Wladimir Krutthofer:
GEORG ELSER - Eine moderne Einführung mit
surrealistisch zupackenden Grafik-Collagen
Hellmut G. Haasis: Georg Elser.
Ein schwäbischer Kriegsgegner. 2012.
Moskau, 11. Juni 2012
Als ich soeben das neue Elser-Buch erhielt, dachte ich zuerst, ich wüsste doch so ziemlich alles über den fähigsten Hitler-Gegner. Aber schon das 1. Bild in diesem neuen Buch, eine Zeichnung des Königsbronner Künstlers Karl Krauß aus Elsers letzten Jahren, zeigt eine wunderbare Seitenansicht des schwäbischen Schreiners.
Ich kann nicht sagen, dass ich in der russischen oder sowjetischen Kunstgeschichte eine ähnlich eindrückliche Seitenansicht eines Handwerkers gesehen habe. Und gar noch von einem Deutschen.
Erfreulich ist, dass der produktivste Elser-Biograph ein knapperes Werk riskiert hat. Er hat ein Gespür für Anfänger, die mit seiner 400-Seiten-Biographie sich schwer tun.
Der Schwerpunkt liegt nicht mehr auf der Explosion des kunsthandwerklichen Sprengapparats, sondern auf Elsers Friedenssehnsucht.
In Übereinstimmung mit einer Aussage des Berliner Kripochefs Arthur Nebe betont Haasis die verheerenden Hungerjahre von Elser mit seinen hilflosen Geschwistern während des Ersten Weltkriegs. Die Traumatisierung durch vier Jahre Hunger nimmt Haasis ernster als bisher alle Elser-Forscher.
Es gefällt uns in Moskau zuerst einmal nicht, wenn Haasis herausarbeitet, dass Elser gar kein Kommunist war. Früher hätten wir so etwas nicht mal lesen dürfen, das Buch wäre sofort verschwunden.
Wir lernen Elser kennen als einen libertären Sozialisten. Einen Menschen, der wohl liebend gerne zusammen mit anderen und ohne Kapitalisten wirtschaften würde – und natürlich auch ohne Parteibonzen. Elser bleibt bei aller Radikalität libertär, was bedeutet: Er zwingt niemandem seine Ansicht auf.
Mit dem für ihn typischen Augenmerk auf die Mentalitäts- und Verhaltensgeschichte vermag Haasis Beispiele aus Elsers Leben zu finden. Die Parteileute haben diese Details gleich unter den Teppich gekehrt.
Durch neue Quellen über Stuttgarter Gestapoleute, die von Elsers Verhör wussten, erfahren wir, dass die Berliner Gestapo von Anfang an Elser als Funktionär der KPD und Befehlsempfänger der Moskauer Zentrale abzustempeln suchte. Das ist ihr nicht gelungen.
Der Autor freut sich, wie Elser im Verhör der Gestapo eine Niederlage beizubringen vermochte.
Und nicht nur in diesem Punkt. Die Einführung wird durchzogen von völlig neuen Aspekten, das Protokoll enthält viele heimliche Erfolge Elsers. Die Gestapo sollte auf Hitlers Befehl beweisen, dass Elser ein Agent des englischen Geheimdienstes war. Übrigens hätte damals darüber auch unsere Sowjetführer gefreut.
Alle hatten Pech, wir gönnen es ihnen. Elser wählte nur aus Gründen der Sozialpolitik die KPD, während er am Parteileben nicht teilnahm. Das viele Schwätzen war ihm zuwider. - Da spricht er mir aus dem Herzen.
Die Nadel des Rotfrontkämpfer Bundes, die Elser beim Übergang in die Schweiz angesteckt hatte, besagt nicht, dass Elser an Waffenübungen für einen Umsturz mitmachte.
Elser hatte daran kein Interesse, er wusste, dass so etwas weit außerhalb seiner Möglichkeiten und seiner Kampfmethoden lag.
Haasis ist es weiter gelungen, durch eine von ihm entdeckte Quelle über die Konstanzer SA nachzuweisen, wie langsam und durchaus verhinderbar die Nazis seit 1925 aufgestiegen sind.
Hier spricht er der älteren Generation der Russen aus dem Herzen: Das deutsche Bürgertum hätte es in der Hand gehabt, die Machtergreifung dieser Massenmörder zu verhindern.
Damit sticht Elser noch heller als bisher von seiner deutschen Umgebung ab.
Mit Genugtuung lese ich, wie der Autor Elsers Familie in den zermürbenden Verhören bei der Gestapo als tapfer, ehrlich und aufrecht herausarbeitet.
Haasis gibt zu, dass er nicht weiß, woher das kommt, aber er setzt dieser gequälten Familie ein Denkmal, das bleibt.
Als ich zu der Stelle kam (S. 91), wo im Jahr 1966 ein Prager Journalist von einem tschechischen Attentatsversuch gegen Hitler im Jahr 1939 schreibt, konnte ich es mir nicht verkneifen, meine Arbeitsgruppe in der Akademie damit zu erheitern.
Was haben wir uns auf die Schenkel geklopft: Der alte Spitzbub und Schwankerzähler Jaroslav Hasek lebt noch.
Was hatte Haasis in einem tschechischen Buch gefunden, von der KP kontrolliert? Ein Prager Rundfunkjournalist schrieb mit vollem Ernst, eine Prager Gruppe der „Obrana Naroda“ (Nationale Verteidigung) habe 1939 tatsächlich mit Installateuren eine Höllenmaschine konstruiert.
Als der Apparat fertig war, hätten sie ein Fest gefeiert, alle ließen sich als Helden fotografieren.
Haasis hat völlig recht, darin einen Schwank zu sehen. In den sonst so langweiligen Hallen unserer Akademie riefen wir:
„Die Prager sind lustige Leut, zu allem fähig.“
Wir müssen bald mal wieder an die Moldau reisen. Große Spaßvögel. Die hoch gefährdete Führung des nationalen Widerstands bastelt unter vielen Augen mit Handwerkern eine Sprengvorrichtung gegen Hitler.
Wie wenn die Prager Gestapo ein Freizeitverein für Schnarcher gewesen wäre.
Das Foto von 1939 konnte der Journalist natürlich nicht zeigen – denn die ganze Geschichte hat es nie gegeben. Nichts als eine Ente eines geschwätzigen Journalisten. Der Soldat Schweijk schlummert ewig an der Moldau.
Aber inmitten der vielen Morde ist so ein Märchen auch tröstlich. Wir haben den letzten Schluck unseres Bieres auf die nie existierenden, aber rundherum fröhlichen Prager Hitler-Attentäter getrunken.
Seinen Weg zu neuen Einsichten krönt Haasis mit zwei absolut neuen Kapiteln: „Was war Elser für ein Mensch?“ + „Hätte Elser Erfolg gehabt – was wäre der Menschheit erspart geblieben?“
Bei Elsers Persönlichkeit konnten meine Akademie-Kollegen noch zustimmen. Elser war kein roter Arbeiter, der der Partei folgte und die Kapitalisten am liebsten auf der Stelle vernichtet hätte.
Er war ein fleißiger, seinen Beruf liebender Handwerker, der mehr als jeder Arbeiter Eigenverantwortung liebte, der Leben wie Arbeit selbst in der Hand behalten wollte. Kein nach materiellen Dingen strebender Prolet.
Nein, eher ein Künstler, ein großer Menschenfreund, gewaltlos, doch beim drohend heraufziehenden Weltkrieg panisch erschrocken und auf einmal bereit zur äußersten Gewaltmaßnahme: Er will 40 oder 50 oder noch mehr hohe Nazis in München unter der einstürzenden Decke des Bürgerbräukellers begraben.
Als ich meinen Kollegen das Schlusskapitel vortrug, schüttelten sie missbilligend ihre grauen Häupter. Da ging ihnen der deutsche Kollege Haasis doch zu weit.
Was? Der Krieg wäre nicht mehr weiter gegangen, wenn Hitler und alle potentiellen Nachfolger tot gewesen wären? Die Krankenmorde von 1940 hätten nicht statt gefunden? Und der Hammer: Die Nazisarmee wäre 1941 nicht in die Sowjetunion eingefallen?
Ja dann sind wir ja gar nicht mehr notwendig? Kein großer vaterländischer Krieg gegen Hitler? Nein und nochmals nein, diesen heroischen Krieg lassen wir uns nicht nehmen.
Einer schrie: „Wir wollen unsere Toten behalten. War alles umsonst – oder nur eine peinliche Folge davon, dass Hitler 13 Minuten vor Elsers Explosion abreiste?“
Haasis sagt hübsch zugespitzt, von seinem Ansatz her durchaus stimmig:
„So hätten viele Millionen Soldaten aller Völker nicht zu sterben brauchen. Und die Truppen der westlichen und östlichen Alliierten hätten sich nie an der Elbe getroffen, die Spaltung Europas in Ost und West hätte es so nicht gegeben, der Kalte Krieg hätte den Kontinent nicht so scharf zerrissen. Damit wäre auch die Verelendung Osteuropas nicht gekommen, die erst unter der wegen Hitler erstarkten Diktatur Stalins entstand.“ (S. 112)
Da haben wir in der Akademie alle erst mal tief durchgeatmet. Was für eine Wucht steckt in dieser Sicht.
Die meisten meiner Kollegen waren spontan empört, sie glaubten, Haasis habe keinen Respekt vor der Sowjetmacht und der Leistung der sowjetischen Völker und vor ihren Leiden. Der nimmt uns wohl auf den Arm?
Ein paar Tage später wurden die Stimmen nachdenklicher. Die meisten rangen sich zu einem Stoßseufzer auf:
„Schön wäre es gewesen, Wunderschön ist diese völlig neue Sicht. Der deutsche Schreiner Georg Elser wird immer reizvoller.“
Recht gaben alle dem Schluss des Buches, dass der Schreiner als Widerstandskämpfer weit höher einzuschätzen ist als der Putschversuch vom 20. Juli 1944.
Vielleicht ist es möglich, dass Haasis einmal eine ganz neue, radikalkritische und quellengestützte Sicht des dilettantischen Unternehmens adligen Generalstäbler vom 20. Juli 1944 schreibt?
Er wird sich bei den Konservativen aller Länder nicht gleich Freunde machen, aber das war ganz offensichtlich auch nie sein Lebensziel.
Zuletzt zum kunstgeschichtlichen Wert der Grafik-Collagen. Da tritt mit dem Grafiker Uli Trostowitsch (Wuppertal) ein großes Talent in die Buchwelt ein. So was hat es bei uns früher nicht gegeben – und noch heute ist es in einem so ernsthaften Buch undenkbar.
Der Grafiker, auch er ein kreativer Schwabe, wirft mit einem computer-gesteuerten Surrealismus mitreißende Bildinterpretationen von Elser und seiner Tat aufs Papier.
Zu den besten Collagen gehört für mich der Bahnhof seiner Heimatstadt Königsbronn, wo Elser über die Gleise Richtung München schreitet, ein weiblicher Tod im Hintergrund und rätselhaft ein großer Fisch ohne Wasser am Himmel (S. 48). Das gibt zu denken.
Diabolisch, wie Hitler mit seiner berühmten Rednergeste den Untergang herbeischreit, hinter ihm brennt eine Stadt, apokalyptische Reiter fliegen am Himmel dahin. Trostowitsch verändert kreativ keinen geringeren als den alten Albrecht Dürer (S. 61).
Die für mich liebste und zugleich schmerzvollste Collage: im unteren Drittel der Grafik ein Foto von der ersten Deportation Stuttgarter Juden 1941, nach hinten übergehend in ein berühmtes Foto: als schemenhafte Kulisse die Eisenbahneinfahrt nach Auschwitz.
Dazwischen Hitler mit einer tödlichen Sense. Der apokalyptische Reiter als Tod bringende Fledermaus (S. 111).
Absturz der apokalyptischen Bildidee, kein Dürer mehr.
Weiter so. Solche Collagen vermögen den Inhalt des Buches aufs eindringlichste zu vertiefen. Hier eröffnet uns der Surrealismus einen Weg zur großen Geschichte.
Hellmut G. Haasis: Georg Elser. Ein schwäbischer Kriegsgegner.
Eine Einführung mit Grafiken von Uli Trostowitsch.
ISBN 978-3-86281-043-7. Klemm+Oelschläger, Münster und Ulm 2012.
120 Seiten, mit sehr vielen zeitgenössischen Fotos und neuen surrealistischen Grafik-Collagen.
Wladimir Krutthofer
geb. 1944 in Moskau, Kunsthistoriker, promovierte über Tilman Riemenschneider. Nebst Kunstgeschichte betreibt er seit einiger Zeit erste Elser-Forschungen.