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Elsers Freundin Elsa
acht Stunden im Verhör bei Hitler

Nr. 37

Georg Elsers größte Liebe war eine Schwäbin aus Jebenhausen bei Göppingen: Elsa Härlen. Sie machte das übliche Frauenschicksal mit, durfte keinen Beruf erlernen, das brauche sie nicht, sie heirate sowieso.

Unglücklicherweise traf sie viel zu jung und unerfahren einen schwierigen Mann, der ständig unter furchtbarem Durst litt und weder Sprudel noch Tee schätzte. Obendrein pflegte er den Grundsatz, nicht mehr als zwei Tage in der Woche zu arbeiten und die übrige Zeit zu versaufen.

Sie zog zu ihm nach Königsbronn und musste bald als Textilhilfsarbeiterin Geld verdienen, um ihre Kinder vor dem Elend zu bewahren.

Geboren wurde sie als Elsa Votteler im Jahr 1911, acht Jahre jünger als Georg. In ihrem Unglück hatte sie nur die eine Freude, am Sonntag mit andern auf der Schwäbischen Alb zu wandern. Davon zeugt das einzige Bild, das wir von den beiden besitzen: eine Ruhepause auf einem Kalkstein im Wental oberhalb von Heidenheim, einem malerischen Trockental.

Während zuhause ihr Ehemann seinen Rausch ausschlief, lernte Elsa einen selten warmherzigen Mann kennen, den gerade vom Bodensee zurückgekehrten Georg Elser. Die „verbotene Liebe“ geriet bald unter die Aufsicht der Königsbronner Klatschmäuler, was die beiden Liebenden wenig störte, nur vorsichtig machte.

Was von der Ehe noch übrig war, zertrümmerte der Trinker durch Gewalttätigkeit. Elsa wurde mehr als einmal verprügelt, viele andere Frauen hatten es damals nicht besser.

Elsa war politisch unerfahren, sie passte sich lieber an. Georg hielt es nicht für notwendig, ihr zu befehlen, was sie zu denken und zu tun habe. So blieb sie lange eher angepasst, er schwieg meistens.

Um sie vor Verwicklungen in sein Widerstandsleben zu schützen, erzählte Elser ihr nie etwas von seinen Plänen und Vorbereitungen gegen Hitler. Sein Schweigen wurde ihre Lebensrettung, sonst wäre sie im KZ Ravensbrück gelandet und irgendwann umgekommen.

Elsa blieb unglücklich, gab aber eine Eigeninitiative nie auf. Als Elser ihr aus München im Herbst 1939 nicht mehr schrieb, auch seine Adresse nicht verriet, glaubte sie, er wolle sie nicht mehr heiraten.

Bei der nächsten Heiratschance in Esslingen griff sie zu, sie hatte es satt, als geschiedene Frau dazustehen. So bestellte sie für Dezember 1939 das Aufgebot mit einem Esslinger Arbeiter.

Auch dieses kurze Glück entkam dem Krieg nicht, ihr Mann wurde seit 1942 vermisst, irgendwo umgekommen. Nach dem Krieg heiratete Elsa ein drittes Mal, auch diese Hoffnung starb früh.

Als ein Journalist Elsa Härlen 1959 vier Stunden lang zu ihrem Leben befragte, gab sie ihm in unverwüstlicher Herzlichkeit Auskunft über ihren Georg. Der gnadenlos oberflächliche Journalist hielt das alles nicht für wichtig und fasste ihre Wort bloß knapp zusammen – Schande über diesen Schlamper und Tagdieb.

„Sie fühlte sich sehr zu Elser hingezogen, er trank nicht, er rauchte nicht, er schlug sie nicht. Er war für sie ein ‚Gentleman’. Sie hat in den sechs Jahren nie erlebt, dass er sich je vorbei benommen. Sie lobt Elser sehr. Er war anständig, bescheiden, still, ja wortkarg, sparsam, sehr geschickt und tüchtig. Ihm ging es nie ums Geldverdienen, immer nur um die Befriedigung.“

Diese ungelernte Arbeiterin erkannte Elsers Eigenart viel besser als missgünstige Zeitgenossen. Sie wusste, dass Georg den Hitler absolut nicht leiden konnte. Sie bemerkte, dass Elser innerlich schon lange an etwas herumdokterte, ohne es ihr anzudeuten.

Seitdem sie 1938 „schuldig“ geschieden war, lag ihr vor allem an einer raschen Heirat – nur Elser pressierte es nicht, die Attentatspläne fraßen ihn immer mehr auf. Als Elsa am 15. November 1939 in Jebenhausen von der Gestapo überfallen und wie eine Schwerverbrecherin verschleppt wurde, war sie auf nichts vorbereitet. Erschwerend wirkte, dass die Familie Elsers sie ablehnte, mit einer „schuldig Geschiedenen“ wollten die Elsers nichts zu tun haben. - Rache von Bigotten und Kleinkarierten an einem abweichenden Schicksal.

Die Gestapo in Berlin stürzte sich auf Elsa Härlen, die als höchst verdächtig galt. Elsa wurden gnadenlos und oft ohne Pausen von sieben bis acht Gestapoleuten verhört. Nach alter Taktik von Geheimpolizisten, Nazis wie Stalinisten, erlebte sie auch eine faire, fast freundliche Behandlung durch hohe Naziführer. Solche Widersprüche gehörten freilich zum Terrorsystem.

So wurde Elsa mit dem Taxi in die Prinz-Albrecht-Straße 8 gefahren, wo Himmler zwei bis drei Stunden mit ihr sprach. Ohne Schrecken erinnerte sie sich daran und hielt es Hitler vor, Himmler sei „sehr nett zu ihr gewesen“.

Himmlers Interesse galt Elsers Persönlichkeit, dieser Schreiner war ihm unbegreiflich. Hitlers Parteisekretär Martin Bormann ließ sich Elsa kommen, wenn auch nur für eine halbe Stunde, er verzichtete auf Härte und Brutalität.

Hitler hielt nichts von diesem weichen Kurs, für ihn war Elser ein psychologisches Rätsel, das er mit Gewalt lösen wollte – oder den Gegner zerstören. Anstatt Elsa entgegenzukommen, ließ Hitler eine gewalttätige Atmosphäre inszenieren.

Da kam er aber bei Elsa an die Falsche, sie bewies ihm mit ihrer Geradheit und Hartnäckigkeit, dass ihre Persönlichkeit zu Georg Elser passte. Elsa brach nach den ersten Gestapo-Verhören zusammen, man päppelte sie wieder auf. Die Behandlung änderte sich nicht, sie schien weiterhin die ideale Mitverschwörerin zu sein.

Eines Tages ließ Hitler sie holen, genau vor dem Mittagessen. Vom Luxushotel „Kaiserhof“ aus wurde sie den kurzen Weg zur Reichskanzlei gefahren, nun mit dem Gefangenenwagen, zur Einstimmung in die kommende Demütigung. Kein Taxi wie zu Himmler.

Zwei SS-Männer führten sie durch die endlos langen Gänge der Reichskanzlei, an den SS-Wachen vorbei. Eine Wache riss eine Riesentür auf, Elsa zog es willenlos hinein.

Weit hinten im fast nicht endenden Arbeitszimmer kauerte ein unscheinbarer, kleiner Soldat in feldgrauer Uniform, mit einer Brille über Papier gebeugt – und las und las und las.

Die beiden Wachen rissen die Arme hoch, automatisch, und brüllten den landesüblichen Gruß. Elsa wollte es ihnen gleichtun, das gehörte sich halt, denn da saß er ja, der UNAUSSPRECHLICHE, der HÖCHSTE.

Aber Elsas rechter Arm ging nicht hoch, er wollte absolut nicht. Sie konnte nicht grüßen, dabei hatte sie das wie jede deutsche Frau seit Jahren geübt. Sonst klappte es doch auch, nur hier nicht, vor dem WIRKLICHEN. Im einzigen Ernstfall, der eine Deutsche Frau gewürdigt werden konnte.

Die SS-Begleiter gaben der Elsa Rippenstöße, sie strengte sich an wie am Waschtag oder mit einem Kartoffelsack. Nichts ging hoch, der Arm war gelähmt.

Ein SS schnarrte: „Mein Führer, hier ist DIE FRAU.“ Der ÜBERWELTLICHE hörte nichts, er schwebte jenseitig wo ganz anderes, mit der Brille in Plänen verschwunden. Lange, sehr lange ließ er sich Zeit, bis er gelangweilt aufblickte. Die Brille abnahm. Diese Eingedrungene ungläubig anschaute.

Das also sollte sie sein? Das Bisschen da vor ihm? Die Eine, DIE VERRUCHTE? Die geschlechtliche Beischläferin eines BRITISCHEN GEHEIMAGENTEN? Wie sie es wohl mit dem Bombenleger trieb? PERVERS? Das sicher, aber wie?

Erotische Ersatzhoffnungen durchzuckten das feldgraue Hirn.
Nein, so platt konnte die Lösung dieses Rätsels nicht sein. Er straffte seinen Rücken, schaute strenger. Elsa hatte noch immer nicht gegrüßt, nicht mit dem DEUTSCHEN GRUSS, der nur die Nachahmung des römischen Grußes der Italiener war.

Das Gemurmel des unsittlichen „Grüß Gott“ aus Frauenmund war eine MAJESTÄTSBELEIDIGUNG. So also grüßten die Schwaben noch immer? Das wird anders werden, dalli dalli.

Elsa wurde verzweifelter. Weil sie sich und ihren Arm nicht aufgeben wollte, versuchte sie es mit dem linken, blitzschnell und nur einige Zentimeter. Sie erschrak, denn der linke gehorchte – aber der linke galt nicht, war schon HOCHVERRAT.

Auf einen Wink des BRILLENLOSEN schob sich ein bizarrer Stuhl in die Mitte der Arbeitsarena. Elsa empfand, an dem Möbelstück stimme etwas nicht. War der Stuhl nicht auffallend klein, zu kurz? Sie wollte sich setzen, zitternd ausruhen, aber ihr Gewicht passte dem Stuhl nicht.

War das die Strafe für ihr Versagen? Sicher, anders konnte es nicht sein. Elsa kippte nach rechts, dem gelähmten Arm nach, dem Frevler.

Erschrocken warf sie ihr Gewicht nach links zurück, der Stuhl äffte sie nach und kippte mit nach hinten. Elsa legte sich entsetzt nach rechts rüber, der Stuhl foppte sie nach, das konnte er tadellos.

So ging es mehrmals hin und her. Elsa war so von den ungleich abgesägten Beinen beschlagnahmt, dass sie nicht sah, wie der ÜBERWELTLICHE spöttische Gesichtszüge annahm. Also gegen eine ausgeklügelte germanische Ungleichheit war diese Engländerin hilflos.

Wie leicht man raffinierteste Geheimagenten aufs Glatteis führen konnte. Mal sehen, ob sie sein Englisch überhaupt verstehen könnte.

Elsa bekam langsam den Stuhl in den Griff, sie blieb am besten in der linken Schräglage, schaute auf und erkannte die Freude des SCHMUCKLOSEN hinter dem Schreibtisch. Sie konnte noch immer nicht ganz richtig denken.

Da kluckerte in ihr langsam ein heimlicher Witz hoch, den man nur unter zuverlässigen Freuden zu hören bekam. Dieses zwei Worte genügten, gleich pflegte Heiterkeit zu offenbar, wem das Regime im Innersten nicht gefiel.

Elsa wurde anders, sie lächelte, kicherte zunehmend in sich hinein. Also wirklich, da saß er ja, DER SCHNURRBART AUGUST. Nichts überweltliches, halt nur der Schnurrbart August. Mit der schwarzen ROTZBREMSE. War die unappetitlich beim Essen, da blieb immer was hängen. Und erst recht widerlich das Küssen. Nein, der Schnurrbart August. Den würde sie nicht küssen.

Elsas Verkrampfung löste sich, ihre Gesichtszüge schienen leicht zu lächeln.

Das merkte er, der GEGENÜBER, irritiert, schob den Aktenstapel ruckartig beiseite, hier musste durchgegriffen werden. Kurzer Prozess mit einer Nichtperson, die noch immer mittelalterlich „Grüß Gott“ wünschte – war das im Süden ein Befehl?

Der PAPIERGOTT löste die Spannung, gut inszeniert, wie er es mit einem Schauspieler für die Massenversammlungen geübt hatte. Das einfache Volk ließ sich leicht beeindrucken, entscheidend waren die Pausen am richtigen Platz und die Steigerungen - im Tempo, in der Lautstärke, in der Selbstüberschätzung.

„So?“ Der JENSEITIGE konnte reden. Von ganz weit oben herunter. Elsa sollte überrumpelt werden, demütig vor ihm zusammensinken, nieder zu Staub. Elsa blieb mit ihrem Gleichgewicht beschäftigt und freute sich an ihren zurückkehrenden Geisteskräften, langsam kam das Denken zurück.

„So?“ Wieder Pause, kürzer. „Sie sind also die Frau von dem da, dem Elser?“

Elsa wollte sagen, sie sei nicht mit ihm verheiratet und habe sich für einen andern entschieden. Elser war ihr in München verschwunden, unauffindbar verschluckt in einer fernen Stadt.

„Erzählen Sie mal!“ Und Elsa wiederholte fast wörtlich, was sie am Tag vorher Himmler erzählt hatte. Wie freundlich, menschlich Elser ihr begegnet sei. Immer hilfsbereit, immer liebenswürdig. Trank keinen Alkohol, rauchte nicht, prügelte sie die ganzen sechs Jahre nicht, die sie ein Paar waren. Ein fleißiger Schreiner, Bastler in seiner Freizeit, ein rastloser Erfinder und gescheit, blitzgescheit.

Elsa merkte kaum, wie der hinter dem Schreibtisch zusammenzuckte und sich duckte, wie vor einer höheren Macht.

Elser sei immer hinter einem technischen Problem her gewesen und habe nicht nachgegeben, bevor er es nicht gelöst hatte. Und alle, die ihn gut kannten, wussten, der werde auch diese technische Frage lösen. Sein Bastelkeller war sein heimliches Reich.

Der hinterm Tisch schoss hoch. „Hat er ihr nicht englisches Geld gezeigt? Papiergeld mit dem englischen König George?“

Elsa verstand nicht, wozu Elser englisches Geld haben sollte.

„Aber ich weiß es, das reicht. Hat er nicht von England erzählt, dass er es dort besser haben könnte?“

Aber nein, sie sprachen nur davon, wie sie es zusammen besser hätten, sie wollten heiraten, wenn ihm in München etwas Wichtiges gelungen sei, sie könne dann darüber in der Zeitung lesen.

Der hinterm Schreibtisch zuckte, fuhr auf und warf seinen schweren Polsterstuhl um. „Hat er nie angedeutet, dass er es besser haben würde, wenn er den Führer heimtückisch ermorden hätte?“

Elsa befremdet: so was hätten sie nie gesprochen. Daran dachte niemand, in ganz Königsbronn nicht. Das könnten alle dort bezeugen, dass man davon nicht einmal träumte.

„Hatte er nicht in letzter Zeit auf einmal ganz unerklärlich viel Geld in der Tasche?“

Elsa verstand nicht, Geld habe er nie so in seiner Hosentasche herumgetragen, das sah Elser nicht gleich, der war achtsam.

„Aber ich weiß es, er hatte zuletzt auf einmal viel Geld, zu viel, auch in München. Das sagen mehrere Zeugen, die kann ich auftreten lassen, mit einem Knopfdruck.“

Der Allwissende drückte auf die Unterseite an der Kante seines Schreibtischs, was für Elsa unverstanden blieb.

„Also geben Sie es schon zu: Wann haben Sie ihm das letzte Mal geschrieben?“

Elsa wusste nichts genaues, aber der Ton kam von weit hinten hinterhältig zu ihr. Aufpassen! Ach ja, gleich am Anfang hatte sie ihm geschrieben, hastig, gleich zweimal nacheinander, postlagernd. Sie hatte ja seine Adresse nicht, bekam sie nicht, obwohl sie ihn darum anflehte. Sie wollte endlich heiraten, und wohin er wollte, da wollte auch sie hin. Nur weg von Königsbronn, wo sie als Schlampe galt, die den Elser verführt habe.

„Endlich gibt sie zu, dass sie geschrieben hat.“

Der Schreibtisch richtete sich auf, höher und höher. Er hatte es doch gewusst, sie war leicht zu kriegen, eine einfache Schwäbin. Nichts gelernt – grad wie er, aber er war jetzt der Chef, sie ein Nichts, gnadenlos seinen Händen ausgeliefert.

Er begann sie zu massieren, diese gierigen Hände. Nebenher machte er sich über sein Essen her, das man ihm auf den Arbeitsplatz geschoben hatte. Gemüse und noch mal Gemüse und Salat und Ersatzkaffee aus Zichorien, echten Kaffee trank er nicht, wegen der Weltanschauung.

Er hing tief, wenig appetitlich, über seinem Gemüseteller, die Ellenbogen breit um den Teller vorgeschoben. Gelbe Rüben, Kartoffeln, Rote Rüben, Schnittlauch, geriebenen Käs, Petersilie, dazwischen einige Tropfen Honig, läufrigen aus dem Schwarzwald.

Das musste man den Schwaben lassen, dieser dunkle Tannenhonig war betörend, lange konnte er da dran schlecken, mit einem extralangen schmalen Löffel.

Elsa knurrte der Magen, nicht zum ersten Mal. Als jemand in ihr Zimmer gerufen hatte „Frau Härlen zum Führer!“, schöpfte sie gerade Suppe in ihren Teller. Griesklößchensuppe, himmlisch.

„Kein Aufschub, sofort zum Führer. Das Essen wartet, wenn der Führer ruft.“

Was war das Gegenüber dort hinten für ein Kerl? Lässt ihr kein Essen bringen. Zufall? Der schmatzte vor sich hin und schlang das Verkochte in sich hinein, ohne aufzublicken. Er schien sie vergessen zu haben, ihr Magen fühlte sich im Stich gelassen. Die Glieder wurden ihr schwach, von den Oberarmen bis in die Knöchel am Fuß ein Fluss von Schwächegefühl. Wenn sie jetzt wenigstens nicht aufstehen musste.

„Wann hat er ihr zuletzt geschrieben?“ Der SCHMATZER blickte kurz hoch, missbilligend, wie man es wagen konnte, seinen Gemüsebrei zu unterbrechen.

Nie habe Elser ihr geschrieben, das sei ja ihre Hauptklage gewesen, die ganzen drei, vier Monate lang. Nicht mal eine Postkarte, wenigstens eine einzige. Seine Adresse habe sie nie bekommen, nur „postlagernd“. Wohnte er vielleicht gleich bei der Post? Sie habe niemand in München gekannt, der nach ihm suchen konnte. Er habe sich vor ihr versteckt. Dann werde er am Ende eine andere gehabt haben. Beliebt war er ja bei Frauen. Kein Wunder, so ein hübscher Wuschelkopf. Ein Künstler war er, mit kleinen, feingliedrigen Händen, noch kleiner als ihre eigenen.

Das Essenstablett glitt zur Seite, die Rotzbremse wurde gesäubert, nur grob, die vor lauter Novembernebeln laufende Nase hochgezogen.

Ein Ekel, dachte Elsa. „Was hat er ihr von seinen Plänen im Bürgerbräukeller gesagt?“

Nichts habe sie gewusst, von allem nichts – und sie glaube nicht, dass er es getan habe, wenigstens nicht allein.

„Aha, wenigstens!“ Der rechte Arm schoss siegreich in die Luft und donnerte auf den Schreibtisch herunter, als Faust. Sie schien gefangen.

Das sei ja für einen einzelnen Schreiner viel zu viel, so einen großen Saal zum Einsturz zu bringen, so gründlich, wie man es ihr auf Fotos gezeigt habe. Dafür könne sie nichts.

„Was?“ schrie der gesättigte Gemüseteller auf und sprang angriffslustig hoch. „Sie kann nichts dafür? Wer denn sonst? Das deutsche Volk etwa? Das treue? Wir wissen alles.“ Der Uniformierte ging in Lauerstellung, wie wenn er ein Kaninchen anschleichen wollte. „Woher hat sie das mit dem postlagernd gewusst?“

Eine einsilbige Postkarte habe er geschrieben, das schon, sie solle ihm nur postlagernd schreiben.

Ein Wutgeheul neben dem leeren Teller. „Ich hab sie überführt, sie wusste alles – und mich“ – der kleiner werdende GIFTZWERG strahlte wie ein Mondkuchengesicht, voller Triumph – „mich wollte sie an der Nase herumführen. Sie hat es selbst zugegeben, sie wusste aus seinen Briefen das mit dem postlagernd und seine Ziele, mit ihr in die Schweiz zu gehen und dort die Geldbelohung der Engländer zu verprassen.“

Elsa war zuerst vor den Kopf gestoßen. Als der Krakeeler sich weiter aufplusterte, sie habe alles zugegeben, sie solle noch mehr sagen, schüttelte sie sich, schüttelte ihren Kopf und brachte langsam, aber fest hervor: Nein, davon habe sie nichts gesagt.

„Was, sie will mich einen Lügner nennen?“

Elsa blieb bei sich, auch das Wort Lügner habe sie nicht gebraucht, ja nicht einmal gedacht, obwohl es ihr fast hätte einfallen können, wie sie hier behandelt werde, beim Herrn Polizeipräsidenten Himmler sei der Ton viel netter gewesen.

Ein wenig geschrumpft schluckte der Schreihals leer und klingelte nach einem Tee, seiner mittäglichen Zwischenmahlzeit. Ein SS-Mann brachte den Tee samt einem Stück Linzertore, fragte mit einem Blick zu Elsa, ob die da auch was bekäme?

„Nein, sie ist verstockt, so jemand braucht nichts, ich verwöhne nicht Leute, die mich Lügner heißen.“

Elsas Magen rebellierte, drückte schmerzhaft nach unten, kurz wurde ihr schwindelig, hoffentlich würde sie nicht wieder umkippen.

Der Giftzwerg schlurfte seinen Kräutertee und biss ohne Aufmerksamkeit auf der Torte herum, mit aufgestütztem Ellenbogen.

Elsa schaute lieber nicht länger hin. Wo war sie hingeraten? War das wirklich der Reichskanzler? So ein blöder Schreikopf, ohne Benehmen. Oder ein Knecht, der hier nur den Schauspieler machte?

Sie schaute sich vorsichtig im Saal um, ob irgendwo ein Bild von ihm hinge. Nein, also dann war er es doch selbst. Wie konnte man auf den bloß so lange Jahre hereinfallen?

Am ehesten begriff man diesen Kerl, wenn man den eigenen Verstand benützte, dann konnte man sich von seinen Taschenspielertricks losmachen. Sie erinnerte sich an Elser, der ihr wenigstens zwei bis drei Mal fest und laut erklärt hatte: „Schau doch bloß diesem Schwerverbrecher ins Gesicht!“

Jetzt tat sie’s entschieden, schaute den Sesselfurzer an, wie widerlich er an seinem Kuchen herumnagte – und ihr noch immer nichts zum Essen kommen ließ. Bildete der sich womöglich ein, er könnte sie durch Hunger umschmeißen? Sie lächelte in sich hinein. Das konnte er mit Elsers Freundin nicht machen, da musste er früher aufstehen.

Nun, da stand er tatsächlich auf und ging wortlos hinaus. Wahrscheinlich muss er pinkeln. Da drückte es auch bei ihr, aber an der Tür wurde sie festgehalten, sie dürfe nicht, müsse warten, bis der Führer es erlaube.

Aber sie müsse dringend. Die SS schnarrte ungerührt: Später.

So schlich der Nachmittag vor sich hin. Weiter kam hinter dem Schreibtisch immer wieder eine Attacke, dass sie doch mit diesem oder jenem Wörtchen beweise, alles gewusst zu haben, sie habe es gleich anfangs zugegeben. Warum sie so hartnäckig leugne? Ob sie nicht wisse, vor wem sie sei?

Elsa hielt noch klarer dagegen, nicht mal Himmler und Bormann hätten sie so angefahren und zu verwirren gesucht. Elsas kleine Erleichterung wischte der Feldgraue mit einer verächtlichen Handbewegung weg. „Die zählen hier nicht. Ich schwebe über allen.“

Elsa entfernte sich mehr und mehr aus dem einst übermächtigen magischen Einfluss, der Kerl da vorne war nichts als der Schnurrbart August. Ein Kasper und nicht mal ein lustiger, sondern ein griesgrämiger Wortklauber.

Ihre befreiten Augen suchten den Saal ab und blieben an einem kleineren Ölbild hängen. Sie erkannte es nicht genau, beugte sich vor und kniff ihre Augen zusammen. Der Misstrauische merkte es lange nicht, dann fühlte er sich gebauchpinselt, also auch sie war von dem überweltlichen Gemälde gefangen?

„Kennen Sie das tiefgründigste Gemälde der abendländischen Kunst? Nein? Sollten Sie kennen lernen. Es ist von dem Schweizer Arnold Böcklin. Das ist das deutscheste Bild von allen Gemälden der Welt, jawohl.“

Er ging an die Wand, hing es ab, setzte sich wieder weit hinten hin, stellte es vor sich so auf, mit der bemalten Fläche zu ihr:

„Das kenn ich im Schlaf, davon träum ich oft. So werd’ ich einmal enden. Der Charon, der Fährmann in der griechischen Sagenwelt, wird mich übers Meer zu meiner Toteninsel fahren. Aber erst, wenn mein Lebenswerk, die Befreiung Deutschlands und Europas, erfüllt und die jüdische Rasse endgültig vertilgt ist.“

Elsa fühlte sich unwohl. Der da hinten verehrte also seinen eigenen Tod, mitten in einem noch kommenden Blutbad an den Juden? Betete er womöglich den Tod an? Freute sich am Bild seiner eigenen Totenfahrt?

Die Zypressen links und rechts der Gräber mochten noch angehen, aber diese schwülstigen Grabkammern in den Felsen? Der im Sarg dorthin gefahren wurde, hob der nicht langsam seinen Kopf hoch, über dem Schreibtisch oder aus dem Sarg?

Das konnte Elsa nicht deutlich unterscheiden, die beiden Spukwelten flossen ineinander über. Der weiße Hohepriester beugte sich zu dem heraufkommenden Kopf herab und segnete ihn. Der Tote sollte zur Gräberinsel gefahren, sein Sarkophag in eine Nische hoch oben hineingeschoben werden.

Aber der wollte noch nicht, der Hohepriester suchte ihm aufzuhelfen, es ging nicht, zu schwer. Die Leiche schien von einer schweren Schuld niedergedrückt. Die Bewegungen beider brachten den Nachen ins Schwanken, der Ruderer warnte, glich aus, so gut es ging.

Vor Elsas Augen nahm das Unglück seinen Lauf, während der Chef dieser Kanzlei weiter das Bild erklärte und seine Verewigung feierte.

Elsas Augen sahen weiter. Im Augenblick, als die beiden mit dem Boot umkippten, war sie sicher, dass der Schnurrbart August in den Fluten versinke. Der hinterm Schreibtisch erkannte indes, dass die englische Beischläferin des schwäbischen Schreiners nicht zu besiegen war, ihre entspannten Gesichtszüge gaben sich zufrieden. Sie musste etwas gesehen haben auf dem Bild, das er nicht kannte. Oder war sie entflohen?

Der am Tisch legte das Bild angewidert zurück, es sollte nicht entheiligt werden durch den Wutanfall, der jetzt endlich an der Zeit war.

„Hat sie verstanden, dass ich alles weiß? Meine Zeit ist noch nicht vorüber. Sie verschweigt mir etwas, ich spüre es genau, sie verschweigt mir das Entscheidende. Ich will es herausholen. Der feige Mordbube aus Königsbronn hat gestern alles gestanden, ich hab das Protokoll selber gelesen. 40.000 Mark habe er von englischen Agenten empfangen, um den Sprengstoff im Bürgerbräukeller einzubauen. Was wollten die Beiden damit machen?“

Elsa verstand nichts. Die beiden Umgekippten kehrten soeben an die Oberfläche zurück und quälten sich in das Boot hinein. Wie kam es nur, dass der Tote sich so leicht ins Boot hineinzuwälzen verstand?

Wer würde diesen Kriegstreiber am Schreibtisch endlich reif machen für die Toteninsel? Der Georg hatte es nicht geschafft, offensichtlich – falls er es überhaupt gewesen war.

„Ihr wolltet in die Schweiz und heiraten? Da staunt sie, gell? Ich weiß alles, meistens mehr als meine Kriminalpolizei. In welchem Ort wolltet ihr ein neues Leben anfangen? eine Wohnung mieten? Möbel kaufen? frische Bettwäsche überziehen?“

Elsa schüttelte den Kopf, das war nicht ihre Welt. Das war eine verrückte, der Kerl hinterm Schreibtisch hatte nicht alle Tassen im Schrank.

„Sie hat selbst gesagt, dass sie nach der schrecklichen Tat von München mit ihm in die Schweiz auswandern wollte. Damit ist bewiesen, dass sie in alles, was mit diesem Mord zusammenhing, eingeweiht war.“

Sie sah ihn in den Sarkophag einsteigen, der voll mit Wasser war. Eine Welle schwappte heraus, als die Leiche vom weißen Hohepriester hineingedrückt wurde. Elsa hatte genug, der war erledigt, sie raffte sich auf, der Spuk verflog.

„Nein, mein Führer“, rief Elsa so entschieden, dass sie kurz über sich selbst erschrak. „So war das alles nicht, Sie drehen mir jedes Wort im Mund herum. Das hab’ ich alles nicht gesagt.“

Elsa zog sich innerlich zurück, an diesen Ort gehörte sie nicht. Und so entging ihr, wie sich jenseits des Schreibtisches ein Donnerwetter anbahnte. Der ENTZAUBERTE fing mit den Oberlippen an zu zittern, pumpte Luft, hob die Brust, schnaufte stärker und blies die Luft immer hörbarer durch die Nase aus.

Dann brach er los, sprang hoch und schritt mit Siebenmeilenstiefeln durch den Saal.

„Was erlaubt sie sich? Weiß sie überhaupt, in welchen heiligen Hallen sie sich befindet? Vor dem Retter des Deutschen Volkes, der das Versailler Schanddiktat zerschmettert und Deutschland erlöst hat, gibt es nur eines: Gehorsam und nochmals Gehorsam. Demütig, absolut, bedingungslos. Ja, so viel Misstrauen und Unverschämtheit und Bosheit hat sich nicht mal einer meiner Generäle je erlaubt. Solche Frechheiten haben diese Räume noch nie hören müssen.“

Und er rannte zum Ende des Saales und wieder zur Tür vor. den Teppich stieß er wütend mit den Stiefeln weg, blieb vor ihr stehen und brüllte: „Nicht einmal ein General ist mir je so frech gekommen.“

Elsa blieb ruhig, es war für sie aus, der Scharlatan war entlarvt. „Wache, die Frau raus!“

Unterwegs schlug auf den langen Gängen der Hunger zu. Vor der Reichskanzlei lag Dunkelheit, seit langem. Am Ausgang schaute sie verwundert, fast ungläubig auf eine große Wanduhr.

Es war acht Uhr abends, der Schnurrbart August hatte sie geschlagene acht Stunden festgehalten, ohne Ausruhen, ohne Essen, selbst ohne ein Getränk.

(Dieses Kapitel wurde ausgeschieden aus der beim Klemm-Verlag, Ulm, erscheinenden Elser-Biografie.)

Die Quellen zu diesem Kapitel stammen aus verschiedenen Archiven und sind genannt bei Hellmut G. Haasis: Den Hitler jag ich in die Luft. Der Attentäter Georg Elser. Vollständig neu vom Autor überarbeitete Ausgabe, Hamburg, Nautilus, 2009, S. 373f. Es wurde wenig beachtet, dass ein Original von Arnold Böcklins schaurigem Bild „Toteninsel“ in Hitlers Reichskanzlei hing und mit ihm unterging. Böcklin hatte mit seinem Bild so starken Anklang gefunden, dass er fünf Originale gemalt hatte, jedes nur wenig abweichend.
HYPERLINK "http://de.wikipedia.org/wiki/Die_Toteninsel" http://de.wikipedia.org/wiki/Die_Toteninsel

 


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