haasis:wortgeburten

 

GEORG ELSER


Das Gerücht vom „einfachen Schreiner“
Gedenkrede 9. April 2006 am Stein
in Heidenheim-Schnaitheim
von Hellmut G. Haasis

 

Elser fehlten am 8. November 1939 genau 13 Minuten und er hätte die Welt von Hitler befreit.

Spekulieren wir kühn: Hätten die Deutschen Elsers Befreiungstat anerkannt? Ich befürchte: Nein. Besoffen, wie sie vom Sieg im Polenfeldzug waren, hätte auch ein gemäßigtes NS-Nachfolgeregime Elser als Vaterlandsverräter angesehen und erneut vom „Dolchstoß“ gefaselt.

Also war es besser so, wie es kam? Musste das aufgehetzte Volk Millionen erschlagen und alles in Scherben verwandeln, bis es endlich selbst Hitlers Weg begriff? Das war die Meinung eines Teils der 20. Juli-Leute (z. B. Adam von Trott zu Solz).

Elser, der Holzarbeiter, war viel intelligenter: Hitler muss weg, je früher desto besser. Jeder Tag früher rettet Tausende Menschenleben.

Wie kam Elser zu dieser klaren Sicht? Ihm fehlte die Einstiegsdroge in die Naziwelt: die deutschnationale Grundlage. Elser wuchs in einer schwer arbeitenden, im Ersten Weltkrieg verarmenden Familie auf. Seine ganze Sehnsucht galt dem Traum: So was will ich nie mehr erleben. Das dachten auch Millionen anderer. Aber als der „Strolch von Braunau“ (Joseph Schurr, Schnaitheimer kommunistischer Freund von Elser) die Register der Verhetzung zog, wurden die Hirne weich.

Elsers Hirn nicht. Warum? Er war 1925 nach Konstanz an den Bodensee übergesiedelt, Hochburg des Zentrums, aber unfähig zum Widerstand. Er kam in einer Uhrenfabrik unter, im Milieu von Holzarbeitern: traditionell Rote. Er las kommunistische Zeitungen, die bald schrieben: Hitler bedeutet Krieg.

Elser erlebte 1931-32, wie die Konstanzer SA die Straßen und Versammlungssäle eroberte. Soeben kam aus einem SA-Erbe eine einmalige Broschüre ans Tageslicht, die den Triumph der braunen Schlägerbanden herausstellte.

Schon ab 1933 suchte Elser nach Wegen, Hitlers Marsch in den Krieg zu stoppen. Jeder andere Zeitgenosse hätte vor dieser Wahnsinnsaufgabe die Segel gestrichen. Der Schreiner blieb dabei, mit langem Atem &endash; und ohne Worte. Die späten 20. Juli-Verschwörer halfen Hitler in den Sattel, aus ganzem Herzen und unter Füllung ihrer Geldbeutel.

Wann wurde Elser bestätigt? Vermutlich erfuhr er 1936 aus dem Untergrund: Hitler und Mussolini schicken bereits Truppen nach Spanien, um ein freies Volk blutig niederzuwerfen. Unter den Augen der gleichgültigen Demokratien Europas.

Elser war sich sicher: heute Spanien, morgen wir und das übrige Europa.

Elser beobachtet: Hitler vergrößert die Wehrmacht, allgemeine Wehrpflicht, neue Kasernen am Hochrhein, mehr Waffen.

Im selben Jahr 1936 verständigen sich die Armeeführungen der Schweiz und der Tschechoslowakei über die aggressive Ausrichtung von Hitlers Militäraufbau.

Die Engländer, Franzosen und Amerikaner pennen oder bewundern dagegen den Kunstmaler von Wien. Ein verräterisches Bild, das uns lange vorenthalten wurde: die Fußballmannschaften Englands und Deutschlands grüßen 1936 nebeneinander im Berliner Stadtion gleichermaßen mit dem Hitlergruß.

Sobald Elser den Weltkrieg heraufziehen sieht, sucht er etwas dagegen zu tun. Im Dezember 1936 gibt er die Schreinerei auf und wechselt in eine Heidenheimer Rüstungsfirma, bringt es zum Leiter der Versandabteilung, erweist sich überall als ein exzellenter technischer Kopf.

Was bedeutet Elser heute? Seine Motivation wird uns nur beschädigt weitergegeben: unter Zensur. Bei der Gestapo in Berlin nannte er - trotz tagelanger Folter, Schlafentzug und vor Massenverbrechern wie Himmler und Heydrich - zwei Ziele seing -, ist im Elser-Bild hoffnungslos untergegangen.

Die Unterschlagung gewinnt gerade heute an Brisanz. Gegenwärtig geht es in der Umstürzung unserer Gesellschaft um die brachiale Absenkung des Lebensstandards, unter schamloser Begünstigung der Geldspekulanten und Weltkonzerne. Da offenbart Elsers Erbe eine unerfüllte Idee: „die Verhältnisse aller abhängig Beschäftigten bessern...“

Zum Glück eignet sich Elser nicht für den Medienzirkus. Ein Münchner Schwachkopf erklärte sein eigenes Schachspiel für eine Schnitzarbeit Elsers im KZ Dachau. Preisforderung: schlappe 30.000 Euro. Die Stadt München war gerade noch davon abzubringen, den Schwindel zu kaufen.

Der friedensvisionäre Schreiner ist ein Geheimtipp des sozialen Widerstands. Die Realisierung seiner tiefsten Motivation liegt noch vor uns. Eine große Utopie, die womöglich unser Leben lang vor uns herwandern wird.

Wir verneigen uns mit Respekt und Zuneigung vor dem prophetischen Warner, dem beinahe die Rettung von Millionen Menschenleben gelungen wäre. Hätte Elser Erfolg gehabt, so wäre der Krieg wenigstens nicht so exzessiv gekommen, es hätte keine Massenmorde an den Juden gegeben, die Euthanasiemorde von Grafeneck wären uns erspart geblieben.

Elser war der einzige, der den richtigen Zeitpunkt für das Attentat wählte. Aber warum denn bloß?

(In Schnaitheim war es so kalt, dass ich die Rede inhaltlich nur kurz streifen, aber nicht wörtlich vortragen konnte.)


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