haasis:wortgeburten

 

SPUREN DER BESIEGTEN

--- Original-Nachricht --------
> Datum: Wed, 24 Oct 2007 13:53:43 -0700 (PDT)
> Von: Werner Baur, Illinois (USA)
> An: hellmut.g.haasis, Reutlingen (Deutschland)
Betreff: spuren der besiegten

> sehr geehrter herr haasis,
>
> vor zwei monaten hatte ich ein familientreffen in
> blavand, daenemark. in dem ferienhaus, in dem wir
> wohnten. waren viele deutsche buecher, darunter zwei
> der drei "spuren der besiegten"-baende. ich war so
> fasziniert von ihrem ansatz, dass ich mit begeisterung
> darin las. inzwischen habe ich mir alle drei baende
> antiquarisch besorgt und lese weiter.
>
> ich frage mich, warum keiner vorher je auf die idee
> gekommen ist, geschichte, so wie sie, von hinten her,
> oder vielmehr von unten her aufzuzaeumen. klar ich
> wusste von den bauernaufstaenden, von hus etc., aber
> dass es eine fast ununterbrochene geschichte der
> auflehnung gegen die macht bei uns gegeben hat, erfuhr
> ich erst durch ihr buch. also sind die deutschen doch
> nicht so friedfertig und obrigkeitshoerig wie ich
> immer gedacht hatte! vielen dank, dass sie dieses buch
> geschrieben haben.
>
> ich bin uebrigens nicht vom fache, sondern
> (pensionierter) naturwissenschaftler.
>
> mit freundlichen gruessen
>
> Werner H. Baur
> llinois, USA

25. 10. 07
hallo herr bauer, seien sie mir gegrüßt.

sie sind einer der wenigen leser, die sich bei mir je gemeldet haben. die branche ist sehr schnelllebig - und kurzatmig.

sie berühren eine auch für mich ungelöste frage: warum die deutschen geschichtsschreiber so selten oder nie einen ähnlichen ansatz betrieben haben.

wenn ich zusammenfasse, was mir je dazu eingefallen ist, habe ich folgende antwort, stümperhaft, aber besser als warten, bis eine regierungskommission mir die antwort ins haus liefert:

1. die deutschen, die gebildeteren, sind lange opfer gewesen einer extrem obrigkeitshörigen, autoritären, antidemokratischen, voraufklärerischen politischen orientierung, die geht zurück auf das lutherische staatskirchentum. ungefähr 90 % der deutschen, die mit dem kopf arbeiten - intellektuelle kann man nicht für alle sagen - sind protestantischer herkunft, auch wenn sie schon lange nix mehr glauben. ihr oberster staatsboss ist direkt von gott eingesetzt, kritik daran ist eine todsünde, die nie verziehen wird. geändert hat sich daran nicht viel, auch wenn die staatsidee säkularisiert wurde. wer oben ist, hat immer den segen des ewigen, des göttlichen, des unangreifbaren, oder wie man die gottesorientierung verwässert hat, unter beibehaltung der absoluten unterordnung des kleinen bürgers.

2. in diesem geist wurden alle bildungsträger erzogen, massiver nach 1848, als die republik verfehlt wurde. ab da ging es nach meiner meinung ziemlich bergab, auch wenn die großen staatshistoriker heute überall fröhlich sind über die ausweitung der wirtschaftlichen und politischen macht. Für mich eher eine sackgasse in den absturz. Der traurige rest ist bekannt, an dem schließlich ganz europa zu leiden hatte.

3. gleichzeitig sind die deutschen geistesträger - wenn es so etwas hochgeschwollenes überhaupt gibt - erben des verlorenen bauernkrieges. bewegungen von unten, gar vom land, hatten immer den geruch des hinrichtungswürdigen. die bauernschaft hat bei uns nie ein selbstbewusstsein entwickelt, anders in ländern, wo sie sogar eine verfassungsgebende kraft wurde, in den alpenländern und an der nordsee. oder denken sie an die schweiz mit ihrer langen freiheitlichen sondertradition. nur die bäuerlichen urkantone haben den irrsinn der europäischen verkehrspolitiker gestoppt, den ganzen lieferverkehr durch die schweiz auf die straße zu verlagern, nicht auf die bahn. erst durch das nein der ländlichen zentralbevölkerung musste der verkehr massiv auf die schiene verlegt werden. die industrialisierten kantone hätten es gerne anders gehabt, wie brüssel.

4. versäumnisse in der geschichtsbetrachtung von den kleinen leuten aus, von ihren freiheitsbedürfnissen, können nicht so rasch aufgeholt werden. ich bin überzeugt, dass nach mir noch andere kommen werden und ähnlich weitermachen werden. aber bei der auswahl des akademischen nachwuchses heute dominiert eine stramme ausrichtung auf die hierarchische unterordnung. bei uns treibt man schon lange die sogenannte strukturgeschichte, wahrscheinlich nicht bloß hier. darin besteht eine große differenz zu frankreich, wo man lieber langfristige mentalitäten erforscht, weil dort die bürger bis heute politisch widerspenstiger sind - und keine staatskirche hatten, sondern immer distanz zur religion. die autoriotäre entmündigung der bürger innerhalb der europäischen verfassung ist an den franzosen gescheitert. BRAVO. Die deutschen dürfen darüber gleich gar nicht abstimmen, ihre regierung hat angst vor dem wahlvolk, dem eigentlichen souverän. Bei uns ist die bürgermacht über die politische ausrichtung am schwächsten in europa. in frankreich, so hat man mir versichert, hätte ich riesenerfolge mit meiner arbeit, würde in den fernsehsendungen schwitzen, müsste endlos viele lesungen halten, hätte nachfolge-aufträge bekommen. da bin ich eben im falschen land geboren.

5. jüngere leute, die ähnlich wie sie meinen ansatz schätzen, können hier damit nichts werden. also müssen sie sich unter das ochsenjoch jahrzehntelanger anpassung begeben. und wenn sie endlich mit 50 oder 55 professoren sind, haben sie alle freiheitlichen ansätze ihrer jungen jahre verdrängt. im kollegenkreis sind sie bestens eingemauert in alte, informelle zünfte. überall sind die machtpositionen auch im geisteswissenschaftlichen bereich verteilt auf schulen, cliquen, ich sage dazu zünfte. mein ansatz dagegen hat keine zunft, will keine, wird nie eine kriegen.

6. tut nichts. ich bin zufrieden mit dem, was mir gelungen ist. das schöne am buch ist in den bibliotheken, es bleibt noch mindestens 100 jahre benützbar - und eines tages springt der funke über. der geist ist nicht kontrollierbar - er ist zum entsetzen der politiker, der juristen und der polizei in seinen wirkungen nie voraussehbar.

seien sie herzlich gegrüßt über den großen teich mit einer grußform, die ich gegen den trend lieber italophil wähle -

tanti cordiali saluti
hellmut g. haasis, reutlingen

wenn sie sich mal eine fidele unterhaltung mit etwas hintergrund erlauben wollen, wählen sie über eine suchmaschine: haasis wortgeburten. Sie werden sehen, wie ich öffentlich meine forschungen weitertreibe. Jetzt zu georg elser, der hitler beinahe beseitigt hätte, 1939. Es fehlten nur 13 minuten. Die tragischsten 13 minuten der weltgeschichte.

und besonders makaber der justizmord an einem jüdischen finanzberater 1738 in stuttgart. ich werde damit bis heute überall abgeblockt, man schätzt in deutschland nicht eine öffentliche beschäftigung mit den verfehlungen der justiz, der kirche und der politischen führung.

 

 

 

 

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