Wer ist taktlos?“

Die HJ sammelte vom 18. bis 22. Dezember 1935 für das Winterhilfswerk. Zum Abschluss klapperten HJ und BDM am Sonntag 22. Dezember mit den Büchsen.

„Wie es sich für aktive Jugend gehört, verband sie mit dieser Sammlung einen Propagandamarsch mit Sprechchören. In Mühlacker und Dürrmenz wurden an etwa 8 Plätzen Sprechchöre aufgesagt. Einer dieser Plätze war auch am Kriegerdenkmal vor der Dürrmenzer Kirche……. Mit dem Besuch des Landesbischofs Wurm hatte das alles selbstverständlich schon deshalb nichts zu tun, weil es sich um eine Aktion im ganzen Reich handelte.“

Niemand habe den Besuch des Landesbischofs mit der NS-Sammlung in Verbindung gebracht.

„Dieses Kunststück brachte trotz aller Ankündigungen in der Zeitung, trotz der Beteiligung von Lehrern u. Schülern und trotz der dem Landesbischof gegebenen Aufklärung der Seelsorger und Religionslehrer Herr Stadtpfarrer Haasis fertig.

An beiden Weihnachts-Feiertagen hat er im Gottesdienst Protest gegen das „taktlose“ Benehmen der HJ anlässlich des Besuches des Landesbischofs erhoben und die Gemeindeglieder gebeten, ihn zu unterstützen.“

Dadurch habe es „Aufregung“ gegeben, denn der Geistliche habe „von der Kanzel herab Zwischenfälle“ geschaffen, die gar keine gewesen seien. Er habe auch nicht versucht, die Sache vorher mit der HJ und der Parteileitung zu klären.

„Am erstaunlichsten erscheint es aber, dass er ausgerechnet den Tag der Liebe und des Friedens benützte, um Unfrieden und Hader zu stiften.“

Die NSDAP und der Stellvertreter des Führers hätten „eine Weihnachtsbotschaft an alle Deutschen verlesen“ und „allen Volksgenossen erneut die Hand gereicht.
Herr Stadtpfarrer Haasis aber…..?!
Wer ist taktlos?“

Meine Mutter war von da an traumatisiert, seitdem MISSTRAUTE sie dem Journalismus und der Parteiagitation. Die heutige Entwicklung zum Skandal- und Boulevard-Journalismus hätte sie bestätigt.

 

 

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