In undenklichen Vorzeiten brach einmal Furchtbares über unser Land herein. Zeitungsschreiber zittern noch heute vor Angst und Wut, wenn sie darüber sprechen müssen:
Es war das unselige Jahr 68. Studenten fingen einfach so zu fragen an, unaufgefordert, was die Machtinhaber und ihre Schreiberknechte dem Kollaps nahebrachte. Amerikas Vietnamkrieg erfreute sich des Segens aller Parteien und Kirchen. Eine Notstandsverfassung sollte unsere junge Demokratie in den Griff bekommen. Heute könnte man floppig sagen: Demokratie light.
Besonders wüst ging es in Tübingen zu. Über dem Tal schwebte der atheistische Filosof Ernst Bloch. Im Laufe seines Lebens hatte er verschiedenen Diktaturen sein NEIN entgegengehalten. Dafür durfte er regelmäßig emigrieren.
Als wir nun im Jahr 68 beim Streik gegen die Notstandsgesetze im Festsaal diskutierten, war der knorrige Bloch der einzige akademische Lehrer, der den Weg zu uns fand. Der Rest des Lehrkörpers – was tat der wohl? Der schlotterte oder schnarchte.
Über die katholischen Theologen brach ein Go In herein. Es erwischte den smarten Hans Küng. Der hörte sich unsere Befürchtungen an. Seine Antwort: Ihm fehle bei uns das Interesse an Jesus, das sei das Wichtigste, nicht die Verfassung und die Demokratie.
Neben Küng stand ein unscheinbares Männlein, von Küng als Joseph angesprochen: stumm, bleich, überfordert, mit scheuem Blick zur Tür, auf dem Sprung zur Flucht. Mit einem akkurat gefalteten Taschentuch wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Keine Sekunde ließ er seine schwarze Aktenmappe los. Wenn ihm etwas radikal vorkam, zuckte er zusammen. Küng fragte ihn zum Schluss, ob er den Studenten etwas sagen wolle. Der steinerne Gast hob die Achseln.
Als Bloch von uns erfuhr, wie das Go In abgelaufen war, zog er an seiner Pfeife: “Echt Ratzinger: den Küng vorschicken, selber nichts sagen. Diese Herren, der Zeit entrückt, sind vorweltlich wie eine platonische Idee. Immer schon da, unveränderlich – und bekommen stets Recht.”
Ratzinger erholte sich, blätterte in einem Bloch-Buch und verkündet seitdem, der Materialismus führe zur Gottlosigkeit und stürze uns alle in den Abgrund.
Als ich Bloch davon berichtete, lachte er herzhaft. “Dieser Ratzinger, der hat Weltformat.”
Und Bloch gab mir einen Auftrag: “Der wird noch groß werden, der Ratzinger. So jemand ist überall gefragt. Haasis, achten Sie darauf, ob der Weltgeist mit ihm nicht einen Scherz vorhat, vielleicht wird er so hinterwäldlerisch, dass er freie Geister glücklich abstoßen wird.”
Nun die Geschichte vom heimlichen Lachen des Weltgeistes.
In Oberschwaben überfiel einmal ein schrecklicher Traum einen Zugereisten, einen Bayern aus dem Wallfahrtsort Altötting. Valentin hieß der Träumer. Der Volksmund fügte ihm die Farbe rot hinzu. Dieser neue Oberschwabe, ein Kaminbauer, sah in dem Traum eine Bestärkung seines Humors. Den führte er auf seinen Onkel Joseph zurück, der nach dem Tod von Karl Valentin Stunden marschiert war, um bei der Beerdigung dabei zu sein.
Dieser Valentin sah sich angeschmiedet an das Gebirge seiner fantasievollen Steuererklärungen. Als sein Traum auf das Dach des Finanzamts niederzustürzen drohte, wehte ein lauer Südwind ihn den Bussen hinauf.
Oben landete er auf dem knackigen, roten Satteldach der Wallfahrtskirche, daneben glänzte das Dächlein des Chors. Die Farbe animierte den Schläfer. Wenn er sich je beweiben sollte, würde er im Ehevertrag jedenfalls rote Dessous aushandeln.
Danach versumpfte Valentins Traum in der Gegenwart, frei von jeder Utopie. So sah er vom nahen Federsee einen Pilgerzug auf den Bussen zukommen, zur Schmerzhaften Mutter Jesu. Der Tag schwül, die Pilger müde. Ihre Lieder stiegen zum Himmel hinauf, vermischt mit dem Geblöke der Schafe, die den Pilgern mitleidig nachsahen.
Obwohl es in den Dörfern um den Bussen zu Mittag läutete, dachten die Pilgersleute nur an die Schmerzen der Gottesmutter, nicht ans Essen. An Joseph den Gottesvater verschwendeten sie keinen Gedanken. Unser Träumer empfand das Desinteresse am Gotteserzeuger als männerfeindlich.
“Wartet nur”, bruddelte er vor sich hin. “Ein Mann und Vater ist bei euch wohl nichts wert? Dann lohnt es sich auch nicht, sich zu beweiben. Geschieht den Frauen recht, ab jetzt werden wir keine Kinder mehr zeugen.”
Die Jungfrauen im Pilgerzug empfanden schon die bloße Existenz des Gotteserzeugers als obszön. Was sie nicht hinderte, des Nachts oben im Bussenheim in den Schlafgemachen sich kichernd auszumalen, wie lange der Zimmermann zur Herstellung des Gottessohnes wohl gebraucht haben mochte.
An der Spitze der Prozession fuhr ein Bauernwagen mit einer frisch gestrichenen Maria, deren vergoldete Krone weithin strahlte. Auf dem Wagen saß ein älteres, kinderloses Ehepaar. Die Frau den fruchtbaren Jahren schon lange entrückt, der Mann grauhaarig und geplagt von Arthrose. Er konnte kaum mehr ein Glied rühren, auch das entscheidende nicht, was seinen Herzenswunsch blockierte.
Die Eheleute erflehten Kindersegen. Allesgläubig, wie sie waren, erstanden sie in der Kirche zwei Wachspüppchen: Vertreter ihres Kinderwunsches.
Aber auf der Familie lastete ein Fluch. Der arme Mann hatte einen fürchterlichen Bruder, den besagten Valentin. Der galt als tief rot, bis auf die Knochen. Eine unverzeihliche Verfehlung in einer altbayrischen Familie.
Was wollte dieser Missratene? Alles, was andere besaßen, wünschte Valentin von Herzen gern zu teilen und fröhlich durchzubringen, am liebsten sofort, restlos und allein.
Als der Büttel von Uttenweiler eines Tages den Kaminbauer auf einer Baustelle fluchen hörte, warf er den Sünder für zwei Wochen in den Knast.
Doch der Rote Valentin besserte sich nicht. Kaum entlassen, fluchte er erneut, als er in einen frischen Kuhfladen trat. Die Kuh gehörte den Franziskanerinnen auf dem Bussen. Erneut eingelocht, beschloss Valentin, sich zu rächen.
Kaum freigelassen, kaufte er sich eine Kuh. "Denen werd' ich's zeigen.” Von Stund an fügten die Frommen ihren Gebeten hinzu: "Herr, lass dem Valentin seine Kuh unfruchtbar verenden, von Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen!"
Doch Valentin wollte von seinem sündigen Wandel nicht lassen. Da zündete Michael, der Racheengel des Herrn, nachts Valentins Hütte an.
Der Sünder freute sich darüber und veranstaltete ein Fest der Vernunft. Wie das? Denn ein paar Stunden, bevor der Blitz bei ihm einschlug, hatte er in der Nachbarschaft herumerzählt, er gehe heute in die Wirtschaft und werde nachts um elf Uhr nach Hause kommen, punkt elf Uhr.
Deshalb schlug der Erzengel nachts um elf Uhr dreizehn beim Roten Valentin ein. Die Gläubigen hatten gepetzt, in ihren Gebeten.
Aber alles für die Katz, denn Valentin strebte erst um ein Uhr nachts seiner Wohnstatt zu. Darüber ergriff den geprellten Engel zur Rechten des allwissenden Vaters eine solche Wut, dass sein himmlisches Gepolter noch hinterm Vorarlberg zu vernehmen war.
Der Bösewicht Valentin lästerte indes weiter, was der Oberin auf dem Bussen abgrundtief missfiel.
Der Verwerfliche sank noch tiefer, zur Blamage seines inzwischen zum Erzbischof erhobenen Onkels Joseph. Vom Teufel ließ er sich ins Ohr blasen, die Viehzucht habe goldenen Boden. Aber wo einen Farren auftreiben? Der einzige stand im Stall der Franziskanerinnen.
Als Valentin bei den Schwestern auf dem Bussen wünschte, seine Kuh dem Farren zuzuführen, musste man die Schwester Pförtnerin bewusstlos wegtragen. Die Franziskanerinnen lehnten das Gesuch kreischend ab. Denn gegen das geschlechtliche Treiben zweier unverheirateter Viecher hatten sie schwere moraltheologische Bedenken. Nach der Kirchenlehre der Heiligen Clementia Rustica handelte es sich da um Unzucht zwecks Viehzucht. Nachzulesen in ihrem Hauptwerk "De agricultura sacra", 3. Buch, § 12.
Als Valentin sogar gegen den heiligen Kirchturm fluchend seine Hand erhob, schoss ihm die Ortshexe in den Arm, der für immer versteifte, was die Oberin mit Dank erfüllte.
Der Teufel flüsterte dem Bösewicht ein, sich an eine Schneiderin heranzumachen. Valentin traf eine appetitliche, ledige Frau von Uttenweiler namens Ursula. Die stellte sich zuerst bockbeinig: Hätte es nicht ein besser gestylter Mann sein können? Die Haare mit blonden Strähnchen? Und ohne Bauchansatz. Die Nase etwas kleiner? Die Schuhe italienischer?
Als die Oberschwäbin freilich hörte, sie könne an diesem Mann etwas verdienen, trieb sie gegen gute Bezahlung Valentins Kuh in den Farrenstall und sagte dort Wunder wirkende Gebete auf, was den Farren bei seiner Verrichtung sichtlich stärkte.
Nach geraumer Zeit klagte in halb Oberschwaben die ganze Christenheit, Valentins Kuh sei trächtig. Das Kalb aber kam wunderlich auf die Welt: ohne Kopf, mit fünf Füßen und einem Arm, der dem steifen des Roten Valentins aufs Haar glich.
Ein zweites Wunder. Das vergreisende Ehepaar bekam Drillinge, dabei hatte es nur zwei Wachspüppchen gekauft.
Ursula nahm sich Valentins an. Sie verleitete den Entenklemmer dazu, das Kalb zu schlachten, was er gerne tat, weil es eh missraten war. Die Dörfer um den Bussen lud er zur Metzelsuppe ein.
Ein stilechtes Schlachtfest eines Junggesellen. Die Teller gingen gleich aus, so aßen alle aus Schüsseln. Besteck kannte Valentin nicht. Clopapier fehlte schon nach einer halben Stunde, Zeitungen gab es nicht. Die letzten Mostfässer, seit langem Essig geworden und deshalb vom Priester freudig gestiftet, waren zu Mitternacht leer.
Der umgekippte Most fraß sich alsbald durch die Gedärme. Gegen Morgen waren hinter den Büschen des reizenden Landes Trompetenstöße zu vernehmen. Jazzfreunde, angereist aus Biberach, Ulm und Reutlingen, schwärmten noch nach Jahren vom voralpenländischen Folkjazz hinterm Bussen.
Der Rote Valentin geriet indessen in die Arme der Ursula. Von nun an wachte er in seinem Bett nie mehr alleine auf. Und sie liebten sich, wie es Onkel Joseph nie geschafft hatte.
Der Weltenlauf erlaubte sich in der frömmsten Familie Bayerns einen doppelten Lacher. Die Drillinge von Josephs anderem Neffen kletterten an ihren Hochstühlen rauf und runter, bis sie eines Tages, nach dem Vorbild ihres Großonkels, inzwischen Oberdenunziant in Rom, Bischofsstühle hätten besteigen dürfen, hätte der Unheilige Freigeist diesen Unfug nicht verhindert. Verkleidet als gute Fee, hatte er ihnen etwas in die Wiege gelegt, was in keinem Kaufhaus zu erwerben ist: einen hellen Verstand und einen freien Geist.