haasis:wortgeburten

Christiane Hegel

Vom Leiden und Untergang einer Fußnote
von Hellmut G. Haasis

Hegel war in Berlin keine drei Monate unter dem Boden, da schwemmte im Schwarzwald ein Flüsschen die Leiche seiner Schwester ans Ufer.

Verwandte und Freundinnen waren beim Begräbnis nicht zu sehen, nur vier gelangweilte Herren: der Wundarzt, der Wiederbelebungsversuche gemacht hatte; der Kreisarzt; der Gastwirt der Teinacher Krone, der um die unbezahlte Rechnung der Toten bangte, und der Pfarrer, der ins Totenbuch eintrug:

„war geisteskrank und seit einiger Zeit in Teinach, wurde am 2. Februar Abends 4 - 5 (Uhr) tot aus der Nagold gezogen, zwischen der Sägmühle und Kentheim, und hieher gebracht; hat sich höchstwahrscheinlich in einem Anfall von Schwermut in den Fluß gestürzt.“

Die Kirche verweigerte das Glockengeläute, in Verachtung des Freitods.

Hegel hatte seine Schwester längst beiseite geschoben, seine Biografen schlossen sich an. So schrieb Rosenkranz: Christiane sei „aus gebrochenem Herzen gestorben“. Mehr ist nicht zu erfahren.

Die Hegel-Gemeinde legte die Gestorbene rasch ab: Christiane hatte ein paar Briefe ihres Bruders erhalten, konnte als letzte etwas über seine Schulzeit sagen und besaß eine seltene Büste des Philosophen.

In der Nagold war 1832 nur eine Fußnote zu Hegels Leben untergegangen.

Eine Zeitlang wusste man in Württemberg mehr von Christiane.

Justinus Kerner hatte ihr in seinem „Bilderbuch meiner Knabenzeit“ ein rührendes Denkmal gesetzt. Sie habe Gefangenenhilfe auf dem Hohenasperg für den Landtagssekretär Hauff geleistet, den Vater des Märchenerzählers; Gouvernante sei sie gewesen beim Ludwigsburger Landvogt, dem Grafen von Berlichingen, nebenbei habe sie Neugierigen die eiserne Faust des berühmten Götz vorgeführt. Dann sei sie geisteskrank geworden, habe die fixe Idee bekommen, sie sei ein Päckcken, das man auf der Post verschicken wolle, welcher Gedanke des Verschicktwerdens sie immer in die größte Unruhe und Verzweiflung versetzte. Trat ihr ein fremder Mensch zu nahe, so fing sie an zu zittern, denn sie befürchtete, der komme, sie mit Bindfaden zu umwickeln, zu versiegeln und auf die Post zu tragen.

Früher hatten in Christiane andere Melodien geklungen, aufsteigende, siegessichere, von denen seit Napoleon niemand mehr wusste. Als Christiane eine begehrte junge Frau war, tummelte sie sich unter rebellischen Studenten. Die Landeshauptstadt durchwirbelte eine Revolutionsszene, die nichts ähnliches in Deutschland kannte.

Der Hochadel war aus Frankreich emigriert, großmäulig trieb er sich am herzoglichen Hof und auf den Straßen herum. Bürger wie Studenten hassten diese Demokratenfeinde von ganzem Herzen - und mit Fantasie.

Im Karneval 1791 machte eine Studentengruppe zwei herzogliche Maskenbälle zur Plattform der neuen Zeit. Drei Eingeweihte tauchten als Farbenträger der Trikolore auf, jeder in eine der Farben gekleidet, augenfällige Symbole der Revolution. Ein vierter stolzierte in der Maskierung eines Adligen herein, mit Stammbaum und aristokratischem Hochmut. Die drei zerrissen ihm die Kennzeichen seiner Privilegien, bis er zerlumpt dastand.

Beim zweiten Maskenball schritt der Schicksalsgott die Treppe herunter, wie der Herzog, mit einer Urne in der Hand, grüßte gnädig, stellte das Gefäß ab und machte sich aus dem Staub. Freunde stießen wie aus Zufall den Behälter um, Zettel quollen heraus, Parolen des revolutionären Paris, die den Neugierigen verkündet wurden.

Dieser geheime Stuttgarter Jakobinerklub feierte am 14. Juli in einem Saal der Hohen Karlsschule, gleich hinter dem Schloss und in stilvoller Nachtsitzung, den zweiten Jahrestag des Bastillesturms.

Die Umstürzler knüpften Verbindungen über den Rhein an, ins Mekka der deutschen Jakobiner: nach Straßburg. Von dort kamen revolutionäre Flugschriften zurück, dann Agenten für einen gemeinsamen Umsturz. Miteinander machten sie sich auf den Weg zu einer süddeutschen Republik.

Die Stuttgarter Revolutionskultur, in der Christiane aufwuchs, brachte noch einen anderen Zweig hervor: handgeschriebene Untergrundliteratur.

Nachts tauchten radikale Plakate und Anschläge gegen den Herzog und seine Knechte auf, an Laternenpfählen und Amtshäusern. Die württembergischen Landstände rangen um die Erneuerung des Landes. Die besten Köpfe bewegten sich in einem Netz von Verschwörern, die, gestützt auf eine siegreiche französische Armee, einen deutschen Freistaat ausrufen wollten.

Am Ende, als die Fürsten sich den Franzosen gefügig zeigten, ließ die französische Regierung ihre deutschen Gesinnungsfreunde fallen. Der Traum von der Freiheit war verflogen. Der Herzog schlug zurück.

Der Landtagssekretär Hauff wurde mit der Opposition auf der Festung Asperg, der schwäbischen Bastille, inhaftiert. Im benachbarten Ludwigsburg ging die Angst um. Wer etwas zu verbergen hatte, säuberte die Korrespondenz von zweifelhaften Papieren, wich Verdächtigten aus, verkroch sich.

In dieser depressiven Stimmung brachte nur die unbekümmerte Christiane Hegel, eine Freundin der Familie Hauff, die Courage auf, dem Häftling täglich das Essen auf die Festung zu tragen. Unter Gemüse und Fleisch schmuggelte sie Kassiber. Hauff erfuhr, was draußen geschehen war und wie er sich bei den Verhören verhalten sollte.

Christiane riskierte Festungshaft. Später griff die Angst einer besiegten Freiheitsbewegung doch noch nach ihr.

Wie sich's gehörte, pflegte Christiane ihren Vater bis zum Tod. Dann stürzte sie in Vereinsamung, musste alleine leben, wurde Privatlehrerin. Sie war stolz, hatte Format und Bildung, bekam eine Vertrauensstellung bei den fünf unmündigen Töchtern des verwitweten Grafen von Berlichingen. Im Roten Schloss von Jagsthausen schwebte sie auf rosa Wolken, fühlte sich als Schlossherrin, fast als Mutter.

Nach der Revolutionsperiode noch einmal eine glückliche Zeit.

Der Graf heiratete 1807 wieder, Christiane wurde dem Personal eingegliedert, was ihr gegen den Strich ging. Von der neuen Schlossherrin fühlte sie sich nicht anerkannt. Die Töchter wurden nach und nach volljährig. Christiane konnte absehen, dass sie überflüssig würde. Existenzsorgen nagten an ihren Gefühlen.

Der Soldatentod des jüngeren Bruders steigerte ihre Depressionen. 1812 war Ludwig mit Napoleons Armee nach Rußland marschiert und irgendwo umgekommen, wie 98 % der württembergischen Hilfstruppen, die der Landesherr als Dank für seine Königskrone Napoleon geopfert hatte.

Nicht der geringste Widerstand bäumte sich auf, um den württembergischen König zu stürzen. Aussichtslosigkeit zeichnete die allgemeine Stimmung.

Im März 1814 brach bei der Vierzigjährigen „die Krankheit“ aus, wie die Familie sagte. Christiane war ständig äußerst erregt, wusste nicht, wie es in Jagsthausen mit ihr weitergehen sollte. Der Bruder in Nürnberg bot ihr sein Haus als Zufluchtsort an. Sie vermochte sich nicht zu entscheiden.

Nach einigen Monaten begriff sie, dass sie nicht länger Gouvernante bleiben konnte, und bat um ihre Entlassung. Der Graf dankte ihr dafür, dass sie seinen Töchtern nicht nur wissenschaftliche Bildung, sondern auch ethische Maßstäbe, unbefangene Heiterkeit und Takt beigebracht hatte, und zahlte ihr freiwillig eine Pension.

Ein geheimer Faden verband Christiane weiterhin mit Jagsthausen. Ihre Ersparnisse legte sie in der gräflichen Kasse zu 5 % Zins an. Bei ihrem Tod war das nette Sümmchen von 2.700 Gulden aufgelaufen. Ihren Verwandten hatte sie diese eiserne Reserve zu verheimlichen verstanden.

Mit der Trennung vom Roten Schloss verlor Christiane ihr Gleichgewicht. Sie geriet in ein lebenslanges Schwanken, das sie zerrüttete. Beim Amtmann von Jagsthausen hätte sie bleiben können, sie wollte nicht. Sie hing an etwas, das sie nicht ausdrücken konnte.

Seitdem alle Hoffnungen, den Landesherrn, seine Amtsknechte und den Untertanengeist abzuschütteln, zerbrochen waren, lastete angstvolle Unsicherheit auf dem Land.

Christiane hing an ihrem großem Bruder, nur an ihm. Dem Philosophen aber graute zunehmend vor ihrer Nähe.

Im Herbst 1815 wagte sie den ersten Besuch bei ihm in Nürnberg. Sie bekam Anfälle, tobte und schrie alles mögliche Verletzende heraus. Ihre Schwägerin Marie Tucher, eine Nürnberger Patriziertochter, passte ihr nicht. Eifersucht einer einsam alternden Frau, die keinen Mann gefunden hatte und ihren Bruder einer Fremden nicht gönnte. Ihre kleinen Neffen Karl und Immanuel dagegen schloss sie in ihr mütterliches Herz.

Den Bruder und die Neffen sah sie niemals wieder.

Christiane bekam ein zweites Angebot, in Jagsthausen zu bleiben, beim Pfarrer. Wieder warfen Eifersucht und Angst vor einer Fremden sie aus der Bahn. „Was will ich in Jagsthausen? Der Pfarrer heiratet eine mir ganz fremde Frau.“ Das war es: eine Fremde.

Als letzter Rettungsanker blieb die Verwandtschaft: der Cousin Göritz, Dekan von Aalen. Als Christiane bei ihm eintraf, brach ihre Krankheit erneut aus. Sie erlitt Tobsuchtsanfälle, lag tagelang auf dem Sofa, jammerte laut, schrie, schleuderte ihren Hass gegen ihre Schwägerin heraus, ließ an ihrem Bruder kein gutes Haar, schimpfte über den Amtmann und den Pfarrer von Jagsthausen - beide hatten sie aufnehmen wollen - meckerte über die Gräfin von Berlichingen, wärmte alte Vorwürfe auf. Eine schwäbische Hypochondrin: launisch, undankbar, nachtragend.

Mit der Zeit beruhigte sie sich, rang der fremden Umgebung Sicherheit ab, gewann Anerkennung. Durch Unterricht in Handarbeiten konnte sie sich ernähren. Arbeit, Gewohnheit, Nähe, Überschaubarkeit brachten sie ins Gleichgewicht. Nach der zweijährigen Krise konnte sie wieder durchatmen, sie fühlte sich zuhause. „Aalen ist im Ganzen nicht mehr als ein großes Dorf, und [ich] kann dahier ruhig und ohne Zwang leben.“

Das Wichtigste war ihr: „ohne Zwang“. Fremdheit wirkte auf sie wie Gewalt.

Der Bruder gab seiner dickköpfigen Schwester die ungeschickteste Empfehlung: Sie solle sich den Ratschlägen ihres Cousins Göritz „unterwerfen“. Ausgerechnet Unterwerfung.

1818 bekam sie Besuch von Hegels Schwiegermutter. Der Eindruck der Besucher fiel immer ähnlich aus: Christiane gab sich heiter und zufrieden. Die Gäste bewunderten, wie geschmackvoll sie eingerichtet war.

Die Wohnung tröstete die zerrissene Seele. Biedermeier als möblierte Verzweiflung.
Der Anlauf zur persönlichen wie politischen Emanzipation war gescheitert, das Interieur versöhnte.

Christiane entwickelte eine Methode, ihre Existenzängste zu zähmen. In einem Kassenbuch verzeichnete sie gewissenhaft ihre Einnahmen und Ausgaben. Mit der Planung ihrer Ausgaben suchte sie sich vor der schwarzen Zukunft zu schützen. Im voraus zählte sie die Ausgaben der nächsten Zeit in Münzen ab und legte sie in Monatspäckchen griffbereit. Sie konnte für zwei Jahre vorsorgen.

Anfang 1820 kam es zum schwersten Zusammenstoß mit dem Cousin Göritz. Christianes Herrschsucht und Anmaßung gingen dem Geistlichen auf die Nerven. Er glaubte, Christiane in ihre Schranken weisen zu müssen.

Sofort bekam sie wieder Anfälle und wollte weg. Wohin? Natürlich nach Jagsthausen. Aber die gräflichen Töchter waren schon lange fort. Der Cousin schickte sie ins Pfarrhaus.

Alles ist reif zur Katastrophe. Bei der Ankunft in Jagsthausen bricht Christiane die Vereinbarung, lässt vor dem Roten Schloss vorfahren, wo man mit ihr nichts anfangen kann.

Diese Eigenmächtigkeit bringt das Fass zum Überlaufen. Auf die Verletzung der Autorität muss Strafe folgen, meint der Cousin. Göritz meldet alles dem Bruder, der sich wundert, sie sei doch gesund gewesen, habe nur eine gereizte Stimmung behalten, möglicherweise liege es an den Wechseljahren. Ihre Krankheit nennt er „Hysterie“, rät zu ärztlicher Behandlung und zur Bändigung ihres zerrütteten Gemüts, das Scheu vor einer überlegenen Person brauche. Hegel schwebt Unterordnung vor, Angst vor einem Mächtigeren.

Christiane geht nach Neustadt bei Waiblingen, ins Bad der schwäbischen Romantik. Freiwillig, aber ohne Erfolg. Die Unterkunft gefällt ihr nicht, es wimmelt von Fremden. Sie will wieder zurück. Aalen, von wo sie gerade geflohen ist, erscheint ihr auf einmal als der schönste Ort.

Jetzt geht es dem Bruder über die Hutschnur. Er setzt auf Zwang, betreibt beim Waisengericht in Stuttgart die Entmündigung. Im Mai 1820 bekommt Christiane als Pfleger den Aalener Cousin vorgesetzt, als Finanzverwalter dessen Bruder, Oberpostkassier in Stuttgart. Ihr Kassenbuch nimmt man ihr mit Gewalt weg.

Auf Betreiben des Bruders wird sie gegen ihren Willen in die Irrenanstalt Zwiefalten eingewiesen. Sie kommt als Privatpatientin, deshalb fehlt heute ihr Name in den Büchern und Akten des Archivs. Der Bruder nimmt alle Kosten aus ihrem elterlichen Erbe.

In den 16 Monaten, die sie hier bleibt, bis man sie im August 1821 als geheilt entlässt, lernt sie die Schrecken der Anstalt kennen: Fesselung mit dem englischen Hemd, der Zwangsjacke, bei Anfällen Einsperrung in eine Tobzelle, Behandlung durch Irrenknechte. Später kommen Versuche mit Elektrisierung hinzu.

Die ganze Behandlung führt zum Trauma, zur fixen Idee mit dem Päckchen und zu Angstausbrüchen vor allen Personen, die ihr zu nahe treten.

Als Christiane wieder geschäftsfähig war, ihr Kassenbuch zurückbekam, ließ sie den Bruder und den Cousin ihren tiefen Groll wissen. Beide Männer schlugen wild zurück, um die schwierige Frau für immer niederzuschmettern.

Zu seiner Rechtfertigung schrieb der Dekan einen hundsgemeinen Brief, der die Kranke in ihrem Selbstbewusstsein zerstören sollte. Im Geist des sadomasochistischen Pietismus machte Göritz die soeben Entlassene herunter. Sie kranke „an der Schwäche und Verirrung des Verstandes und an Bosheit und Verdorbenheit des Herzens“. Er drohte an: „Besserst Du Dich nicht, bleibt Dein Hochmut, Dein Geiz und Deine Undankbarkeit, so kannst Du freilich nicht gesund werden.“

Zu retten sei sie nur, wenn sie wieder unterrichte. Aber ihren „Hochmut und ihre Ansprüche auf Gelehrsamkeit, ihren Geiz und ihr Mißtrauen gegen Gott“ müsse sie „fahrenlassen“.

In einem langen Brief vollendete der Bruder den Bruch, der mit der Einweisung ins Irrenhaus begonnen hatte. Er hielt die Krankheit lediglich für eine Sache des Willens. Christiane müsse sich selbst anstrengen, solle die Erinnerung ihrer Leiden, das Gefühl des Unrechts und der Kränkungen durch Menschen überwinden. Sie müsse vor allem „in sich arbeiten“, solle nicht länger anderen Leuten Vorwürfe machen.

In Aalen wollte Christiane nicht mehr bleiben. Wohin? Am liebsten nach Jagsthausen. Hegel hätte gerne gesehen, wenn sie in Zwiefalten geblieben wäre.

Christiane wollte nicht, sie blieb ihren geistigen und politischen Interessen treu - Nachklang ihrer besserer Zeiten - machte sich Auszüge aus wichtigen Büchern, verfolgte die häufig hitzigen württembergischen Landtagsdebatten. Sie dichtete viel.

Hegels Biograph Rosenkranz sah ihre Manuskripte noch und urteilte über ihre Gedichte: „Einige derselben, worin sie ihre Liebe irdisch begräbt, um sie in den ewigen Himmel der Erinnerung hinüberzuheben, sind wahrhaft schön.“

Christiane nahm sich 1821 eine Wohnung in Stuttgart. Zu Weihnachten brachte eine Verwandte der Familie Tucher rührende Kinderbriefe der Berliner Neffen. Die Besucherin fand Christiane „recht nett und freundlich eingerichtet, vollkommen hergestellt und heiter und in voller Tätigkeit“, mit Unterricht im Französischen, „der ihr reichlich einträgt.“ Möblierung und Seele klingen stimmungsvoll zusammen.

In Stuttgart war Christiane keineswegs isoliert. Sie hatte Freundinnen aus angesehenen Stuttgarter Familien, bekam Zuwendungen aus Familienstiftungen, selbst aus der Privatschatulle des Königs.

Bald verschlechterte sich ihr Zustand wieder. Zu den alten Ängsten gesellte sich der Verfolgungswahn. Mit fantastischen Verkleidungen suchte Christiane ihre Verfolger zu täuschen. Was einst in politischen Karnevalsaktionen Befreiung signalisiert hatte, war nn Zeichen unheilbaren Leidens geworden.

Christianes Arzt Schelling, der Bruder des Philosophen und Hegels Jugendfreund in Tübingen, erwartete Linderung vor allem von Badekuren in Teinach. Das Wasser dort, so glaubte man, helfe besonders Frauen mit hysterischen Anfällen, die vom Unterleib herrührten. Christiane ging gerne dorthin, wo bessere Herrschaften verkehrten.

Im Juli 1831 besuchte Hegels Schwiegermutter erneut die Kranke. Christiane sei zwar ruhig und gelassen, aber teilnahmslos. Sie wolle nach Teinach gehen.

Heimlich reifte in ihr der Wille heran, ihr elendes Schicksal selber in die Hand zu nehmen. Nachdem sie ihr Testament gemacht hatte, reiste sie nach Teinach, genehmigte sich das erste Hotel des Ortes, die „Krone“. Bald versuchte sie, ihr Leben zu beenden, wollte aus dem Fenster springen oder sich die Adern aufschneiden. Eine Dienerin hinderte sie daran.

Mit dem Tod des angehimmelten Bruders riss der dünn gewordene Lebensfaden. Christiane schrieb ihrer Schwägerin, dass sie sich „in einem traurigen körperlichen und geistigen Zustand“ befinde. Keineswegs umnachtet, ergänzte sie ihr Testament, bedachte ihre Freundinnen und Wohltäter und brachte das Familiensiegel an. Drei Tage später spazierte sie zum letzten Mal das Tal hinunter, an die Nagold.

Später interessierte sich niemand mehr für Christianes Leben und Nachlass. Vor der Publikation schied die Familie aus, was sie als peinlich empfand. Die meisten Papiere blieben wenigstens erhalten.

Der zweite Tod, die Verschleuderung des schriftlichen Erbes, erfolgte erst in den 1950er Jahren. Karl Schumm, verheiratet mit einer Hegel-Enkelin, schrieb 1953 einen kleinen Aufsatz über Christiane, deren Nachlaß aus Familienbesitz noch auf seinem Schreibtisch lag: das Kassenbuch, der Briefwechsel, das Testament, die Gedichte, die Exzerpte aus den Büchern.

Heute ist alles verloren. Vielleicht hat Schumm alles verkauft? Die Familie hat ein letztes Mal aussortiert. Die zahlreichen Briefe an den Bruder sind schon früher weggeworfen worden, sie waren einfach nur peinlich, beschädigten den Ruf einer Familie aus der württembergischen Ehrbarkeit.

Woran brechen Christianes Herz und Lebenswille? An zu großer Nähe zum Bruder? An enttäuchter Liebe? Den Heiratsantrag eines Herrn Gotthold hatte sie abgelehnt, womöglich aus Standesgründen ausschlagen müssen. Das Scheitern dieser Beziehung muss traumatisch gewesen sein, auch Gotthold blieb unverheiratet.

Christiane erlag dem Syndrom des ganzen Zeitalters, das auf dem Flug zur Freiheit abgestürzt war. Sie machte mehr als nur ein persönliches Schicksal durch. Ihr Leben gewann symbolische Bedeutung. Nach der Jahrhundertwende sackte die Blüte ihrer Generation zusammen, erkrankte und verstummte.

Christianes Ängste erscheinen als das Signum einer zermürbenden Niederlage.

 

Dieser Aufsatz, zuerst viel kürzer gehalten, war 1993 von der ZEIT bestellt worden, dem Organ ohne Zensur und mit viel geistiger Freiheit und exorbitanter Kreativität..

Dem Redakteur Benedikt Erenz gelang es zu seinem eigenen Bedauern vier Jahre lang nicht, den Text durch die Redaktionskonferenz zu bringen. Immer lag etwas „Wichtigeres“ vor, wie er mir sagte: ein Ballett in Bochum, eine Auktion in Basel, eine Party in Bonn.

Da gab er auf. Rettung kam von Manfred Bosch und seiner Allmende, einer kleinen Zeitschrift am Rande Deutschlands und weit außerhalb des Mainstreams.

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