haasis:wortgeburten

 

(Biografisches Nr. 7
Vaterlos im Himmel wie auf Erden
von Hellmut G. Haasis
(1986)

 

Mühlacker, Ulrichweg 19, das Pfarrhaus unserer Jugend.
Im Giebelzimmer rechts oben (Elternschlafzimmer)
wurden wir drei Geschwister HAASIS geboren, alle auf dem Foto.
Links WALDEMAR, in der Mitte EVMARIE, vorne rechts HELLMUT.


Angetan hat mir der himmlische Vater eigentlich nichts. Bevor es dazu hätte kommen können, war ich ihm aus der Reichweite entwischt.

Was mir angetan wurde, tat mir schon eher meine Mutter an. So glaubte ich, bis ich mich mit der Zeit auch ihrer Übermacht entzog.

Erst als ich dann geschichtlich und politisch denken zu lernen anfing, ahnte ich etwas von dem teils unbegriffenen, teils verschwiegenen Dunkel, in dem meine Mutter so gemacht worden war, wie sie war.

Was sie mir angetan hatte, war ihr vorher von anderen zugefügt worden. Und ihr zuliebe muss ich hinzusetzen, dass ihr ungleich mehr und Schwereres angetan worden war als mir.

Meinen Vater gab es für mich von Anfang an nur im Himmel. Er war also weit weg, war tot, aber in der Familie immer gegenwärtig: in der Erinnerung und im Gebet.

Im eiskalten Januar des Jahres 1942 kam ich auf die Welt: in Mühlacker an der Enz, zwischen Pforzheim und Stuttgart.

Ich wurde zu Hause geboren, in der Pfarrwohnung; denn mein Vater wünschte, wenn eines seiner Kinder berühmt werden würde, sollte man eine Gedenktafel am Geburtshaus anbringen können.

Gerade erst zweieinhalb Jahre war ich alt, als mein Vater in Straßburg fiel: August 1944. So pflegte man zu sagen.

In Wirklichkeit war er nicht einfach so gefallen, schon gar nicht auf dem Feld der Ehre, dem chauvinistisch-nazistischen Moloch. Auch nicht fürs Vaterland, wie die Todesanzeige behauptete - die log wie gedruckt.

Bei einem Luftangriff der Alliierten auf Straßburg hatten die Druckwellen eines Bombenteppichs meinen Vater aus einem Bombentrichter, wo er Deckung gesucht hatte, herausgerissen und 30 Meter weit weggeschleudert.

Mein Vater starb sofort an inneren Verletzungen, seine herbeigeeilten Kameraden konnten seine letzten Worte schon nicht mehr verstehen.

In der Nähe stand der Lazarettzug, in dem mein Vater als Zahlmeister zu Verwundetentransporten an die russische oder an die italienische Front gefahren war.

Auf den Dächern der Waggons waren riesige rote Kreuze aufgemalt, die die Amerikaner so wenig rührten, wie sie die Naziarmee irgendwo vom Morden abgehalten hatten.

Seitdem lebte unser Vater im Himmel und doch stets bei seiner Familie. Wir besuchten ihn öfters in Straßburg, wo wir ihn auf dem großen Soldatenfriedhof fanden, hinter dem Hauptbahnhof. Vom Eingangstor aus gleich links in der vierten Reihe das elfte Grab. Nicht nur dort sprachen wir mit ihm.

Andacht

So kenne ich meine Mutter nicht anders, als dass sie meinen umgebrachten Vater vertreten, es ihm recht machen und seinen Willen erfüllen wollte. Der Weg, mit unserem Vater in Verbindung zu treten, war das Gebet.

Den Tageslauf durchzogen Gebete. Vor dem Frühstück ein ellenlanges Morgengebet, gemeinsam von uns vieren gesprochen, wobei man sich nicht vergaloppieren durfte.

Nach dem Frühstück die Morgenandacht: die Losung des Tages mit Kurzauslegung (Losungsbüchlein) und ein Lied. Mittags Tischgebet vorher und nachher. Abends die Abrechnung des Tages.

Hier wurden vor Gott und unserem Vater alle Probleme und Schandtaten der Kinder ausgebreitet. Glücklich, wer dabei besser abschnitt, indem er nur wenig oder gar nicht drankam.

Gott, der sich im Himmel alles anhörte, mein Vater neben ihm, ebenfalls bestens unterrichtet über die zurückgelassene Familie: das war ferne über mir, fast eine bergende Welt, bei weitem nicht so streng wie die Welt unten.

Denn hier unten herrschte meine Mutter, energisch, mir stets auf den Schlichen; ihr entging kaum, wenn ich vom vorgeschriebenen Weg des Gehorsams, der Ehrlichkeit, der Pünktlichkeit, der Anständigkeit abwich.

Sollte doch einmal etwas ihrem Überauge entwischen - natürlich nur kurzzeitig -, so bekam ich es erst recht jahrelang auf das erzieherische Butterbrot geschmiert.

So etwas musste in mir wohl ein noch immer ungestilltes Sehnen nach Befreiung wecken und einen Drang, dafür etwas zu tun.

Der zweigesichtige Gott

Die Konstellation unter den Geschwistern war für mich denkbar ungünstig: die Schwester sieben Jahre älter, der Bruder vier. Ich, das Nesthäkchen, ein letztes Wunschkind und ab dem zweiten Monat mit der Flucht aus dem Mutterleib drohend, hatte da noch einmal eine Mutter - die eine war wirklich schon genug, da sie ja noch gleich den Vater ersetzen wollte.

Also drei Große über meinem kleinen Lockenschopf. Und auch der Bruder ließ mich nicht hochkommen.

Dabei muss ich wohl ziemlich geltungssüchtig und auch dickköpfig gewesen sein, was meine Geschwister für frech hielten. So bekam ich Druck aus allen Richtungen - und nicht so knapp.

In dieser Zwangslage schwebte über mir ein zweigesichtiger Gott. Der sprichwörtlich liebe hörte sich in Eselsgeduld alles an. Genützt hat es mir nichts.

Er gehörte für mich mehr oder weniger zu meinem toten Vater, denn beide wurden im Gebet miteinander angesprochen. Das war für mich der ferne Gott, mit etwas unklaren Zügen, aber doch der angenehmere.

Daneben lebte meine Mutter, diese gewaltige, mich schier erdrückende Doppelperson: für mich der nahe Gott, dem wirklich fast nichts entging.

Dem einen, dem fernen Gesicht gegenüber konnte ich mir schon einmal Luft verschaffen, beim andern, dem viel zu nahen, war das lange zwecklos. Hier half noch am ehesten Schweigen, mich in meinem Inneren Verstecken.

Der ferne Gott hatte, wie ich aus Gebeten und Andachten wusste, mich auf dem rechten Weg zu leiten, mich vor dem Bösen zu behüten und zu bewahren. Dafür musste ich alle, selbst die kleinlichsten Verhaltensvorschriften peinlich genau befolgen.

Ein kleinkarierter Gott, ein unentwegter Nörgler! So musste der ferne Gott mich auch vom Herumtrödeln nach der Klavierstunde und dem verbotenen Fußballspiel abhalten. Natürlich von hundert anderen Dingen ebenfalls, die mir Spaß gemacht hätten, sich aber nach der Meinung meiner Mutter nicht gehörten.

Im Gegensatz zum nahen Gott ließ der ferne einiges durch. Mir war es recht.

So geschah mal folgendes: Anstatt nach der Klavierstunde, wie unendlich oft befohlen, sofort nach Hause zu gehen, spiele ich wieder einmal Fußball. Ich muss ungefähr fünf Jahre alt gewesen sein.

Ich laufe aus einem Hof dem Ball hinterher, über die Straße und in einen der ersten Volkswagen von Mühlacker. Ich finde mich einige Meter weiter auf dem Hinterteil wieder, rappele mich auf, packe meine Mappe mit den Klaviernoten und trotte nach Hause. An der Enz wische ich ein bisschen Blut von meiner Hand ab. Sonst habe ich nichts abbekommen.

Zu Hause komme ich gerade rechtzeitig zum Kakaotrinken. Da platzt mit einem Mal eine Missionarin herein, bei der einige Kinder noch zusätzlich biblische Geschichten hörten:

«Ihr sitzt hier herum, seelenruhig, wie wenn nichts geschehen wäre. Wisst ihr denn nicht, dass euer Hellmut von einem Auto überfahren wurde und im Krankenhaus liegt?»

Meine Mutter versteht nichts, verweist nur auf meine unleugbare Anwesenheit. Ich sitze harmlos da und weiß ebenfalls von nichts. (Diese Haltung entwickelte ich zur Meisterschaft.)

Aber nach und nach stellt sich alles heraus. Da ich mich davongestohlen hatte, sahen mich die Unfallzeugen schon eingeliefert im Krankenhaus.

Den fernen Gott hatte ich überlistet, der nahe hatte mich doch zu erreichen verstanden.

Die Freude meiner Mutter über den glimpflichen Verlauf des Unfalls äußerte sich darin, dass ich von da an für lange Zeit im Gebet vorgeknöpft wurde.

Meine Mutter wollte das Vergehen in mein Schuldbewusstsein «einbrennen». Außerdem wurden die unfallverursachende Sünde und gleich noch ein paar ältere dazu bei jeder sich bietenden Gelegenheit aufgetischt.

Dieser Gott, der nahe, hatte ein unerträglich langes Gedächtnis, der ferne litt dagegen offenbar gehörig unter Gedächtnisschwund, dem der irdische nicht oft genug nachhelfen konnte.

Zwang überall

Meine Mutter stand unter dem Druck, uns den Vater voll ersetzen zu wollen. Selten sah ich sie lachen.

So richtig herzlich einmal, als sie mit uns - ich war um die fünf oder sechs Jahre alt - einen kleinen Zirkus der ersten Nachkriegszeit besuchte. Die Clowns mit ihrem Unfug und Missgeschick brachten mich ganz aus dem Häuschen - schon ihr bloßes Erscheinen stürzte mich in einen See von Lachen.

Noch heute strahlt meine Mutter, wenn sie erzählt, dass sie schon allein bei meinem lachenden Anblick selber loslachen musste.

Doch das gewöhnliche Klima war von Zwanghaftigkeit geprägt. Alles war vorgeschrieben, musste in engsten Bahnen befolgt und erledigt werden.

Das Oberauge konnte nicht einmal ein kleines Auge zudrucken. So lagen Erpressung und Gewalt auf meiner kleinen Seele.

Wenn ich tagsüber einmal nicht folgsam war - das kam bei meinem Dickkopf
natürlich öfters vor -, musste ich abends im Bett meine Mutter um Verzeihung bitten.

Auch diesen Grundsatz verdankte ich dem toten Vater: Meine Mutter sprach dann nicht das Nachtgebet mit mir und wich nicht von meinem Bett, bis ich endlich, um einfach Ruhe zu bekommen, um Verzeihung für etwas bat, das mir keineswegs sonderlich verwerflich vorkam.

Natürlich wurden bei der Erpressung am Bett auch Gott und mein Vater gegen mich bemüht.

Mein Gottesbild verband sich mit Unterwerfung, Brechung des eigenen Willens, mit Gewalt; denn wenn gar nichts mehr half, setzte es endlich auch Hiebe. - Wobei meine Geschwister bis heute halb lachend, halb empört meinen, im Vergleich zu ihnen sei ich als der Jüngste zu kurz gekommen.

Zwang und schlechtes Gewissen hingen unauflöslich zusammen. Für den Fall, dass sich eines der Kinder kurz Freiheit verschaffen wollte, sollte es in sich selbst einen Polizisten herumtragen.

Um den eigenen starrköpfigen Stolz nicht aufkommen zu lassen, musste man gedemütigt, täglich immer wieder gedemütigt werden. Lob und Anerkennung kannten wir eigentlich nicht. Das hätte nur den Hochmut gefördert, auf den ja todsicher der nächste Sündenfall gefolgt wäre.

Die Hexe

Den grundlegenden Schock meiner Kindheit, noch fast vierzig Jahre danach nicht ganz verwischt, erlitt ich im riesigen, wunderbar verwilderten Pfarrgarten. Dieses Kinderparadies war mit dem großen Haus hineingebaut in einen aufgelassenen Steinbruch. In der Mitte eine schon betagte, sehr hohe, ausladende Blutbuche, in deren Schatten mein erster Spielplatz lag: der Sandkasten.

An einem Frühnachmittag im Sommer erschien mir dort eine Hexe, ein Monstrum mit scheußlichen Augen, fletschenden Zähnen, schrecklichem Keifen, mit gierigen Händen von weitem nach mir langend.

Als ich aus dem ebenerdig zum Garten liegenden Keller herauskomme, sehe ich sie plötzlich von weitem. Da ist es schon zu spät.

Ich will fliehen, komme nicht weg. Ich will mich umdrehen, nicht hinsehen, ich bin festgeschmiedet an den Boden. Ich will mir die Augen zuhalten, da kann ich meine Arme nicht mehr heben.

Die Hexe zieht mich mit ihren Händen erbarmungslos zu sich heran. Meine ganze Willenskraft ist mit einem Schlag gebannt, alles ist tot in mir, nur nicht meine Augen und mein rasend wachsender Schrecken.

Die Hexe zieht mich einen kleinen Schotterweg hinauf, wie ein riesiger Magnet. Kurz bevor sie mich wirklich hat und verschlingen kann, dreht sie sich um und verschwindet hinter dem starken Stamm der Blutbuche. Gerade noch kann ich ein Schild auf ihrem Rücken lesen: «Komme 6 Uhr wieder.»

Aufgelöst renne ich zu meiner Mutter. Was ich ihr auch erzählen mag, sie kommt nicht hinter das Geheimnis meiner Verstörung. Sie gibt sich Mühe, aber mein Todesschrecken lähmt wohl alle Ausdrucksfähigkeit. Ich dürfte damals nicht mehr als fünf Jahre alt gewesen sein. Meine Mutter nahm meine Angst ernst, ging mit mir zur Blutbuche, wo sie im Gebet Gottes Hilfe gegen meine Angst anrief.

Abends kam die Hexe nicht mehr. Ich wurde wohl auch im Haus gehalten. Die nächsten zehn Jahre lang träumte ich wöchentlich von der Hexe, gelegentlich mehrmals, schreckte auf, zitternd, hilflos.

Das Gebet zu Gott hatte nichts geholfen. Erst als ich dann mit 15 Jahren in das evangelisch-theologische Seminar von Maulbronn einzog und ab und zu meine benachbarte Geburtsstadt und einen Kindheitsfreund besuchte und so auch den Garten mit der Blutbuche wiedersah, begann meine Schreckenswunde zu vernarben. Stück für Stück rekonstruierte ich, was damals geschehen war.

Bei der Hexe handelte es sich um eine Freundin meiner Schwester, die eine Vorliebe fürs Verkleiden und für Schauermärchen hatte. Die Hexe konnte mich nicht gut von über zwanzig Metern aus magnetisch angezogen haben, ich war wohl von meiner großen Schwester dorthin geschoben worden.

Mein Sträuben ließ sich bei dem Schrecken leicht brechen. Das Schild mit der Ankündigung der Wiederkehr hatte ich mir im Lauf der jahrelangen Angst selbst gemalt, denn damals konnte ich beileibe noch nicht lesen.

Mit dieser Erkenntnis ließen die Angstträume langsam nach und hörten dann noch in der Maulbronner Zeit auf. Der ferne Gott hatte völlig versagt, der nahe mich nicht verstanden, sondern alles auf den fernen abgeschoben.

Mit meiner Not, meinen nächtlichen Schreckensbildern blieb ich allein. Niemand konnte ich davon erzählen. Wer will sich schon wegen einer Hexe lächerlich machen? Und als der Jüngste in der Familie war ich eh zur Genüge der Gegenstand des verletzenden Spottes meiner Geschwister.

Ständige Trauer

Bei aller Zwanghaftigkeit zeigte das Gottesbild unserer vaterlosen Familie noch einen anderen Zug: Es trug Trauerflor. Jahrelang weinte meine Mutter bitterlich, wenn bei den Andachten der tote Vater angesprochen wurde.

Wir sangen bevorzugt Trauer- und Trostlieder. - Meine Mutter ging drei Jahre lang schwarz, äußerlich; innerlich ihr Leben lang.

Bei den Andachten ließ uns die Mutter die Lieder auswählen. Wenn ich drankam, der ich noch nicht lesen konnte, blätterte ich so lange im Gesangbuch, bis ich das Lied Nr. 99 gefunden hatte: auch ein Trauerlied.

Meine Geschwister wurden bald ungeduldig, die Mutter ließ mich suchen, bis ich endlich die beiden geschwungenen Zahlen nebeneinander entdeckt hatte.

Hier galt ich für ganz kurze Zeit etwas, wurde ermuntert, bestätigt, fühlte mich emporgehoben zu den Großen, geliebt und nicht bloß als Blondköpfchen abgeschleckt. Im Trauern nur zeigte sich der zweigesichtige Gott über mir liebevoll, wenn auch völlig machtlos. Immerhin kam er mir hier am nächsten.

Die ständige Trauer hatte freilich auch eine repressive Seite. Als ich mich später, ab 13 Jahren ungefähr, von der Mutter loszumachen suchte, bekam ich in Konflikten den Tod des Vaters, woran nun wahrlich nicht ich, sondern die Nazis Schuld hatten, vorgeworfen, zur Verschärfung des Schuldbewusstseins.

Stehende Redewendung: «Das wäre nicht passiert, das hättest du dich nicht getraut, wenn dein Vater noch leben würde.»

Die Auflösung Gottes

Meinem allmächtigen nahen Gott entschwand ich, als ich nach Maulbronn kam. Ich geriet in eine württembergische Klosterschule, die von einem Patriarchalismus geprägt war, wie ich ihn nie gekannt hatte. Der Schulleiter, nach griechischer Sitte Ephorus genannt, war ein griesgrämiger Haustyrann. Er hatte meinen Vater gekannt. Womöglich hätte ich mir meinen Vater wie diesen Ephorus vorstellen müssen: kriegsbegeistert 1914-1918, dann antirepublikanisch, näher bei den Freikorps als bei der Weimarer Verfassung, von oben bis unten akkurat, innerlich einen langen Säbel verschluckt.

Auf den Jahrgang, der mit mir ins Seminar Maulbronn eingezogen war, wirkte der Ephorus befremdend. Wir waren zum großen Teil eine vaterlose Generation.

Es ließ sich nicht leugnen, dass in der jüngsten Geschichte verheerende Kräfte bis in unsere Familien hinein gewirkt hatten. Welche und warum und wie sie sich so einfach hatten austoben dürfen, erfuhren wir kaum.

Wir waren des Ephorus «Buben» - so nannte er uns -, mussten zusammen- und niedergehalten werden. Bescheidene erste Selbständigkeitswünsche, gar Kritik vertrug der Ephorus nicht.

Mein ferner Gott wurde mir noch weiter weggerückt. Zu verblassen begann er, als ich über die Geschichte und meinen Vater mehr nachdachte, nachfragte und nachlas. Das war erst in Blaubeuren möglich, dem nächsten Seminar, das ich als 17- bis 19jähriger besuchte.

Maulbronn selbst spiegelte mit seinem geistigen Mief die Adenauer-Zeit wider: keine politischen, gesellschaftlichen, sozialen Fragestellungen, sondern zeitloser, unpolitischer christlicher Glaube, das Abendland mit den entsprechenden konservativen bis reaktionären Tugendvorstellungen.

Nicht aus Neigung, eher aus Ratlosigkeit wählte ich 1961 das Theologiestudium. Darüber hinausgeführt, davon befreit haben mich dann Aktivitäten gegen die «Braune Universität» (Marburg und Tübingen 1963-1965; Protest gegen Professoren, die in Amt und Würden waren, obwohl sie das NS-Regime gefördert hatten) und die gesellschaftliche wie politische Kritik der Kirche und ihres Glaubens.

Je mehr ich über die autoritäre bis kräftig nazistisch gebräunte Theologie stritt und meine grundsätzlicher werdende Kritik auf jede Theologie auszudehnen begann, desto schwächer wurde der zweigesichtige Gott.

Meine Mutter wollte von alldem nichts hören: «Das würdest du nicht wagen zu sagen, wenn dein Vater noch leben würde. »

Zum Totensonntag 1963 schrieb ich aus Marburg einen Brief, in dem ich meiner Mutter auseinandersetzte, für wie sinnlos ich den Tod meines Vaters und für wie verlogen ich das Gerede am Totensonntag hielte.

Sie fühlte sich tief beleidigt, war schwer verletzt. Den Brief vernichtete sie, wie später auch alle meine anderen.

Einmal stieß ich im Nachlass meines Vaters auf eine Predigtnotiz für den Sonntag nach dem Pogrom vom 9. November 1938, nach der Reichskristallnacht. Darin hatte mein Vater, obwohl selbst von den Nazis belästigt, von der Gestapo überwacht, behauptet, der Führer sei die von Gott eingesetzte Obrigkeit.

Mir gefiel das absolut nicht. Als ich das meiner Mutter sagte, vernichtete sie alle Predigtnotizen meines Vaters: ich solle nicht das Andenken meines Vaters beschmutzen können; das sagte sie mir freilich erst mehr als zehn Jahre danach.

Die Blockierung des eigenständigen, abweichenden Denkens erlebte ich nicht nur im familiären Bereich, sondern erst recht auch im Theologiestudium. Ich wurde nach und nach hinausgedrängt: alleingelassen bei der Kritik an den braunen Theologen, allein bei der Entdeckung der religiösen Sozialisten, allein bei einer sozialgeschichtlichen Relativierung theologischen Denkens.

Das von mir eigentlich nur als historisches, philologisches und philosophisches Fach betriebene Theologiestudium löste den fernen Gott nach und nach im geschichtlichen und politischen Denken auf.

Ich kann nicht sagen, dass dies für mich eine schmerzliche Entwicklung gewesen sei. Eher umgekehrt: Ich fühlte mich befreit. Den Platz, den der Übervater, der immer ein wenig blasse, besetzt gehalten hatte, nahm nun meine Sehnsucht nach Befreiung ein.

Mein Vater selbst, einst im Himmel angerufen, wurde für mich eine historische Gestalt. Wenn ich nun sein Grab in Straßburg besuche, kann ich Anstöße mitnehmen, die bruchlos an den Kindheitserinnerungen anknüpfen: Krieg, Elsass, Nazis, Heimat, die heutige Welt als randvolles Pulverfass, das Verschwinden des machtlosen Gottes, das Verständnis für das zerstörte Leben meiner Mutter.

Selten gab sie uns Kindern ihre Gefühle preis. Sie selbst war als Kind von einem überaus brutalen Vater unendlich schwer hergenommen worden. Das hat ihr oft den Mund verschlossen.

Einmal fasste sie ihr Lebensgefühl als Witwe in ein Bild, das tief blicken ließ: Sie sei ein Baum, dem die Krone genommen worden sei.

Also vaterzentriert war mein Gottesbild nie, es war im Alltag mutterzentriert. Das dürfte bei der vaterlosen Generation der heute über 40-jährigen nicht selten ähnlich gewesen sein.

Dieser Gott war um nichts menschlicher, lebensfreudiger als der traditionelle Männergott. Geholfen hat mir nur das Verschwinden jeden Gottes durch die eigene Befreiung im Denken und Handeln.

Was mir notwendig erscheint, ist nicht eine Muttergöttin statt des abgewrackten Männergottes, sondern überhaupt kein Gott mehr.
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Hellmut G. Haasis, geb. 1942 in Mühlacker (Kreis Vaihingen /Enz, heute Enz-Kreis Pforzheim) als 3. und letztes Kind einer evangelischen Pfarrerfamilie; 1957-1961 evang.-theol. Seminare in Maulbronn und Blaubeuren (Württembergische Pfarrernachwuchsanstalten); 1961-1966 Studium der ev. Theologie, Geschichte und Politik in Tübingen, Marburg und Bonn, Examen Tübingen; 1971 fertige Doktorarbeit (bei Jürgen Moltmann) im Zuge der Rollback-Strategie (Rache der Profs an der APO-Generation) abgelehnt; seitdem schriftstellerisch tätig über deutsche Revolutionsbewegungen, Gewerkschaften, Italien, Sardinien, Schwäbische Mundartdichtung, letztes Werk «Spuren der Besiegten » (3 Bände, Rowohlt), eigener Miniverlag FREIHEITSBAUM, lebt als Geschichtsausgräber, Schriftsteller, Clown und Kabarettist in Reutlingen-Betzingen).

(erstmals erschienen in: Siegfried Rudolf Dunde (Hg.): Vater im Himmel – seine Söhne auf Erden. Männer und Religion. Rowohlt, Reinbek1986, S. 250-258, hier leicht redigiert)


 

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