haasis:wortgeburten

 

EIN RETTER FAST VERLORENER SCHÄTZE

Verschüttetes bergen, Vergessenes zurückrufen, Erinnerung bewahren

Werkstattbesuch bei dem Betzinger Schriftsteller Hellmut G. Haasis

von Kurt Oesterle

 


(Südwestpresse/Schwäbisches Tagblatt, Tübingen, 30. Juli 1992)

(Über dem Artikel thront ein Foto des Tagblatt-Fotografen Haas, mit Untertitel:
Der schwäbische Mundartkenner Hellmut G. Haasis trinkt gern Weine aus dem Elsaß, wo er oft in den Archiven wühlt. In seiner Betziger Schriftstellerklause bringt er die Früchte der Erkenntnis zu Papier.)

BETZINGEN. Der Werkstattbesuch beginnt mit einer Baustellenbesichtigung. Hellmut G. Haasis freut sich, bis der Anbau vollends fertig ist und er sein neu entstehendes Arbeitszimmer beziehen kann.

„Eine leer stehende Fabrik sollte man haben“, sagt er, „oder einen alten Stall, damit man sich mit allem, was man braucht, richtig ausbreiten könnte.“

Solche Großraumphantasien nehmen den nicht wunder, der Haasis’ bisherige Schreibstube kennt: Dort biegen sich die übervollen Regale unter dem Druck von Büchern, Manuskripten und Kopien.

„Das da“, sagt er und zeigt auf eine lila Box, „ist die Christiane Hegel“.

Das heißt: sämtliche Materialien, die er für sein Bühnenstück über die Schwester des Philosophen Hegel zusammengetragen hat.

Und Haasis, der nimmermüde Liebhaber vergessener Freiheitsfreunde und ihrer Texte und Taten, trägt zu allen seinen Projekten nicht gerade wenig zusammen.

Seine Poetensorgfalt würde so manchem hochbezahlten und vielgeehrten Wissenschaftler zur Ehre gereichen.

Wenn der Bühnenautor also über seine Christiane [Hegel] arbeitet, dann hat er nicht nur alle erreichbaren Dokumente studiert, sondern sämtliche Orte, die in ihrem unglücklichen Leben eine Rolle gespielt haben, aufgesucht.

Haasis kann die Stelle, an der die knapp 60jährige Frau 1832 in die Nagold stieg, um sich zu ertränken, exakt beschreiben, bis zur atmosphärischen Verdichtung.

Das Fräulein Hegel ist für ihn ein „Symbol des alten Württemberg“. Sie erleide alles, was man hierzulande nur erleiden könne. Im Grunde sei diese hochbegabte und einsame Frau in politischer Verzweiflung untergegangen.

„Sie hatte für ihr Leben nur zwei Ausgänge: A wie Asperg oder Z wie Zwiefalten.“

Den herzoglich-württembergischen Staatsknast auf dem Hohenasperg kannte sie von den Besuchen, die sie lange Zeit dem dort einsitzenden Vater von Wilhelm Hauff abstattete; dieser war wie sie hochpolitisch und ein Franzosenfreund.

Zwiefalten, am Ende des Alphabets, kannte sie, weil sie als „Gemütskranke“ von ihrem Bruder, dem preußischen Staatsphilosophen, dorthin abgeschoben wurde.

Behandelt hat man sie in der Psychiatrie mit den ersten Elektrisiermaschinen, und auch die Zwangsjacke, das „englische Hemd“, war ihr schrecklich vertraut.

Christiane Hegels „Frauentragödie“ hat Haasis für die Reutlinger „Tonne“ als Bühnenstück bearbeitet. Es heißt „Rede an meinen Totengräber“ und wird im Frühjahr 1993 uraufgeführt.

Ein weiblicher Monolog, den die eine oder andere Männerstimme aus dem Lautsprecher eher durchschneidet.

Aber dennoch kein feministisches Stück, sondern ein emanzipatorisches, wie Haasis mit Schlitzohrdialektik unterscheidet.

UNHEIMLICHES WELTGEFÜHL

Jeder Haasis-Leser weiß, dass der Betzinger Poet, Editor, Erzähler und Sammler bei allem, was er tut, Neues zutage fördert.

Er hat – siehe das zweibändige Werk „Gebt der Freiheit Flügel“ – die Überraschung fast zum System erhoben.

Das ist Haasis nun mit dem eben erschienenen Prag-Lesebuch „Die unheimliche Stadt“ (im Piper-Verlag, Preis 19,80 Mark) wieder gelungen.

Schon beim Suchen von Autoren, die das Unheimliche in der traditionellen Vielvölkerstadt Prag beschreiben, war er so bestürzend erfolgreich, dass manche bestallten Verwalter der deutschsprachigen Literatur ungläubig reagierten. „Gibt es diese Autoren überhaupt?“

In der Tat sind viele der von Haasis dargebotenen Schriftsteller völlig in Vergessenheit geraten, und es ist ihm, diesem Virtuosen des Archivs, zu verdanken, dass er sie unter so vielen Staubschichten wiederentdeckt hat.

Was der knapp 400seitige Band versammelt, ist Weltliteratur und zwar ein weiterer deutschsprachiger Zweig der Weltliteratur, mit Prager Hausnummern.

Vier Fünftel der von Haasis zur Lektüre wiederbelebten Autoren sind Juden. Ihre Namen – wer kennt Paul Leppin oder Hans Natonek? – sollen gleichberechtigt in die Reihe Brod/Kafka/Rilke aufgenommen werden.

Ist das Unheimliche nicht ein Modethema? Darauf antwortet Haasis mit einer Gegenfrage: “Ist das Unheimliche nicht ein unheimlich aktuelles Weltgefühl?“

IN DER BLAUWOLKENGASSE

Auch sein eigener kleiner Verlag, der „Freiheitsbaum“, hängt voll mit reifen Früchten. In der Unterabteilung „Blauwolkengasse. Eine verschüttete Freiheitsbibliothek“ werden in diesen Tagen vier neue Bände fertig.

Die Blauwolkengasse, ein Sträßchen in Straßburg, steht dem Betzinger Verleger-Autor für die so arg vernachlässigte deutsch-jakobinische Tradition.

„Das ist“, sagt er, „die älteste deutsche Exilliteratur.“

Er meint damit die Bücher von über den Rhein nach Westen gezogenen schwäbischen oder pfälzischen Revolutionären, die etwa In Straßburg ihre Schriften herausbrachten und bis heute nie wieder aufgelegt wurden.

Zum Beispiel Christoph Friedrich Cotta, der ältere Bruder des Tübinger Verlegers (Schiller umwarb letzteren für seine „Horen“), der als Lehrer an der Stuttgarter Hohen Karlsschule nach der Französischen Revolution den Dienst quittierte.

Haasis bringt eben, als Reprint eines Unikats, seine „Rede für das Fest des Frankenvolks“ heraus. Entdeckt hat er diese und andere Cotta-Schriften in der Nationalbibliothek in Straßburg.

Sein Traum wäre eine „vollständige Präsentation von Demokratenliteratur“. Er wird an dieser Riesenarbeit nicht so schnell müde werden.

Am Ende seiner Suche nach alternativen Geistern quer durch die Jahrhunderte könnte irgendwann einmal ein dickes, universelles „Handbuch der Untergrundliteratur“ stehen.

Am Schluss unseres Gesprächs platziert Haasis noch ein Schlaglicht von der Art des irischen Satirikers Swift – zur grellen Beleuchtung des Reutlinger Theaterpublikums.

„Wenn Knut Weber mit seinem ‚Tonnen’-Team Reutlingen verlässt (was ich für sie wünsche und hoffe), dann sollte man die ‚Tonne’ unbedingt abwickeln und anschließend marktwirtschaftlich betreiben.“

Ideal, so die Haasis-Anti-Utopie, wären ein Weinkeller nebst Weinhandlung.

„Außerdem müsste dort ein Boulevardtheater von Weltniveau eröffnet werden.“

Mit dem Gewinn, den das Wein-Bühnenhaus abwerfe, „könnten die Defizite des Reutlinger Ratskellers gedeckt werden.“

Das interessierte Publikum müsste, damit der Laden attraktiv wäre, in gewaltigen Schweinsledersesseln untergebracht werden; die Tische wären – gut altwürttembergisch – für größere Besucherbäuche halbmondförmig auszusägen.

„Selbstverständlich ist nur beste Garderobe zugelassen, der Platz kostet 120 Mark.“

Der Betzinger Swift ist äußerst zuversichtlich, dass ein großbürgerlich geläutertes Kleintheater in Baden-Württemberg schnellstens zum Geheimtipp werden würde.

(30. Juli 1992,digitalisiert 2011 mit dem inzwischen tüchtig vergilbten Foto aus dem alten Zeitungsartikel)

Notiz 2011.
Paul Leppin in Prag war kein Jude, wurde aber von den Nazis im März 1939 sofort als solcher traktiert und eingebuchtet, denn wer in Prag schrieb, gut schrieb, war automatisch Jude.

Meine Bibliothek der ältesten Exilliteratur „BLAUWOLKENGASSE“ ruhte danach lange, soeben erschien als 7. Band das VOLKSBUCH DER VERSPOTTETEN PÄPSTE.
HYPERLINK "http://haasis-wortgeburten.anares.org/volksbuch/index.php" http://haasis-wortgeburten.anares.org/volksbuch/index.php

Das unschuldige Theaterstücklein über Christiane Hegel wurde nie aufgeführt, dem Intendanten Knut Weber, jetzt in Ingolstadt, hat es nie geschmeckt.

hellmut g. haasis 1992 in seinem alten arbeitszimmer,
in dem die ersten großen werke entstanden


hellmut g. haasis, arbeitszimmer um 2007, ecke zum garten

 

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