haasis:wortgeburten

 

Elser, Nachträge zur Biographie

Nachtrag Nr. 35

Unbekannte Hintergründe von PETER-PAUL ZAHLs Theaterstück „JOHANN GEORG ELSER – EIN DEUTSCHES DRAMA“ (1982)
und Elsers kommunistischer Freund JOSEF SCHURR

Heute (14. 1. 2005) telefonierte ich mit Hermann Pretsch in Steinenkirch, Ortsteil von Böhmenkirch, bei Heidenheim.

67 Jahre alt, katholischer Pfarrer im Ruhestand, erlitt 1997 einen Schlaganfall, seitdem einseitig gelähmt, also gehbehindert, aber Gedächtnis und Sprache haben nicht gelitten.

Bis zum Ruhestand war er katholischer Anstaltspfarrer von Zwiefalten, auf Kosten der Klinik, weil er nach der Heirat von der katholischen Kirche nicht mehr beschäftigt wurde.

Er schrieb im Ruhestand noch eine Erzberger-Biografie.

Aber jetzt will er seine Ruhe haben, will an keiner Auseinandersetzung mehr teilnehmen. Nach dem Schlaganfall und in seinem Alter müsse man es akzeptieren, dass jemand seine verbliebene Kraft nur noch für das Leben einsetze.

Dennoch sprach er mit mir ohne weiteres genau 51 Minuten (Kontrolle durch ihn selbst am display). Doch dann bat er um die Beendigung, er sei sehr erschöpft.

Er kam 1975 als katholischer Gemeindepfarrer nach Heidenheim-Schnaitheim. Vorher war er Gefängnispfarrer im Vollzugskrankenhaus auf dem Asperg. In Heidenheim wirkte er außerdem als Gefängnispfarrer im neuen Zuchthaus von Heidenheim, das als besonders sicher galt.

Dort waren zu seiner Zeit die Anwälte der RAF inhaftiert, z. B. Croissant. Pretsch führte mit ihnen nur Einzelgespräche, die immer sehr interessant waren. Wohl über diese Schiene (oder über den Zeitungsartikel in der Stuttgarter Zeitung von 1979 ?) wurde Peter-Paul Zahl auf Pretsch aufmerksam.

Zahl verbrachte seinen ersten Hafturlaub bei Pretsch in Schnaitheim, ungefähr 1979 (?). (Damals wurde wohl das Interview mit Josef Schurr gemacht, als Grundlage für das Theaterstück.

Damals waren die Leute von der VVN - (zuerst erinnerte sich Pretsch nicht mehr an den Namen der Organisation, dann benützte er durchgehend den falschen Artikel, den männlichen, was nicht gravierend ist, aber zeigt, wie fern diese Organisation ihm geblieben ist), - die einzigen, die noch von Elser sprachen.

Pretsch beschlich die Befürchtung, wenn man jetzt nichts für Elser tue, werde der vollends vergessen.

Pretsch sammelte ab 1976 Material über Elser. Das Verhörprotokoll war schon veröffentlicht. 1979 veranstaltete er im Heidenheimer Rathaus eine Veranstaltung: 40 Jahre nach Elsers Attentat auf Hitler.
Dazu lud er Peter Stern ein, einen englischen Germanisten jüdischer Herkunft, der in einem Buch ein vorzügliches Kapitel über Elser geschrieben hatte. Pretsch empfand, Stern habe Elser durchschaut.

Diese Veranstaltung wertet Pretsch bis heute als Wende.

Er hatte keine Berührungsängste mit der VVN. Er war ja schon Gefängnispfarrer auf dem Asperg gewesen.

Sein Kollege Kiesel in Stammheim hatte sich als Häftling 5 ½ Jahre im KZ Dachau befunden, einer der vielen katholischen deutschen Priester, von denen man nach dem Krieg nichts mehr wissen wollte.

Als Kiesel aus Dachau entlassen wurde, beschäftigte ihn das Erzbistum (Rottenburg? Freiburg?) nicht mehr weiter, auch nach dem Krieg nicht.

Erst durch einen SPD-Mann bekam Kiesel einen Broterwerb als katholischer Gefängnispfarrer auf dem Asperg.

Pretsch ließ sich von Kiesel das Leben und Leiden in Dachau schildern und erfuhr, dass Kommunisten im Widerstand vorne dran gewesen waren. Im Kalten Krieg wollte man das nicht wahrhaben und isolierte die VVN.

Die überlebenden Priester waren nach dem Krieg isoliert, auch in ihrer eigenen Kirche. Man wollte mit ihnen nichts zu tun haben.

Diese Überlebenden schworen sich nach den ersten Enttäuschungen - als man sie nicht hören wollte und ihnen nicht glaubte, was sie mitgemacht und gesehen hatten und nun erzählten – da schworen sie sich bei einem Treffen, sie würden künftig nichts mehr sagen.

Sie hatten ihren Bischof eingeladen, der aber nicht kam.

Dieser Kollege Kiesel kannte gut die Richter. Die waren ja meistens alte Nazis gewesen. Sie aber hatten Respekt vor ihm, weil sie wussten, dass er in Dachau gewesen war.

Auch Kiesel wollte nichts mehr sagen. Pretsch erfuhr erst viel später, dass Kiesel in Dachau inhaftiert gewesen war.

Pretsch kam in Kontakt mit der VVN, weil er für Elser Zeitzeugen suchte. Die meisten, die Elser noch gekannt hatten, waren älter. Deshalb sprach Pretsch nur mit den Älteren.

Diese Älteren hatten Distanz zum Stalinismus [irrtümliche Erinnerung von Pretsch, wie sich durch Heidenheimer Zeitzeugen ergibt], waren aber weiterhin Kommunisten, bis in die Knochen [!], was man verstehen muss und er auch akzeptierte. Ideologen waren sie nicht. [?]

Wenn bei ihnen jemand ein großes Maul riskierte (die Jüngeren), sagten die Älteren:

„Der soll erst mal durchmachen, was wir durchgemacht haben.“

Mit Peter-Paul Zahl ging Hermann Pretsch (1978?) zu einem alten Freund von Elser, zu Josef Schurr (siehe meine Elser-Biografie). Der war zwar aus der Kirche ausgetreten, aber einst katholisch und aus dem Härzfeld.

So kam das Interview zustande, das Zahl als Grundlage für sein Theaterstück benützte. (siehe meine Biografie, 3. Aufl., Nachtrag)

Die Alten in der VVN, die alten Kommunisten, waren nach Pretsch nicht resigniert, aber sie wussten, dass ihre Zeit vorbei war.

Es herrschte der Kalte Krieg. Für Stalin hatten sie kein Interesse. Von Stalins Säuberungen hatten sie gewusst.

Sie haben sich allerdings nicht offen vom Stalinismus distanziert [!] und sagten einem auch gleich, sie würden Kommunisten bleiben.

Die Jüngeren waren heftig für die DDR. Für sie ging es damals, in der Zeit der Hallstein-Doktrin, auch gegenüber Pretsch, nur um die Frage, ob man für die internationale Anerkennung der DDR sei. Pretsch verweigerte regelmäßig die Antwort.

(Nach einem Zwischensatz von mir über Reinhard Heydrich spann Pretsch den Faden weiter.)

Auf dem Asperg im Krankenhaus lag ein Albert Rapp, einst einer der engsten Gefolgsleute von Heydrich. Hoher SS-Rang. Rapp hatte mit seiner Dienstpistole 1.200 Opfer an dem von ihnen selbst geschaufelten Grab erschossen. Er hatte sich als „aufrechter, anständiger SS-Mann“ verstanden, der die befohlenen Tötungen selbst und mit der eigenen Waffe sozusagen in Handarbeit vollziehen wollte.

In einem berühmten Film über die Judenmorde [Holocaust-Film um 1965? siehe Fachliteratur] zeigte man ihn als Dr. Dorf. - Es war Albert Rapp aus dem Remstal, evangelischer Sohn eines Gymnasiallehrers aus Göppingen.

Als Rapp auf dem Asperg starb, wollte der eigentlich zuständige evangelische Gefängnisgeistliche ihn nicht beerdigen und bat Pretsch, es für ihn zu tun, was dieser auch tat.

Pretsch pendelte also zwischen SS und RAF, was er noch heute für außerordentlich interessant hält.

Als die RAF in den Hungerstreit trat (1977), verlangten die inhaftierten Anwälte, Pretsch solle ihnen Lebensmittel in die Zellen einschleusen. Er weigerte sich.

Dennoch geriet er mehrfach vor den Staatsanwalt. Weil Pretsch zum Schmuggel nicht bereit war und die an ihn geschickten Lebensmittelpakete wieder zurückgehen ließ, verklagten die Absender ihn, er habe alles veruntreut, und bezichtigten ihn ihrerseits umgekehrt der Begünstigung im Amt.

Die mehrfachen Verfahren führten zum Misstrauen des Gefängnispersonals. Die Verfahren wurden allerdings immer niedergeschlagen, so dass es nie zur Eröffnung kam.

Pretsch war 1978 einer der Mitbegründer der Grünen, die erst noch in Ortsgruppen bestanden, bevor sie später einen Bundesverband gründeten. Jetzt will er sich nirgends mehr beteiligen.

Zum Milieu von Schnaitheim: Bei den Landtagswahlen im Jahr 1975 bekam die SPD 63% der Stimmen. Es war ein hochinteressantes Arbeitermilieu.

Auf die Frage, ob gegen Elser bei den Kommunisten Misstrauen geblieben war (siehe der Artikel von Pretsch 1979 in der Stuttgarter Zeitung), wollte er trotz Wiederholung nicht klar beantworten.
(also den alten Artikel heranziehen)

Es herrschte ein allgemeines Schweigen über die alte Zeit, die alten Erlebnisse, auch Pretsch gegenüber.

Bei Schurr schwand das Misstrauen, weil Pretsch Priester war und Schurr sich geehrt fühlte, erstmals von jemandem nach Elser gefragt zu werden.

(Siehe das lange Schweigen von Elsers Freund Rau, obwohl der nicht ein alter Kommunist war.)

Zur Gedenkfeier 1972 und dem Milieu der VVN. Die Jungen waren ziemlich skeptisch gegenüber Elsers Tat und Charakter, sie waren einfach schlecht informiert und hatten nie auf wissenschaftliche Weise Informationen sammeln wollen.

Sie haben nur Schaum geschlagen. Sie kamen nicht damit zurecht, dass ein katholischer Pfarrer über Elser Bescheid wusste. Sie wollten Elser nur für ihre eigenen politischen Ziele benützen, so urteilt Pretsch heute über Gerhard Maier.

Meine Frage, ob Elser 1936 etwas über Hitlers Eingreifen im Spanischen Bürgerkrieg erfahren haben konnte, vermochte er nicht zu beantworten.

Elser habe einfach von sich aus die Kriegstreiberei von Hitler bemerkt.
Nun unterstrich Pretsch diese Vermutung mit Beispielen aus dem frühen katholischen Widerstand in Württemberg. Es sei schon früh bekannt gewesen, was die Nazis mit ihren Gegnern anfangen.

[Dann aber bleibt noch immer ein Sprung bis zum Anzetteln eines Weltkrieges. Vom katholischen Widerstand und seiner Verfolgung führt kein direkter Weg zu Elsers Erkenntnis.]

In Metzingen gab es einen katholischen Pfarrer namens Alois Dangelmaier. Nachdem in Köln im Jahr 1934 (?) die Nazis elf (?) Kommunisten zum Tod verurteilt und hingerichtet hatten, veranstaltete Dangelmaier ein Requiem für diese Toten und predigte gegen die Ermordnung.

Daraufhin wurde er verhaftet. (nach Dachau?)
Auf meine Frage, wo ich das nachlesen könne, verweist mich Pretsch auf die damalige Zeitung.

Ein anderer Fall: Öffingen (bei Fellbach). Dort kam es 1936 bei der Auflösung der Konfessionsschule zu einer Frauendemonstration. Der Geistliche wurde verhaftet, überlebte aber.

In Steinhülben bei Trochtelfingen lebte der katholische Pfarrer Michael Geisert (?). Er wurde schon 1933 fertig gemacht, weil er Widerstand geleistet hatte.

Zur Zeit Erzbergers war das Zentrum ziemlich links und koalierte ohne Probleme mit der SPD. Das wurde erst nach seinem Tod anders, unter Papen. Es gab eine demokratische Tradition des Zentrums. Dort wirkten Leute, die früh die Nazis durchschauten.

Elser hatte eine katholische Großmutter, bei der er in Hermaringen das erste Jahr aufwuchs. Seine eigene Mutter konnte mit ihm zuerst nichts anfangen, deshalb musste das erste Jahr ihn die Großmutter aufziehen.

[Dann ist es aber eine gewagte These, vom ersten Lebensjahr (1903) auf Elsers Fähigkeit zu schließen, die Nazis sehr früh in ihrem Drang zum Weltkrieg zu durchschauen. Hier kommt eher Pretschs Besonderheit zum Zug, überall auf wunderbare Weise den Katholizismus wirksam zu sehen.]

Das hängt nach Pretsch zusammen mit katholischen Bergleuten aus dem Saarland, die in diese Gegend geholt worden waren. Auch seine Großmutter stammte aus dem Saarland. Die saarländischen Bergarbeiter waren ein besonderer Schlag: trinkfest, aber auch kritisch gegen jede Partei.

_______________________________________________________

Meine Bewertung
Auch wenn Pretsch gelegentlich (so nach Zeugen aus seiner späteren Zwiefalter Zeit) als schwieriger Mensch galt, mit dem nicht immer leicht auszukommen war, so enthält doch seine Erinnerung an Zahl wertvolle Bausteine. Selbst wenn nicht alles exakt so gewesen sein muss – das ist grundsätzlich das Problem von Erinnerungen - handelt es sich doch um einen alten Zeitzeugen über das kommunistische Milieu, wie ein katholischer Pfarrer es erlebte.

Hoch schätze ich darüber hinaus seine Kenntnisse der katholischen Widerstandslinie in Württemberg. Davon habe ich bisher wenig gehört. Das ist typisch für das immer noch evangelisch dominierte Geschichtsbild Württembergs.
________________________________________________________

Das Gespräch mit Pretsch führte ich am 14. 1. 2005.
Sofortiges Protokoll am selben Tag, nach ausführlichem Mitschrieb während des Gesprächs mit Hermann Pretsch in Böhmenkirch.

In meinem Privatarchiv findet sich inzwischen das gesamte Elser-Archiv von Peter-Paul Zahl, das er nach Jamaika mitgenommen hat. Darin ein alter, vertraut klingender Brief von Pretsch an Zahl. Pretsch stand dem Elser-Verehrer und Theaterautor Zahl sympathisch gegenüber.


/elser/bio_nachtrag_35.php | anares.org | comenius-antiquariat.ch Samuel Hess 2005