Christiane Hegels Grab
Fantastische Kurzerzählung
von Hellmut G. Haasis
Es war Spätnachmittag, goldener Herbstglanz tänzelte auf dem silbernen Band der Nagold. Die Luft des Schwarzwalds roch nach Erfolg.
Am Calwer Friedhof fuhr ein Journalist im Sportwagen vor, hüpfte heraus, schloss nicht ab und stürzte zu den Gräbern. Er sollte noch geschwind eine Theaterpremiere vorbereiten.
Was er hier suchte, kannte er nicht, fand es aber sofort: weit hinten an der eingefallenen Mauer das längst vergessene, von Efeu und Gebüsch überwucherte Grab der Christiane Hegel.
Vor mehr als anderthalb Jahrhunderten waren vier gelangweilte Männer verdammt gewesen, zuzusehen, wie die unglückliche Schwester des Philosophen ins Grab sank. Nach dem Freitod hatte der Fluss sie bei Kentheim angeschwemmt.
Eine geistreiche, wissensdurstige, gelegentlich bockbeinige Stuttgarterin. Aber ein Schandfleck für die Familie und für die Stadt.
Heute Abend kam die Tote endlich auf die Bühne, sie sollte als tolle Geschichte verkauft werden.
Auf dem Grabstein war der Name mehr zu ahnen als zu lesen, nur beim Todesdatum hatten sich im roten Sandstein die Kerben leidlich erhalten. Mit einem Mal schwappte eine bedrohliche Gefühlswelle über den Journalisten hinweg.
Dagegen war er machtlos. Zuerst fühlte er sich enttäuscht: so viele Kilometer für nichts. Dann war er besorgt, was er nach der Premiere Sensationelles berichten sollte. Später verärgert, weil man ihn vielleicht an der Nase herumgeführt hatte.
Abneigung gegen alte, zudem tote Weiber stieg in ihm auf. Angst, sie könnten ihn mit ihren Runzeln und ihrem Geruch anstecken. Würde seine Freundin etwas davon spüren, wenn er das nächste Mal mit ihr schlafen wollte? Wut kam in ihm hoch: Bisher war ihm alles gelungen, alles. Na ja, so gut wie alles.
Zuerst bruddelte er vor sich hin, wurde lauter, als niemand antwortete. Er schreckte auf, als er von weither hörte, wie jemand einen Grabstein anbrüllte. Und mit was für unflätigen Worten. Eine Donnerstimme, wie sie zu Wilhelm Hauffs Holländermichel gepasst hätte, schien da die Grabsteine ins Wanken bringen zu wollen.
Der Berichterstatter blickte um sich, unsicher, schwankte ein wenig. Die Stimme drehte sich ebenfalls, schien ihn nachzuäffen.
Seine Wut kam ins Kochen. Er fühlte sich in seinem Beruf bedroht, wusste nicht, was andere Frauen nun von ihm halten würden. Er sah sich aus dem bisschen Rampenlicht geschoben, in dem er sich zu aalen pflegte.
Das ungeduldiger werdende Gebrüll wollte eine beerdigte Frau ausfragen: warum sie denn tot sei, wen sie wirklich geliebt habe, was sie sich am Schluss eigentlich gedacht habe, was sie von ihrem großen Bruder halte, wie es ihr im Irrenhaus gegangen sei, ob sie die Männer hasse, ob sie sich nicht heute Abend das neue Theaterstück ansehen wolle; zuletzt: was ihre Leibspeise gewesen sei?
Angewidert von dem neugierigen, brutalen Ton, enttäuscht vom Ausbleiben jeder Antwort, zog der Berichterstatter sich in einen hübscheren Teil des Friedhofs zurück. Abgewandt von Christianes Grab, konnte er nicht mehr sehen, wie der Grabstein umstürzte und zersprang.
Nachher wollte der Herr beschwören, es habe einen metallenen Klang gegeben. Aber es war ihm klar: bei einem Sandstein ein Ding der Unmöglichkeit.
Als der Besucher sich umwandte, um sich zu vergewissern, huschte eine spindeldürre Gestalt an ihm vorbei. Ihre schmuddeligen Kleiderfetzen trieften von faulendem Wasser und durchnässten seinen guten Anzug, Modergeruch würgte ihm den Hals.
Von Ekel gezeichnet, schlich der Besucher dem Friedhofsausgang zu, hörte nur noch, wie seine Autotüre zugeschlagen und der Gang von unerfahrener Hand krachend eingelegt wurde. Eine keifige, leicht wahnsinnige Frauenstimme höhnte aus dem wegfahrenden Auto:
"Jetzt ist mein Grab leer. Kannst dich selbst reinlegen und ausprobieren, ob mein Leben dir schmeckt. Dieses Land hat nur drei Ausgänge: Gefängnis, Irrenhaus oder Friedhof."
(1993, verbessert 2002/2007)