Die Stimmung, in der Hitler mit aller Gewalt und unter schwerster Verletzung des Rechts und der Verfassung (wird gerne vergessen) an die Macht geschoben wurde, beschrieb vorzüglich der linkssozialistische UND antistalinistische Emigrant HANS SAHL (1902-1993), in seinem autobiografischen Roman „DIE WENIGEN UND DIE VIELEN. ROMAN EINER ZEIT“.
(sollte man unbedingt lesen, man kann sich dann Tiefflieger und Vielschwätzer sparen)
Anlass zu der folgenden Passage Sahls war das Hitlerbild in einer Zeitung, dazu schrieb Sahl eine hellsichtige Ablehnung.
Es ist nützlich, dieses Zeitbild von Sahl Elsers souveräner Haltung der BRAUNEN EUPHORIE an die Seite zu stellen.
„War es noch ein Gesicht? Selbst der Duce, diese Karikatur eines römischen Condottiere, musste sich, um der Piazza zu gefallen, den pompösen Stil historischer Heldendenkmäler ausborgen.
Aber im Gesicht des Führers war der geschichtslose Massenmensch jener Jahre, das anonyme Wesen, das überall war und nirgends, offiziell geworden.
In diesem Gesicht war nichts Menschliches mehr. Es war das Ikon eines Zeitalters, das sich seine Heiligenbilder im Maschinenraum der ‚Illustrierten’ prägen ließ und keinen Wert auf besondere Kennzeichen legte – sie hätten den Absatz nur gefährdet.
Denn hier wurden große Dinge angeboten: hier wurden Seelenkäufe getätigt, Mörder selig gesprochen, Trinker zu Abstinenzlern ernannt und Missgeburten zu Rassenrichtern, hier wurde die Weltgeschichte zum Kriminalroman gemacht und die deutsche Vergangenheit zur Bärenfell-Farce, hier konnte sich der Anti-Christ als Gralsritter verkleiden und Montsalwatsch in einen Ku-Klux-Klan der Gottlosen verwandeln – dies alles in ein und derselben Nummer und an jedem Zeitungsstand zu haben.
Und die Glocken läuteten.
Unbegreifliches geschah. Aus dem Dunkel der Städte brach es hervor, aus Mansarden, Kellerwohnungen, nach Kohl riechenden Portierlogen, aus Hörsälen und Laboratorien, Käseläden und Offiziersvereinen, aus Bierhäusern, Wettbüros, Massageinstituten; aus Wohnungen und Palästen, aus Bordellen und Kirchen.
Es war die Rebellion der Schalterbeamten gegen die Schalter, des Schreibmaschinenmädchens gegen die Schreibmaschine, des Fabrikherrn gegen die Fabrik; es war Neid und Opferbereitschaft, Hingabe und Zynismus, kalter Betrug und gläubige Besessenheit.
Es war oben und unten, links und rechts, Fortschritt und Rückschritt zugleich. Intellektuelle entsicherten ihren Browning, wenn sie das Wort ‚Kultur’ hörten. Gelehrte geißelten sich in ihren Studierstuben und jauchzten:
„Nur nicht mehr denken!“
Hausfrauen schrieen beim Ein/S.72/kochen hysterisch nach dem Erlöser und umstellten sein Bild mit brennenden Wachskerzen. Und überall das Gesicht: Und überall das Wispern und flüstern: die Juden.
Und die Glocken läuteten.
Man ging umher und verstand nicht mehr, was der andere sagte. Selbst unter Fremden wurde die Unterhaltung problematisch. Wer nicht auf der Schwarzen Liste stand, tat, als ob ihn das Ganze nichts anginge.
Man lachte und trank einander zu mit furchtsamen Augen:
„Ich bin unpolitisch. Ich habe mich nicht exponiert!“
Aber in der Nacht drückte man den Hut tief ins Gesicht und vergrub die Indizien einer gefährlichen Vergangenheit im Walde. In den Straßen patrouillierte der uniformierte Mob und trieb die Verängstigten wie Hasen vor sich her.
Wo zuerst drei waren, waren jetzt dreißig. Die Geschlagenen gingen zu den Schlägern über. Schrecken verwandelte sich in Begeisterung. Gewalt erzwang Anbetung. Und die Glocken läuteten.“
(Hans Sahl: Die Wenigen und die Vielen. Roman einer Zeit (1959), zitiert nach der Taschenbuchausgabe Luchterhand, Hamburg Zürich 1991, S. 71-72)
(November 2008)