HABERFELDTREIBEN IN OBERBAYERN
Ein bäuerlicher Geheimbund zwischen Rebellion und Gaudi
Eine Erzählung von Hellmut G. Haasis
(der schandlicherweise gar kein Bayer, sondern ein Schwabe ist und die südwestliche Landessprache auch beherrscht)
Es ist eine stockfinstere, widerliche Spätherbstnacht, schon empfindlich kalt, neblig, feucht. Keinen Hund jagt man da hinaus, hier in einem Gebirgsdorf zwischen Isar und Inn, zwischen München, Wasserburg, Bad Tölz und Schliersee.
Die Oberbayern nennen diese Gegend den Isarwinkel. Die meisten Dorfbewohner drehen sich bereits wohlig im Schlaf auf das andere Ohr. Etliche träumen von der Weihnachtsgans. Einige schnarchen bereits.
Schlag halb zehn öffnet sich auf einem Hof am Ortsrand, dem übermächtigen Wendelsteinmassiv gegenüber, die Stalltür, hält nach jedem Knarren längere Zeit still.
Ein unkenntlicher Kopf schiebt sich heraus, prüft die dunkle Umgebung. Das Gesicht ist geschwärzt, trägt einen langen Bart, hat einen Schlapphut ins Gesicht drückt, auf der Nase ein herrliches Stück Rübe.
Die Gestalt schließt lautlos die Tür, huscht über die Straße, pirscht davon. Draußen, hinter der Kapelle, treffen fast gleichzeitig vier ähnliche Vermummte aufeinander. Allen hängt über den Schultern ein Gewehr, wie es Jäger, aber auch Wilderer lieben: ein Stutzen.
Keiner sagt etwas.
Einer, vermutlich der Älteste, gibt ein Handzeichen und setzt sich in Bewegung, dem Gebirge entlang nach Westen, zum Schliersee. Die anderen folgen, jeder ungefähr sechs Schritte hinter seinem Vordermann.
Ein gespenstischer Zug im Gänsemarsch: stumm, nur hier und da scheint bei einem überraschenden Stolperstein unter einem Mantel Blech aneinander zu schlagen.
Den nächsten Ort umgeht die Kolonne. Hinter einer Feldscheune warten bereits weitere sieben Gestalten. Als die Gruppe nur noch zehn Schritte entfernt ist, ruft der Anführer der Wartenden: "Neu". Von den Ankömmlingen brummt einer "burg" zurück. Das Losungswort ist komplett: "Neuburg."
Alles in Ordnung.
Die Ortskundigen setzen sich an die Spitze der nächtlichen Schlange, die sich schon auf etwas über zwanzig Meter ausdehnt: elf Schatten, kein Mond, keine Sterne, kein Schnee.
Spuren bleiben nicht zurück.
So geht es von Ort zu Ort mit einer rätselhaften Zielstrebigkeit.
Bei jedem Treffpunkt wechselt das Losungswort: "Weil-heim, Frei-sing, Am-berg, Heils-bronn, Ans-bach, Feucht-wangen."
Die nächtliche Kolonne bringt es zuletzt auf 34 merkwürdige Köpfe: ein leise dahinhuschender Lindwurm von gut 70 Metern Länge.
Nicht weit vor Lenggries an der Isar gesellt sich der Zug in einer gegen neugierige Blicke geschützten Senke zu einer Massenansammlung gleicher Gestalten. Den Platz umgeben Posten mit Fackeln. Die übrigen Bezirke des Isarwinkels sind schon vertreten, nur dieser, der am weitesten entfernte, fehlte noch.
Aus jedem Zug lösen sich jetzt die Anführer, stehen zusammen, geben einander beruhigende Zeichen. Von einem Fuhrwerk werden Bier, Würste und Brot verteilt. Hastig verschwindet das Vesper. Die Anführer drängen, Mitternacht ist lange vorüber.
Noch immer hat sich keiner der rund 300 Münder geöffnet, außer zum Essen und Trinken. Da stellt sich in der Mitte ein Alter auf ein leer getrunkenes Bierfass, seine feste Stimme durchdringt die gruslige Nacht:
"Haberer! Wieder einmal hat der Haberer-Rat euch rufen lassen. Wir wissen, wie schwer es euch fällt, nach einem harten Arbeitstag noch die Nacht durchzumarschieren. In diesem Jahr haben wir euch schon 18mal rufen lassen. Das gab es noch nie, seitdem wir vom Geheimbund der Haberer wissen. Wir rufen euch nicht leichtfertig. Alle Anführer der zehn Bezirke haben im Rat zugestimmt. Ist jemand hier, dem es zuviel ist? Der soll sich melden."
Schweigen.
Niemand rührt sich.
Hier kennt sowieso keiner den anderen.
"Ihr spürt es selbst: die Zeiten werden schlechter, die Mächtigen härter gegen uns. Jeden Tag neue Beschwerden. Der König will immer mehr Steuern. Der Landrat schreibt uns vor, wie wir auf unseren Höfen wirtschaften sollen. Die Herren Geistlichen stellen unseren Frauen und Mädchen nach. Die besseren Herrschaften erlauben sich ein Lumpenleben und schleudern uns spöttisch ins Gesicht: Ehrlichkeit und Bescheidenheit werden einem nicht gelohnt.
Wo die Gerichte nichts taugen, müssen wir Haberer uns selbst Recht verschaffen. Dazu lebt der Geheimbund seit fast 200 Jahren. Viele hochmütige Herren sind seitdem gekommen und wieder gegangen, der Habererbund hat alle überlebt. Und also lebt auch eine Gerechtigkeit, für die wir zur Not selbst sorgen müssen."
Der Haberermeister legt eine Pause ein. Von ferne schlägt es ein Uhr.
"Das heutige Haberfeldtreiben gilt dem berüchtigten Freiherrn und Sägewerksbesitzer von Lenggries."
Beifall zerreißt die Spannung der schauerlich beleuchteten Gestalten. Die Bezirksmeister nicken einander zu, sie fühlen sich bestätigt, der Hass gegen den Freiherrn ist unzweifelhaft schon weit verbreitet.
"Haberer! Ihr wisst, es geht um eine ernste Sache. Auch wenn wir noch so vorsichtig sind und alles bestens planen und nie einen Verräter in unseren Reihen haben werden, so kann es doch einmal auf Leben und Tod gehen, wenn die Gendarmen vorzeitig Wind von der Sache bekommen. Deshalb soll heraustreten und heimgehen, wem der Mut gesunken ist."
Keiner regt sich.
"Gut, es gilt also. Ihr wisst, dass ihr über das, was heute Nacht geschieht, absolutes Schweigen bewahren müsst. Bis in euer Grab. Für die ausgestellten Posten heißt es: Gebt acht auf eure Gewehre! Wenn sich aus Versehen ein Schuss löst, bedeutet dies, dass sich alle Haberer angegriffen fühlen und in Gefechtslinie ausschwärmen. Verletzt niemanden! Aber wenn sich euch Widerstand entgegenstellt, besonders von Gendarmen oder sonstigen Amtspersonen, gilt mein Befehl, rücksichtslos von der Waffe Gebrauch zu machen. Schießt eurem Gegner aber zuerst in die Beine!
Nachher, beim Haberfeldtreiben, bilden sich zwei Kreise: ganz außen die Posten, innen die Masse der Haberer, alle mit dem Rücken zur Mitte, das Gesicht nach außen gekehrt. Die Posten werden so weit vorgeschoben, dass sie uns gerade noch sehen können. Wir lassen uns von den Gendarmen nicht überrumpeln."
Die Stimme wird zum ersten Mal schärfer.
"Die Neugierigen aus Lenggries sind auf Büchsenweite fernzuhalten. Wenn ein Posten jemanden näher kommen sieht, ruft er: Halt im Namen des Kaisers Karl, oder es kracht! Wenn der Kerl nicht stehen bleibt, muss es krachen."
Der Haberermeister legt eine Pause ein, es wird feierlich.
"Nun schwören wir den uralten Haberer-Eid. Wer heute zum ersten Mal bei einem Treiben mitmacht, tritt zu mir.
Ich schwöre bei meinem Leben, unverbrüchliches Schweigen zu wahren über den Habererbund und über das heutige Treiben. Nicht List, nicht Gewalt, nicht Zuchthaus, nicht Tod sollen mich bewegen, diesen Schwur zu brechen. So wahr mir Gott helfe. Amen!"
Nach dem gemeinsamen Schwur spricht jeder der fünf Neulinge den Eid einzeln nach und ist damit auf Lebenszeit in den Geheimbund aufgenommen.
Unter der Führung eines mit der Gegend vertrauten Haberers löst sich die Versammlung auf. Die Posten gehen voran, dahinter im nötigen Abstand die übrigen Haberer.
Vor dem Ort Lenggries, auf einer etwas höher gelegenen Wiese, entstehen rasch die beiden Kreise. Die Posten schauen und horchen angestrengt ins Dunkel, den scharf geladenen Stutzen, ihr Gewehr, in der Hand, der Hahn ist gespannt.
Da bläst der Meister in eine lange Papiertrompete: das Zeichen zum Grewöi, zum ohrenbetäubenden Krawall. Ein markerschütternder Krach zerreißt die nächtliche Stille.
Die Fantasie der Haberer entfaltet sich mit Macht: Rätschen, wie sie zum Verjagen von gefräßigen Vögeln gebraucht werden, Blechdeckel, Kuhglocken, mit dünnem Papier bezogene Kämme. Jeder, außer den Posten, schießt sein Gewehr ein dutzend Mal in die Luft ab.
Indessen stürzt in Lenggries alles aus den Betten.
"Was soll der Höllenlärm? Räuber? Ein Überfall? Das wilde Heer? Kommt Kaiser Karl mit seinem Gefolge aus dem Untersberg bei Salzburg, um die schlechten Zeiten zu verjagen?"
Nur die Älteren, die mit der Bauernwelt vertraut sind, schmunzeln. Alle strömen dem Lärm entgegen. Nach gut einer Viertelstunde hört das Getöse genauso unvermittelt auf, wie es angefangen hat.
Wieder zerreißt des Haberermeisters durchdringende Stimme die gespannte Stille:
"Leute von Lenggries! Dem Haberer-Bund sind Klagen zu Ohren gekommen, dass hier an der Isar ein Freiherr ein Sägewerk aufgemacht hat. Wo bisher ganze Dörfer vom Flößen lebten, stiehlt jetzt das neue Sägewerk die Arbeit. Viele Flößer haben seit einem halben Jahr keinen Stamm mehr unter die Füße bekommen. Schuld daran trägt die neuartige Bretterschneidemühle. Wenn dieses Teufelswerk nicht innerhalb von sechs Wochen geschlossen wird und der Freiherr auf Nimmerwiedersehen verschwindet, wird ihm eines Nachts der rote Hahn aufs Dach gesetzt, so wahr wir die Haberer sind."
Betretenes Schweigen bei den Lenggriesern, Beifall und ein erneutes, aber kurzes Lärmen bei den Haberern.
Dann ruft der Meister die anwesenden Haberer auf:
"Der reiche Müller an der Isar?"
"Hier."
"Der Herr Landrat von Tölz?"
"Hier."
"Der Herr Pfarrer mit seiner großbusigen Köchin?"
"Hier."
"Hier."
Zwei Haberer antworten, der zweite mit hoher, verstellter Stimme. Gelächter auch bei den Lenggriesern.
Neuer Radau.
"Der Herr Gendarmeriekommandant von Rosenheim?"
"Hier."
"Der Gendarm von Westerham, der uns das letzte Mal gerne erwischt hätte?"
"Hier."
Nach dem Aufrufen noch weiterer Persönlichkeiten der Gegend trägt der Haberermeister ein langes Gedicht vor, auswendig, in oberbayerischer Mundart, von ihm selbst für diese Nacht verfasst, dem Anlass des Treibens gewidmet.
Danach kommt der Schlusslärm, diesmal weit kürzer als sonst, denn der Rückweg ist weit.
Die Fackeln werden gelöscht, die Posten eingezogen. Nach Bezirken, wie sie gekommen sind, setzen sich die Haberer in Bewegung, mucksmäuschenstill. Wenn die Hähne krähen, werden alle zu Hause sein.
Am nächsten Tag hängt mancher etwas müde herum. Ein Bauernknecht verdrückt sich über Mittag ins Heu. In einer Fabrik verziehen sich zwei Arbeiter ins Materiallager und müssen beim Feierabend geweckt werden. Abends schläft einer der Haberer am Stammtisch ein, fährt hoch, als ein Spottmaul ruft:
"Schaut nur her, der hat ja noch Ruß im Gesicht!"
"Ha? Ich? Von wegen."
"Hier, schau doch in den Spiegel!"
"Ach so, das bisschen da oben. Kein Wunder, wir haben heute einen verrußten Ofen versetzt."
"Etwa mit dem Kopf, bis unter die Stirn?"
***
Zwei Wochen später treffen sich im Gebäude der Regierung Oberbayerns, in München, hohe Herrschaften, die den Haberern den Garaus machen wollen: der Polizeipräsident, der Militärgouverneur für Oberbayern und, als Vertreter des bayerischen Königs, der Innenminister. Schlechte Laune hängt in dem Prunkzimmer, die Luft ist voll mit Tabakrauch, der Ärger lässt die Pfeifen qualmen.
Draußen drücken Nebel.
Den ersten Bericht gibt der Polizeipräsident ab, in schöner, exakt gebügelter Uniform, mit eine Handvoll Orden verziert, fast so schön wie der Schmuck am Weihnachtsbaum.
"Der Gendarmerieposten Miesbach hat mir gestern mit einem Expressboten vom allerfrechsten Skandal der gottlosen Haberer berichtet. Was die sich wieder erlaubt haben, schlägt dem stärksten Fass den Boden aus. Ich lese Ihnen den Bericht ungekürzt vor:
"Gestern wurde dem hiesigen Gendarmerieposten gemeldet, dass die Haberer im benachbarten Dorf Wall sich eigenhändig eine noch nie gekannte Unverschämtheit genehmigt hätten.
Ich begab mich sofort dorthin und wurde vom Herrn Pfarrer demütigst auf den Friedhof geleitet.
Dort fand ich knapp zwei Meter neben der Friedhofsmauer ein frisches, über die Maßen hoch aufgeschüttetes Grab. Hochwürden erklärte mir auf Anfrage meinerseits, hier sei vor fünf Jahren, zur Zeit des Kirchenbanns über alle Haberer, ein berüchtigter Wilderer und Schmuggler bei Nacht und Nebel verscharrt worden, weil er im Ruf eines verdächtigen Mitglieds des verbrecherischen Geheimbundes stand.
Über diesem Grab erhob sich ein Erdhügel, den ich mit einem Meterstab und unter bedauerlicher, anderntags aber durch meine Frau Gattin behobener Beschmutzung meiner Dienststiefel nebst solcher Hose auf 1,60 m habe abmessen müssen. In diesem Hügel nun befand sich überraschenderweise, womit niemand hatte rechnen können, ein neues Grab eingegraben, sauber mit einem Spaten abgestochen.
Noch merkwürdiger war selbst für mich als Gendarm, der von den derben Oberbayern einiges gewohnt ist, dass in dem noch offenen Grab - dem zweiten, müssen Sie sich vorstellen - eine mannshohe Strohpuppe lag, angezogen mit einem Sackstoff, wie ihn die Bauern für ihre Wirtschaft gebrauchen.
Können Sie sich in München drinnen, in Ihren hohen und sauberen Häusern, überhaupt vorstellen, wie einem kleinen Landgendarmen da zumute ist?
Ich glaube, dass nein.
Will sagen: mir kroch das Gruseln das linke Hosenbein über den Rücken rauf, bis zur äußersten Haarspitze und dann am rechten Bein wieder runter. Also war ich nur noch eine einzige Gänsehaut.
Nun fahre ich fort.
Um diesen Grabhügel herum lief ein Stacheldrahtzaun. Ins Erdreich waren zwei frische, kunstvoll beschriftete Tafeln so tief eingerammt, dass Hochwürden ein Unglück ereilte. Als er, vom heiligen Zorn über so viel Pietätlosigkeit mitgerissen, an einer der beiden Tafeln rüttelte, um sie dem entweihten Boden zu entreißen, kam er durch den an der Tafel angebrachten, stark federnden Pfosten ins Rutschen und wurde so fast ins offene Grab befördert.
Im selben Augenblick hörten wir beide in geringer Entfernung ein tönendes Gemisch von grunzenden Säuen, meckernden Ziegen, blökenden Schafen, brüllenden Kühen und dreckig lachenden Menschen. Hochwürden deutete dies als einen Fingerzeig Gottes, dass die gottlosen Haberer in die Tiere des Dorfes gefahren seien.
Bevor wir den unwirtlichen Ort fluchtartig hinter uns ließen und nicht mehr aufsuchten, musste ich aus amtlichen Gründen die beiden Tafeln abschreiben. Auf der ersten stand nur:
'Ruhestatt der Haberer'
Die zweite beschäftigte mich beim Abschreiben länger:
'Hier ruht der Hochwohlgeborene Graf Arco auf Valley, zur Zeit Polizeirat in Starnberg, zwischen Dunkel und Siehst-mich-nicht. Das war der letzte Haberermeister, der hat beim Haberfeldtreiben in Lenggries den Meister gemacht und beim vorletzten Treiben einen Gendarmen fast getroffen. Geboren zwischen Weihnachten und Wasserburg, gestorben weiß Gott wo.
O Herr! Gib dem Hurenkerl die ewige Hur, das ewige Licht brenne seinem Hodensack.
Er ruhe in Frieden.
Vivat alter Haberermeister.'
Danach begab ich mich schleunigst wieder auf meinen Posten zurück und beantrage hiermit die Anweisung von drei Mark Spesen für ausgestandenen Grusel seitens der staats- und königsfeindlichen Haberer.
Mit grauenvoller Hochachtung
Gendarmerieposten Miesbach."
Der Polizeipräsident legte erschöpft den Bericht auf den Konferenztisch. Lange geschah nichts. Bis der Regierungspräsident die Besprechung ins Rollen brachte, eher müsste man sagen, ins Toben. Die Stimmen purzelten durcheinander.
"Die Haberer sind bisher verharmlost worden, hinter denen steckt mehr. Jawohl, eine Verschwörung gegen Gott, den bayerischen Thron und das wittelsbachische Königshaus, ja gegen das ganze Vaterland.
Ein Schandfleck auf der sauberen Weste des bayerischen Volkes, eine Gefahr für Religion und Glauben und die Anständigkeit der noch nicht verdorbenen Leute.
Der Thron wackelt, bald die Kirche, zuletzt das gesamte Staatsgebäude. Wie soll das noch enden?"
Der Militärgouverneur griff sich in den Mund:
"So, so endet das, wie hier in meinem Mund. Ein Zahn, der wackelt, muss herausgezogen werden. Rücksichtslos, zum Wohle der Gesundheit und des Volkes."
"Wie? Wie?" stöhnten die von ihrer Verantwortung niedergedrückten, übelgelaunten Herren.
Der Militärgouverneur sprang auf, schleuderte seinen Stuhl zurück, riss seinen langen Säbel aus der Scheide und durchschnitt mit Wucht die dicke Luft.
Der Regierungspräsident und der Polizeipräsident sahen sich ängstlich an.
Der Innenminister blieb unbeweglich, er wollte, wie er zu sagen pflegte, das Hohe Königliche Kabinett nicht in die Niederungen einer oberbayerischen Provinzposse tumber Bauerntölpel herunterziehen lassen.
"Richtig, mit Gewalt muss man vorgehen, aber wie? Und was meint Ihre Majestät?"
Die Blicke streiften in hündischer Demut den königlich-bayerischen Innenminister. Emporgehoben von dieser wohltuenden Hingabe, begann der Verehrte seine Rede, jedes ihm wichtig erscheinende Wort mit einer Senkung der Stimme und einer ausladenden Handbewegung unterstreichend.
"Der König ist bekanntlich in Rom, bespricht sich mit dem Heiligen Vater."
Eilig falteten einige die Hände.
"Seine Majestät ist bereits unterrichtet von den neuesten Verbrechen der Haberer und hat an Ihren Innenminister folgende Weisung erlassen."
Der Minister legte eine gewichtige Pause ein, entfaltete das Schreiben, schickte fast wie ein gekröntes Herrscherhaupt seinen Blick in die Runde. Nachdem alles erstarrt war, begann er mit der Verlesung der königlichen Botschaft aus dem Ausland.
"Die Unsitte des Haberfeldtreibens hat, abgesehen von ihrer direkten Gemeingefährlichkeit, noch eine in der Gegenwart doppelt bedenkliche politische Seite. Der bisherige Verlauf dieses Unfugs beweist, dass in Bayern unter den Augen der Behörde seit langem eine zahlreiche, weit verzweigte und wohlgegliederte geheime Verbindung besteht, die von Zeit zu Zeit ganze Bezirke in Alarm versetzt, ohne dass es der Polizei gelungen ist, über die Leiter und anderen Teilnehmer dieser auffälligen Demonstrationen sich zu vergewissern.
Ich brauche nicht auseinander zu setzen, wie sehr angesichts dieser Tatsache das Ansehen der Obrigkeit leidet und wie gut unter Umständen eine solche Organisation zum Muster und zur Aufmunterung selbst revolutionärer Gesellschaften dienen kann.
Ich erwarte daher eine genaue Aufklärung über diese Vorkommnisse und die zu deren Unterdrückung seither getroffenen Maßregeln und hoffe zuversichtlich, dass es der Umsicht und Energie Meines Staatsministeriums des Inneren gelingen wird, in Bälde Meister zu werden eines Unfugs, der Bayern in der öffentlichen Meinung herabsetzt."
Der Minister genoss, wie alle Augen an seinen Lippen hingen, auch jetzt noch, als er schwieg. Dann gab er einen knappen Überblick über den Habererbund.
"Die Geheimgesellschaft regt sich nur im Isarwinkel, umfasst vermutlich insgesamt zweitausend Mitglieder. Eine Konzentration der nächtlichen Treiben um Miesbach lässt dort das Zentrum vermuten. Die einfachen Haberer sind Bauernsöhne und Knechte, Tagelöhner und auch einige Arbeiter. Am liebsten werden tatkräftige Burschen aufgenommen, Wilderer, Schmuggler, gefürchtete Raufbolde, auf jeden Fall einst gediente Soldaten mit eigenen Stutzen. Die Anführer sind vermutlich eher wirtschaftlich besser gestellte Leute, denen man nicht beikommen kann. Zu denen halten die ganzen Gemeinden. Noch nie hat jemand einen Haberer verraten."
In demütigem Ton wollte ein Zwischenrufer wissen:
"Hat man es schon mit Spitzeln versucht?"
Der Minister lachte verkrampft, versuchte, lustig zu sein und konnte doch seine Wut nicht verbergen.
"Spitzel? Hat man schon viele eingesetzt. Alles umsonst. Die Bauernwelt da droben im Gebirge hält zusammen wie Pech und Schwefel. Da findet man keinen Spitzel - und die Spione aus der Stadt werden nur gefoppt. Gegen Amtspersonen halten selbst die Gemeinderäte und oft auch die Pfarrer zu den Haberern."
Ein weiterer kluger Einwurf: "Und der Kirchenbann? "
"Ach der, der hat nicht das Geringste genützt. Die Haberer sind ja unbekannt, niemand verpfeift sie."
"Was kann sonst getan werden?" fragten die Ratlosen.
Jetzt war die Gelegenheit gekommen, dass der Innenminister mit Donner seinen Generalstabsplan über die dürftigen Häupter ausgoss:
"Im Namen des Königs schlage ich vor:
die sofortige Besetzung des Isarwinkels, aller Städte und Gemeinden, durch mindestens 500 Soldaten;
die Ausrufung des Ausnahmezustandes;
die Kosten der Einquartierung haben die Gemeinden selbst zu tragen, zur Strafe;
die sofortige Einberufung aller jungen Männer zum Militärdienst."
Die Herren duckten sich unter der Wortartillerie des allmächtigen Ministers. Sollte doch die staatliche Gewalt ihren Lauf nehmen, wenn die Saubauern nicht gehorchen wollten.
Der Innenminister legte seinen militärischen Ton beiseite, wählte den des höchsten Gerichts:
"Was Recht und Gerechtigkeit in Bayern sind und wer darüber zu Gericht sitzt, das muss noch immer unter den Machthabern entschieden werden, unter der Leitung des Königs. Dieses Recht lassen wir uns nicht zu nachtschlafender Zeit nehmen, von einigen hundert Bauern. Von denen zuletzt. Die haben sowieso bald nichts mehr zu melden im modernen Bayern. Es zieht eine neue Welt herauf, in der die Industrie und der große Handel bestimmen - und nicht eine uralte, überholte, verstaubte Bauernwelt von Hinterpfuiteufel."
Als dies geschah, stand auf den Kalendern die Zahl 1863.
Fantasiebild 19. Jahrhundert von einer nächtlichen Protestversammlung
***
Dreißig Jahre später kommt es beim Habererzentrum Miesbach zu einem entscheidenden Treiben, dem Anfang vom Ende des Habererbundes. Wieder halten Truppen den ganzen Isarwinkel besetzt, Spitzel schüren Misstrauen, Verräter würden sich gerne eine goldene Nase verdienen, wenn sie nur könnten. Allein auf die Teilnahme an einem Haberfeldtreiben steht Gefängnis bis zu zwei Jahren.
Seit sieben Jahren ist Thomas Bacher, ein umsichtiger Holzarbeiter aus Westerham, der Haberermeister. Alles ist geplant, wie es den alten und bisher bewährten Regeln nach sein muss.
Kaum haben sich in der mondlosen Nacht auf dem eigentlichen Treibplatz die beiden Ringe gebildet, versucht die Gendarmerie, mit großen Kräften die Haberer zu umgehen, von hinten anzugreifen und einzukreisen. Der Bezirksamtmann will Gewalttaten sehen. Als die ersten Gendarmen sich eine Hangwiese hinauf dem äußersten Ring nähern, schreit ihnen ein Vorposten entgegen:
"Halt, im Namen des Kaisers Karl! Zurück!"
Der Bezirksamtmann glaubt, Bayerns Zukunft hinge von seiner Tüchtigkeit gegen den Habererbund ab. Er tut sich groß und schreit:
"Im Namen des Gesetzes, ihr zurück!"
Der Posten lässt sich nicht irremachen:
"Mein Gesetz heißt: Halt! Feldparole, oder es kracht!"
Noch mehr vom Ehrgeiz getrieben ist ein junger Gendarm, der hoch hinaus will. Er geht einfach weiter, will als erster endlich einen Haberer fangen, hält die nächtlichen Gestalten für Pappkameraden. Da kracht es wirklich, die Habererkugel zerstört dem vorwitzigen Gendarmen einen der beide Hoden. Der Verletzte rollt den Abhang hinunter, schreit jämmerlich vor Schmerzen.
Die gefährdete Habererversammlung geht in Verteidigungsstellung. Die Vorposten ziehen sich zurück, der Ring schwenkt nach links und rechts in Schützenlinie aus, mit Abstand zum Nebenmann. Alle legen sich nieder.
Nun beginnt trotz der Finsternis ein wütendes Gefecht mit der Gendarmerie. Hier kommt den Haberern ihre Erfahrung beim Militär zugute. Ihre Schützenkette dehnen sie so weit aus, dass die Gendarmerie den Umgehungsversuch aufgeben muss und in den Wald zurückgeht.
Dann verschwinden die Haberer. Im Gegensatz zu den staatlichen Kräften liegt ihnen nichts an der Schießerei. Ein Zug nach dem anderen marschiert in der Finsternis ab, bis auch die letzten, für die macht- und kopflose Gendarmerie überraschend, vom Dunkel verschluckt sind.
Im Feld wurden die Haberer nicht besiegt. Aber die blamierte Regierung schwor grimmige Rache. Sie ließ kurzerhand 300 Leute ins Gefängnis werfen, monatelang, aus reiner Wut. 90 wurden später zu hohen Strafen verurteilt, bis zu sieben Jahren Zuchthaus. Nicht verwunderlich, dass die Behörden dabei häufig die Gesetze brachen. Sie ließen die Gefangenen prügeln und verurteilten Menschen, die nur von zweifelhaften, geldgierigen Spitzeln denunziert worden waren, ohne den geringsten Anschein eines Beweises.
Drei Jahre später wurde auch der Haberermeister Thomas Bacher in ein Münchner Gefängnis geworfen. In ein vergittertes Loch, so dunkel, dass Bacher nicht wusste, ob es Sommer oder Winter war, ob draußen die Sonne schien oder ob es regnete.
Der "Gefängnissatan", wie die gefangenen Haberer den Gefängnisdirektor nannten, wollte Thomas Bacher verrecken lassen. Der kräftige, 1,83 m große Holzarbeiter erhielt während der ersten zwei Monate fast nichts zu essen: morgens eine Wassersuppe mit etwas Brot, mittags nur Wasser, abends nochmals Wasser und ein bisschen Brot.
Thomas Bacher kam ganz von Kräften, wurde schier wahnsinnig. Abends kroch er in der dreckigen, finsteren Zelle herum, auf den Knien, suchte verzweifelt nach heruntergefallenen Brosamen.
Nebenan tobte ein wirklich wahnsinnig Gewordener, gelobte, er wolle der Mutter Maria alles mögliche Gute tun, brüllte nächtelang gegen den drohenden Teufel oder rief wie ein Kind nach seiner Mutter.
Der Pfarrer war zufrieden:
"Endlich wird auch dieser Gottlose fromm."
Der Staatsanwalt schrie bei den endlosen Verhören Bacher regelmäßig ins Gesicht:
"Lebendig kommst du nicht mehr aus dieser Hölle heraus."
Als Bacher schwieg, fast abgestumpft, trumpfte der Staatsanwalt auf:
"Dich kriegen wir auch noch so weit wie den Wahnsinnigen nebenan."
Und doch besiegte Bacher alle Brutalität, siegte das Recht der Haberer über das tägliche Unrecht der Behörden. Denn auch als Bacher einem furchtbar zugerichteten Haberer gegenübergestellt wurde, sagte er nichts aus. Er nahm seine ganze verbliebene Kraft zusammen und fuhr den Misshandelten so an, daß dieser seine während der Folterung erpressten Aussagen widerrief.
Nach vier Jahren Haft wurde Bacher entlassen: einst ein stämmiger, 32 Jahre alter Gebirgler, nun schon mit 36 Jahren ein Greis, die einst tiefschwarzen Haare grau, sein Körper nur noch Haut und Knochen.
Thomas Bacher kam nachts um neun Uhr mit dem letzten Zug von München aus nach Westerham. Auf ihn wartete fast das ganze Dorf. Der letzte Haberermeister wurde gefeiert als einer, der vor den Münchner Herren nicht zu Kreuz gekrochen war.
Eine Traube von Leuten stürzte zu Bachers Zugabteil, trug ihn auf den Schultern zu einer Kutsche. Eine Blaskapelle spielte. Nach vier Jahren Quälereien stand Bacher im Mittelpunkt seiner Leute. Niemand kümmerte sich darum, dass er in den Augen der Justiz ein Verbrecher war, vorbestraft.
Von dieser Art Justiz hielt man hier nichts.
Seiner Standhaftigkeit verdankten Hunderte von Haberern, dass sie von Justizbehörden und Polizei nicht erwischt worden waren. In der Meinung der meisten Menschen im Isarwinkel galt Thomas Bacher als Opfer eines zum Himmel schreienden Justizverbrechens.