Edelweißpiraten
Edelweißpiraten
Ein einstiger Teilnehmer
der wilden Jugendbewegung gegen die Nazis
wird von seiner Jugendzeit eingeholt
Erzählt von Hellmut G. Haasis
Noch erstaunlich frisch verlässt Arnold Kriwitzki das Hochhaus der Telekom. Ein heißer Spätnachmittag. Ist das heute wieder ein Hetze gewesen. So denkt in ihm der Feierabend vor sich hin. Mal wollte man von ihm einen raschen Telefonanschluss haben, mal gab's eine viel zu eilige Besprechung wegen eines neuen Schaltplans für die Altstadt.
Und dann noch diese zwielichtige Abhörvorrichtung, bei einem der bekanntesten Gegner des nahen Atomkraftwerkes. Der Mann soll den letzten Transport von Uranmaterial blockiert haben, mit einer angeblich konspirativen Organisation. Wie diese Leute zusammenhängen, will man jetzt herausbringen.
Wie? Einfach durch Reinhören ins Telefon. Ein wenig illegal, aber das brauche niemand zu interessieren, sagte der Sicherheitschef.
Immer mehr muteten die höheren Herren ihm, dem gelernten Fernmeldehandwerker, die Aufgaben des Abteilungsleiters zu. Gut, dass er sich vor zwei Wochen endlich einen Ruck gegeben und seine Bewerbung für den Posten abgegeben hatte.
handschriftliches Flugblatt von Wuppertaler Edelweißpiraten
Gerade will Kriwitzki in sein Auto einsteigen, da fällt sein Blick auf einen grauen Mercedes, rechts vor ihm. Wer sitzt denn bei dieser Hitze freiwillig in einem Auto, um Zeitung zu lesen? Tickt der Kerl überhaupt richtig?
Das Kennzeichen ist Kriwitzki unbekannt. Der Wagen kommt weit her, erkennt Kriwitzki mit Respekt. Aber fremde Fahrer werden hier grundsätzlich nicht geduldet. Dafür sorgt der Werksschutz.
Kriwitzki wirft sich in seine Saunakiste. Fenster auf und Kühlung an. Komisch dieser Schlitten da vorne. Wie der den linken Außenspiegel verstellt hat. So sieht der im Verkehr keinen Pfifferling.
Während Kriwitzki den Blickwinkel des Rückspiegels abschätzt, durchstechen ihn in dem schmalen Glas zwei zugekniffene Augen, erschrecken und fahren zurück.
Die Zeitung geht wieder hoch. Kriwitzki kommt es rätselhaft vor, aber er macht sich nichts draus. Geht mich nichts an. Ich muss nicht alles wissen.
Beschwingt denkt Arnold an seine Vorliebe für Abenteuer-, Detektiv- und Kriminalgeschichten. Wäre ja irre, wenn ich, der kleine Fernmeldehandwerker, einen internationalen Rauschgiftring knacken könnte. Hoffentlich eine große Belohnung. Und die öffentliche Ehrung in der Zeitung. Dann würde ich sicher Abteilungsleiter.
Zuhause will Kriwitzki sich ein frisches Hemd holen. Da packt ihn die Lust, aus dem zweiten Stock seine Erdbeerbeete zu besichtigen. Aber was fährt denn da vobei? Ist das nicht der graue Mercedes vom Parkplatz heute Nachmittag? Und wie langsam. Der Fahrer schaut suchend nach dem Hauseingang. Stimmt die Autonummer überein? Wer weiß, ich kann mich ja irren. So viele Buchstaben und Zahlen. Aber die Stadt, das wird Kriwitzki noch später beschwören, die ferne Stadt, die stimmt.
Am Ende der Straße, auf dem Wendeplatz, sieht Kriwitzki den Wagen umkehren. Bis der zurückkommt, will Arnold sich unsichtbar machen. Er schließt rasch die Fenster und tritt so weit zurück, dass er wenigstens am unteren Rand des Fensterrahmens das Auto knapp vorbeifahren sehen müsste.
Aufruf der Wuppertaler Edelweißpiraten zum Widerstand
Doch der Wagen kommt nicht. Ist der auf der Wendeplatte stehengeblieben? Arnold muss es wissen. Der Kriminalist pirscht ein Stockwerk höher auf den Dachboden. Was für eine Sauhitze, so scheußlich wie im Auto. Aus dem Dachfenster sieht er den grauen Mercedes vor dem Nachbarhaus parken. Drinnen wieder eine erhobene Zeitung. Herrschaftssechser, so ein Balla.
Dieses Mal prägt sich Arnold die Autonummer ein.
Die Hitze spürt Kriwitzki nicht mehr. Nichts davon, dass Schweißperlen auf das neue Hemd tropfen. Verdammt unbequem ist es hier am Sehschlitz: nicht aufrecht, nicht in den Knien, so dusselig zwischendrin. Nicht dran denken, nicht nachlassen.
Endlich: die Zeitung sinkt. Die Wagentür öffnet sich. Ein schlanker Dreißiger steigt aus und schaut sich um. Den Wagen schließt er nicht mal ab. Aha. Ein Unvorsichtiger. Den krieg ich.
So rasch wie möglich kehrt Kriwitzki ins Schlafzimmer zurück, das ihm für die Nahbeobachtung günstiger vorkommt. Der Mensch da unten schlendert mit den Händen in den Hosentaschen am Haus vorbei. Wie der schaut, muss der ja meine Eingangstür im Visier haben.
Kriwitzki weicht zurück. Nicht lange kann er an sich halten, da treibt es ihn wieder ans Fenster. Erstaunt spürt er eine Änderung bei sich: Warum sind meine Knie bloß weicher geworden? Liegt's an der Hitze? oder an der aufregenden Detektivarbeit?
Edelweißpiraten auf einer von den Nazis nicht genehmigten Fahrt
Erstmals spürt er sein Herz im Hals klopfen. Lächerlich! Kleinigkeit, so ein grauer Merecedes-Typ da. Armleuchter! Was macht der da unten bloß? Der ist ja gut. Kehrt zurück, stellt sich ermüdet - wie wenn der etwas gearbeitet hätte. Hat bloß dauernd im Auto gesessen. Penner. Also Finte. Aufpassen, alter Kriwitzki, die Belohnung winkt. Und wenn das ein richtiger Terrorist ist? Da gibt's noch mehr Kohle, gell? Traumhaft.
Der verdächtige Herr setzt sich mit seiner dunkelbraunen Hose vorne auf die Gartenmauer, mit dem Rücken zum Haus. Der spielt gut den müden Mann. Jetzt holt der Typ aus seiner Gesäßtasche Taschenspiegel und Kamm raus und beginnt seine spärlichen Haare zu kämmen. Die sind ja nicht mal zerzaust. Hat der Sorgen.
Den Spiegel dreht er suchend nach links und rechts, mal nach oben und wieder nach unten. Komisch, so kann man sich doch nicht kämmen. Kriwitzki ahnt, wie der Spiegel die Fenster des Erdgeschosses entlang geht, jetzt bei der Haustür stehenbleibt und in den ersten Stock hochschwenkt. Hin und zurück.
Plötzlich fallen wieder zwei angestrengte Augenpaare ineinander. Arnold Kriwitzki stürzt in die Tiefe des Zimmer zurück, wirft sich auf den Boden und geht erst später langsam geduckt hoch.
Da schlägt eine Autotür. Der Diesel springt an und fährt aufheulend weg. Arnold kann sich nur noch überzeugen, dass der graue Wagen wirklich verschwunden ist.
Gudrun Kriwitzki, vom Einkauf erschlagen, findet ihren Arnold verstört vor. Er kommt nicht wie sonst herunter, um ihr die Taschen hochzutragen. Er antwortet nicht, wenn sie etwas von ihm wissen will. Dagegen stellt er mit heruntergezogenen Augenbrauen und verschwörerisch gesenkter Stimme die seltsame Frage: Hast du einen grauen Mercedes Diesel gesehen?
Warum denn? Natürlich nicht. Soll ich mit den beiden Taschen auch auf dämliche Autos aufpassen? Dabei kann ich Diesel gar nicht leiden. Diese Stinkautos.
In der Waldgaststätte treffen sie, wie immer an so schönen Abenden, eine lange Schlange am Ausgabeschalter. Alles läuft ab wie gewohnt. Bis Arnold zusammenzuckt, ein Stöhnen von sich gibt, zittrig sein Glas abstellt und verschüttet.
Gudrun fällt auf, wie blass Arnold aussieht und seine Augen starr auf den Nachbartisch gerichtet hält. Arnold weist sie mit flehendem und zugleich erschrockenem Blick zur Ruhe.
Erst als der Gast am Nachbartisch geht und Arnold lange dem entschwindenden Rücken nachsieht, getraut sich Gudrun zu fragen. Arnold kehrt alles heraus, was ihm heute merkwürdig vorgekommen ist. Schon beim Erlebnis auf dem Parkplatz lächelt Gudrun. Bei der Detektivarbeit im Schlafzimmer und am Fenster des Dachbodens prustet sie los: Mein lieber, alter Abenteurer!
Beleidigt stiert Arnold in sein Glas. Das ist noch nicht alles. Gestern haben sich zwei Kollegen in der Kantine nicht zu mir setzen wollen, mit denen ich mich immer gut vertragen habe. Vom Nebentisch haben sie geheimnisvoll herübergeschaut und miteinander getuschelt. Vor vier Tagen, vielleicht vor einer Woche, bin ich in eine Abteilung gekommen. Bei meinem Eintreten hat eine lebhafte Unterhaltung schlagartig aufgehört. Alle haben sich abgekehrt. Keiner hat mich angesprochen.
Seit wann beobachtest du das? will Gudrun wissen.
Nun ja, nachdem ich meine Bewerbung für den Abteilungsleiterposten abgegeben habe.
Aha! Für Gudrun steht außer Zweifel: Alles kommt nur vom Neid. Vielleicht verübeln sie dir, dass du Chef werden willst. Die befürchten eben, dass du dich nachher unkollegial verhältst. Du wirst schon sehen: nach einer Anlaufzeit wird sich alles geben. Im übrigen siehst du Gespenster: Opfer von deinen Krimis.
Sie lacht herzlich. Arnold versteht ihre Fröhlichkeit nicht.
*****
Köln, öffentliches Henken von elf Ost-Zwangsarbeitern 25. Oktober 1944. Ähnlich endeten mehrere Edelweißpiraten, zusammen mit Zwangsarbeitern.
Die nächsten Wochen lassen Gras über die Sache wachsen. Bei der Arbeit fällt nichts von Bedeutung auf. Die Kollegen verlieren ihr absonderliches Benehmen.
Da wartet ungefähr drei Wochen später eines Abends ein Herr im braunen Anzug auf Arnold, am Auto. Das Gesicht kommt Arnold bekannt vor. Etwas Unangenehmes verbindet er damit. Ein Gefühl von Bedrohung kriecht in seinem Hals hoch. Er muss sich räuspern und wird im selben Augenblick angesprochen:
Herr Kriwitzki, darf ich Sie einen Augenblick alleine sprechen?
Arnold weicht zurück und bringt kein Wort heraus.
Ich wollte Sie nicht drinnen bei der Telekom aufsuchen. In Ihrem eigenen Interesse sprechen wir lieber unter vier Augen miteinander.
Arnold Kriwitzki fängt sich mit Mühe. Was wollen Sie? Was habe ich mit Ihnen zu tun? Mit wem habe ich die Ehre? Arnold fällt in einen scharfen Ton.
Der andere lächelt verständnisvoll: Ich sehe, Sie kennen mich nicht. Auch gut. Hier mein Ausweis.
Arnold buchstabiert: A De O El Ef - Adolf - Be El E I Be Te Er E U. Bleibtreu. Adolf Bleibtreu, Landesamt für Verfassungsschutz. - Na und?
Wir haben in Ihrer Akte gewisse Unstimmigkeiten, ja regelrecht Auffälligkeiten entdecken müssen. Zu unserem eigenen Bedauern. Ich bin gekommen, um alles ins Reine zu bringen. Es liegt ganz in Ihrem eigenen Interesse, dass diese nachteiligen Dinge einer Klärung zugeführt werden.
Er legt den Ton eines knochentrockenen Bürokraten auf. Kriwitzki staunt über die schauspielerischen Fähigkeiten des Herrn Verfassungsschützers.
Zu Ihren Gunsten selbstverständlich. Will ich wenigstens annehmen. Andernfalls sehen wir keine Möglichkeit, Ihre Bewerbung vom Amt aus zu befürworten. Herr Kriwitzki, wollen wir nicht beide zusammenarbeiten, um diese Unklarheiten in Wegfall kommen zu lassen?
Arnold fährt es in den Magen. Schleim Schleim Schleim. Ein Deutsch zum Ausrutschen.
Herr Kriwitzki, gehen wir vielleicht in ein nahegelegenes Restaurant? Das Ganze dauert keine halbe Stunde. Wir sollten nur wissen, warum Sie sich damals im Dritten Reich nicht normal verhalten haben, ganz wie die meisten anderen Deutschen. Wir müssen auch wissen, wie Sie heute zu dieser Zeit und zur großen Geschichte unseres Volkes stehen.
Halb lässt sich Kriwitzki abschleppen, halb interessiert ihn selbst, was da in seiner Personalakte zu klären wäre.
Im Restaurant steuert Adolf Bleibtreu gleich auf Arnolds Lehrzeit in den Jahren 40 bis 43 zu. Er verlegt sich aufs Verharmloseb: Schauen Sie her, es gibt ja berühmte Leute, die damals glaubten, sich dem Nationalsozialismus nicht anschließen zu können. Eigentlich darf man das heute niemandem mehr verübeln.
Arnold wird bei den alten Geschichten beklommen, er hört eine Aufmunterung heraus. Bleibtreu legt ihm nahe:
Sagen Sie alles möglichst offen, dann ist die Bewerbung so gut wie geritzt. Wenigstens was das Politische betrifft. Das Fachliche geht doch wohl in Ordnung?
Kriwitzki richtet sich auf und strafft seinen Rücken: Na klar. Ich versehe schon seit mehr als einem Jahr praktisch alle Aufgaben des Abteilungsleiters.
Arnold erzählt von der Lehre und vom alten Fernmeldeamt bei der Reichspost, von seinem Lehrmeister und von den ersten Bombenangriffen.
Adolf Bleibtreu winkt ab: Das kenne ich schon alles. Das Politische interessiert mich, mein Herr, das damals Abnormale.
Arnold lehnt sich abwehrend zurück: Politisch? Ich bin nie in einer Partei gewesen und in der HJ nur gezwungen. In der Pflicht-HJ habe ich mich selten im Dienst sehen lassen.
Bleibtreu erhebt den Finger und stürzt, einem Mäusebussard gleich, damit aus der Luft mitten in ein Karo auf der Tischdecke. Genau, das interessiert mich brennend. Das mit der HJ oder eher das gegen sie. Noch nie habe ich so etwas gehört. Immer ist mir vorgemacht worden, alle wären bei der HJ mitgelaufen.
Kriwitzki erwärmt sich bei Bleibtreus Ermunterungen. Angefangen hat das alles, als uns ein unpraktischer, linkischer Gymnasiast als HJ-Führer vorgesetzt wurde. Der hatte keine Ahnung von Technik, wollte uns aber befehlen, was wir an den Motorrädern einer SA-Motoradstaffel zu tun hätten. Das gab sofort Reibereien. Der HJ-Führer revanchierte sich, wenn wir ihn wegen seiner technischen Dummheit blamiert hatten. Dann schickte er uns extra auf Streifendienst. Zur Strafe.
Adolf Bleibtreus Augen glänzen. Was? Wirklich? Jungen als Hilfspolizisten?
Kriwitzki dämpft. Nicht gegen Erwachsene. Das war Sache der Schutzpolizei, der SA und in schweren Fällen der Gestapo. Nein, wir hatten die Jugendlichen zu kontrollieren, warum sie sich auf der Straße aufhielten und nicht beim Dienst in ihrem Fähnlein der Hitlerjugend. So ab 41, glaube ich, gab es die Pflicht-HJ. Da konnte sich keiner mehr drücken. Außer einigen schwarzen Schafen. Die wurden wegen Schwänzens des Dienstes oder wegen Ungehorsams ausgeschlossen, mit Schimpf und Schande. Und die trieben sich abends im Rosenpark herum, am unteren Anlagensee, oder draußen am Kanal, wenn es warm war. Bei ihren Treffs hatten sie oft eine Gitarre dabei. Zuerst sangen sie bekannte Schlager. Bei diesen kleinen Gruppen waren auch Mädchen, während sonst im Dritten Reich Jungen und Mädchen streng getrennt wurden. Das und der ständige Dienst in der HJ waren so das Wesentliche unserer Jugendzeit. Als HJ-Streifendienst hatten wir die Aufgabe, diese Jugendlichen aufzuschreiben, zur HJ zu schleppen oder ihnen einfach die Klampfe abzunehmen.
Enttäuscht brummt Adolf Bleibtreu: Das war alles? So eine Bagatelle.
Bagatelle?
Arnold fährt beleidigt auf. Dann haben Sie keine Ahnung von den Nazis, poltert er, so dass Bleibtreu zusammenfährt. Damals war alles verboten, was sich außerhalb der Nazis bewegte. Die sahen in solchen wilden Jugendgruppen eine Konkurrenz zu ihrem absoluten Machtanspruch. Schließlich konnte nicht ausbleiben, daß diese wilden Jugendtreffs sich gegen die HJ-Streifen zur Wehr setzten. Mir war es sowieso nicht recht, die Jungen und Mädchen meines Viertels zu verpetzen. Anfangs hielt ich mich bloß zurück. Später warnte ich sie vorher, wenn eine Streife angesagt war.
Adolf blickt vorsichtig, aber lauernd auf und fragt erstaunt: War das rechtens, Herr Kriwitzki?
Nun ja, gibt Kriwitzki lachend zu, so ganz im Sinne des Erfinders lag das nicht. Aber schließlich befanden sich unter diesen Jugendlichen meine ehemaligen Klassenkameraden, Lehrlinge wie wir, aus demselben Viertel, viele aus derselben Straße. Langsam wuchs bei denen eine Feindschaft gegen uns heran, vielmehr gegen die HJ, nicht gegen Leute wie mich. Dann kamen wieder alte Lieder der verbotenen Bündischen Jugend aus den Zwanziger Jahren auf. Den Text änderten sie einfach ab, wie sie's brauchten. Mit der Zeit wurden in den Liedern die Töne schärfer.
Adolf Bleibtreu spitzt seine Ohren. Er will wissen, ob Kriwitzki noch ein Lied kenne.
Und ob, braust Arnold auf. Diese Lieder vergessen? Unmöglich. Die sangen wir ja jahrelang Abend für Abend, auch nach dem Kriegsende. In einem, zum Beispiel, griffen wir den HJ-Reichsführer an, den Baldur von Schirach.
Kriwitzki fängt zu singen an, gedämpft, aber für Bleibtreu peinlich.
Wilde Gesellen vom Neckarstrand,
Verfolgt von Schirachs Banditen.
Na, war das nicht gut? Die HJ als Banditen, als richtige Verbrecher, nicht wahr, Herr Bleibtreu?
Kriwitzki lebt auf, scheint gerade am Lagerfeuer zu sitzen, einen guten Kumpel neben sich, den er für einen Kundschaftergang auszeichnen will. Und da schlägt er Adolf Bleibtreu auf die Schulter.
Adolf sinkt zusammen und schaut kläglich zum großen Häuptling hoch.
Arnold läßt nicht nach, er ist weit weg und singt aus einem anderen Lied:
Hakenkreuz vernichten wir auf weißem Feld,
Mädels mit dem Edelweiß vom Rhein,
tragt das Zeichen treu und stolz,
bis wir kehren wieder heim,
wir Männer vom Edelweiß.
Brauset einst der Sturm herbei,
wird von unseren Hieben
deutsches Land auf ewig frei
von den fremden Dieben.
Kriwitzki ist nicht mehr zu bremsen: O ja, bei einem Lied lachten wir immer wie die Irren. Das sangen wir, wenn uns später, als ich selbst bei denen war, eine HJ-Streife begegnete.
Kriwitzki ballt die Fäuste.
Und im Graben der Chaussee
liegt der Streifendienst juchhee,
sieht uns starten, Edelweißpiraten,
nur mit Schmerz und Weh.
Kriwitzki kann sich nicht mehr halten. Er lacht brüllend auf.
Das Gesicht Adolf Bleibtreus hat bei dieser Strophe die gewohnten rechten Winkel zurückgewonnen. Sachte stößt der Beamte vor, er wittert sein Auftragsziel näherkommen:
Meinen Sie nicht, Herr Kriwitzki, dass diese Lieder eine Aufforderung zur Gewalt bedeuteten? Und wie stehen Sie heute dazu, zu der zentralen Frage des freiheitlichsten Staates aller Staaten, zur Gewaltfrage? Bittä!
Köln, Gestapohauptquartier in der Elisenstraße. Aufschriften Häftlingen in einer Haftzelle
"Wenn keiner an dich denkt, deine Mutter denkt an dich. Hans Weinsheime 1944"
Arnold ist schon so lange und tief im Gefecht gegen die Nazis verwickelt, dass er nichts vom lauernden Unterton bemerkt.
Ich ging immer mehr zu den wilden Jugendtreffs über. War einfach toll, so ungezwungen sich zu treffen, mal mit einem Mädchen anzubändeln und Lieder zu singen. Und dann nannten auch wir uns bald Edelweißpiraten. Einer brachte von seiner großen Fahrt ins Rheinland ein Edelweißabzeichen mit. Ließ er sich durch einen Soldaten in einem Uniformgeschäft kaufen. Der erzählte uns, in Düsseldorf, Köln und Essen gäbe es viele Gruppen von Edelweißpiraten. Klar, dass auch wir Edelweißpiraten sein wollten. Wir steckten uns das Abzeichen unter den Hemd- oder Jackenkragen. Wenn wir auf Fahrt gingen, Samstag, Sonntag oder im Urlaub, trugen wir das Abzeichen offen. Das mit der Gewaltfrage, das war für uns überhaupt keine Frage. Wir waren Arbeiterkinder und wuchsen in einem Arbeiterviertel auf. Da war Keile selbstverständlich.
Bleibtreu will sich entspannen. Es gelingt ihm nicht, denn Kriwitzki macht weiter und redet sich in Begeisterung.
Wenn wir am Samstag mit unseren Rädern zur Fahrt an die entfernten Stauseen ins Waldgebirge fuhren, um wild zu zelten, hielt uns am Stadtrand eine HJ-Streife an. Die stänkerte, wir würden eine verbotene Uniform tragen. Dass ich nicht lache. Wir hatten alle kurze Hosen an, weiße Kniestrümpfe, bunte Hemden, weiße Halstücher und eben unser Edelweißabzeichen. Unsere heimlich Uniform.
Bleibtreu fühlt sich hin- und hergerissen. Eine Uniform ist ja was Schönes, aber nicht bei solchen unordentlichen Leuten. Entsetzlich. Er friert.
Das sei verboten, sagten die uns.
Arnold gönnt Bleibtreu keine Pause.
Wir seien die verbotene Bündische Jugend. Beim ersten Mal nahmen sie uns nur die Klampfe ab. Beim zweiten Mal waren wir besser auf Draht: Wir brannten in wilder Jagd auf Nebenwegen durch. Beim dritten Mal - ja, da brachten wir was Feines mit. Was glauben Sie wohl, Herr Bleibtreu?
Bleibtreu blickt nicht durch. Er ist völlig überfordert.
Kriwitzki hat Mitleid mit so viel Unwissenheit. Schöne, dicke Prügel. Mit wenigen Schlägen prügelten wir uns frei. Das hätten Sie sehen sollen. Auch Sie wären begeistert gewesen.
Adolf zuckt zusammen, duckt sich noch mehr und zieht sich vom Tisch zurück, soweit es geht. Er will nicht dabei sein, will nichts hören, er will eigentlich schon fort sein.
Kriwitzki lässt nicht locker. Später holten die Bettnässer sogar die SA. Dafür bekamen sie Dauerdresche, wo wir sie in der Stadt erwischten. Nach dem HJ-Dienst lauerten einmal alle Edelweißpiraten den braunen Jünglingen auf. Alle 120 schlugen wir in fünf Minuten in die Flucht. 120, sage ich, die anderen. Wir waren nur um die 70. Von da an, das war so um die Jahre 42 oder 43, ließen viele Mütter ihre Kinder nicht mehr in die HJ. Aus lauter Angst vor uns. Die SA machte wohl einige Razzien gegen uns, aber insgesamt hatten wir Ruhe vor dem HJ-Streifendienst.
Bleibtreu sammelt seine Sinne und erhebt seine Stimme, schüchtern, weil er vor so viel Unordnung sitzt wie noch nie in seinem Beamtenleben: Und heute, was halten Sie heute von solchen Terrorakten?
Kriwitzki ist perplex. Terrorakte? Was? Das sind Terrorakte für Sie?
Er atmet erstmals durch, etwas erschöpft. Wir wurden von den anderen angegriffen und angezeigt und hätten nicht mehr auf freie Fahrten gehen dürfen. Viele von uns wurden vorzeitig eingezogen und an die gefährlichsten Fronten strafversetzt. Gefallen sind die wie die Fliegen. Ich selbst ging mit vierzehn anderen hops, wurde von der SA festgenommen und der Gestapo übergeben. Zuerst nur eine Nacht im Bunker, der Kopf kahlgeschoren und dreißig Schläge auf den Hintern. Was sagen Sie dazu?
Bleibtreu zieht es vor, nichts zu sagen. Ein kluger Beamter, der es noch zu etwas bringen kann.
Das zweite Mal kamen wir in ein Jugend-KZ mit Stehbunker und Dunkelhaft. Und immer wieder gab es nächtelang Verhöre, Mit Ochsenziemer, Vierkanthölzern oder Stuhlbeinen hat man Leute von uns zu einem blutigen Klumpen geschlagen.
Kriwitzki holt Luft und bellt Bleibtreu an: Da nennen Sie unsere Abwehr Terrorakte?
Adolf Bleibtreu lässt sich nicht beirren in seiner schon wieder zackigen Haltung. Gedehnt, wie wenn er einen überfüllten Gerichtssaal unterrichten müsste, erklärt er:
Damit hat das Landesamt für Verfassungsschutz nicht das Geringste zu tun. Wir wollen von Amtswegen nur noch hören, wie Sie heute zur Gewalt stehen.
Bleibtreu wird langsamer, er spricht noch betonter, fast abgehackt: Halten Sie Besetzungen von abbruchreifen, schon lange leerstehenden, aber noch brauchbaren Häusern für richtig?
Kriwitzki erkennt nicht die Wendung des Gesprächs. Warum eigentlich nicht? Meine Tochter hat mir in den letzten Jahren einiges beigebracht. Da erkenne ich manches Ähnliche, was uns damals im Dritten Reich geärgert hat.
Bleibtreu legt seinen gezückten Bleistift ruhig auf dem Tisch. Wollen Sie damit sagen, wir hätten heute wieder eine Nazidiktatur?
Arnold abweisend: Das habe ich nicht gesagt. Nur so einige widerliche Züge kommen mir verdammt bekannt vor, einem alten Edelweißpiraten.
Danke, das genügt, das wollte ich nur hören, erklärt Bleibtreu hochzufrieden, zahlt und verschwindet.
*****
Zuhause brummt Gudrun: Warum kommst du so spät? Weißt du nicht mehr, dass wir heute zu einem Gartenfest unseres Ältesten fahren wollen?
Mühsam schleppt sich Arnold dorthin, zerschlagen und kopflos. Einsilbig sitzt er am Grill und bringt es gerade noch zum Wenden der Schweinehälse.
Beide Söhne wetteifern, wer bessere Tricks für Steuerbetrug kennt, den sie zeitgemäß Sparmaßnahme nennen. Konrad, der ältere Sohn und Banker, hat auch heute die Nase vorne gegen den jüngeren.
Nur der Tochter Daniela, der Jüngsten, passt wieder gar nichts, denkt die Mutter. Der Freund Johny war nur mit Mühe hierher zu bringen. Dabei hat es doch die gut aussehende Daniela wirklich nicht nötig, in einer wilden Ehe mit so einem Hungerleider zu leben, denkt die Mutter. Und fürs erste verdient sie als medizinisch-technische Assistentin ja nicht schlecht. Der Johny bekommt als befristet angestellter Sozialarbeiter nicht mal so viel wie Daniela. Dass der sich nicht geniert. Geschieht ihm recht, wenn ihn die ganze Familie noch siezt.
Daniela und Johny setzen sich zum alten Kriwitzki, verärgert über die neueste Wendung des Familiengesprächs zu den Vorzügen des jeweiligen Drittwagens zu zweit.
Aus dem alten Kriwitzki bringen sie heute aber auch gar nichts heraus.
Ja wie: du hast dich um den Abteilungsleiterposten beworben? Und nun Ärger, bevor du die Beförderung in der Tasche hast? Kein gutes Zeichen.
Annähernd alles muss Daniela ihrem Vater aus der Nase ziehen. Die Observierung vor einigen Wochen kommt noch am schnellsten zutage. Dann Einzelheiten des Verhörs von heute.
Was dem alles zugrundeliegt, Arnolds Leben bei den Edelweißpiraten, ist Daniela so gut wie unbekannt. Nur einmal, als in der Familie mehr aus Versehen an einem 20. Juli das Gespräch auf den Widerstand im Dritten Reich gekommen war, hatte Arnold Kriwitzki angedeutet: Da hat es noch einen ganz anderen Widerstand gegeben als den der hohen Herren und Generäle. Aber das ist jetzt nicht gefragt.
Mutter hatte damals gleich abgewinkt: Hör bloß damit auf. Ich will nichts davon hören.
Nachher hatte Daniela rausbekommen: Wilde Jugendgruppen, Edelweißpiraten genannt, hatten die HJ so verprügelt, dass diese abends über bestimmte Straßen nicht mehr ziehen konnte. Und das mitten im Krieg.
Mehr hatte ihr Vater nicht sagen wollen, außer noch das eine, dass er dafür schwer misshandelt worden sei. Diese Rechnung ist noch nicht beglichen.
Genau dieser Nachsatz hatte sich in Danielas Erinnerung eingegraben. Auf einmal versteht die Tochter, warum sie gegen Unterdrückung immer allergisch gewesen war und warum sie darüber am besten mit ihrem Vater reden konnte, nie mit ihrer Mutter. Die stellte sich ausnahmslos auf die Seite der mächtigen Herrschaften. Lebensklugheit nannte sie das.
Könnt ihr das verstehen? fragt Kriwitzki die beiden, wie wahnsinnig befreit ich mir vorkam, als ich zum ersten Mal eine wilde Radfahrt ins Waldgebirge mitmachte? Wild meinte einfach nichtorganisiert, ohne die Nazis. Ich drehte schier durch. Vor lauter Lust kletterte ich draußen die erste Tanne, die ich erwischte, hoch und schwang mich oben wie ein Eichhorn zur nächsten. Fast wäre ich abgestürzt.
Kriwitzkis Gesicht hellt sich auf und wird fast fröhlich.
Zum ersten Mal konnte ich tun und lassen, was mir passte. Da gab es morgens kein Wecken mit Appell "Heil Hitler". Man musste nicht bei jedem Hennendreck mit "Heil Hitler" grüßen, keine dämlichen Vorträge über das deutsche Wesen anhören, "Heil Hitler", und über die weltweite Judenverschwörung, "Heil Hitler", und über die Minderwertigkeit der slawischen Rasse, "Heil Hitler", und über das perfide England, erst recht "Heil Hitler". Oder erst noch über Rassenschande, wenn einer eine jüdische Freundin hatte.
Kriwitzki schüttelt sich, wie wenn er eine Last losgeworden wäre. Zu einer politischen Stellungnahme wurden wir eigentlich erst gezwungen, als die HJ uns schärfer verfolgte. Dann griffen wir die Nazis von uns aus an, wo wir konnten.
Was für eine politische Bildung habt ihr denn gehabt? will Daniela wissen.
Ha ha, höre ich richtig: politische Bildung? Kriwitzki will lachen, findet es aber selbst gar nicht so lustig. Wir sind samt und sonders im Jungvolk gewesen, dann in der Hitlerjugend. Unsere politische Bildung? Die bestand aus nichts als den Nazisprüchen und dem ewigen Dienst mit "Heil Hitler" vorne und hinten.
Ja, hat nicht der eine oder andere von euch ein sozialdemokratisches oder ein kommunistisches Elternhaus gehabt? Johny will nicht aufgeben.
Einige wenige. Mein Vater ist immer vorsichtig gewesen, einst Gewerkschaftsmitglied bei den Metallern, aber nie hervorgetreten. Einem von uns hatten sie den Vater, der war früher in der KPD gewesem, nach Dachau verschleppt. Dort soll er umgebracht worden sein. Genaueres hat die Familie nie herausbekommen.
Kriwitzki sitzt versunken da, nicht mehr so enthusiastisch wie vor kurzem. Mag sein, dass hier und da nazifeindliche Hintergründe im Elternhaus existiert haben. Aber solange wir strammgläubige Hitlerjungen waren, konnten die Eltern in ihrer eigenen Wohnung vor uns Jungen nicht viel sagen. Unser Mitmachen bei den Edelweißpiraten duldeten sie und taten meistens so, wie wenn sie nichts wüssten.
Daniela staunt. Noch nie hat sie ihren Vater aus diesem Blickwinkel gesehen. Warum hast du mir nie etwas davon erzählt?
Arnold beugt sich vor, mit scheuem Blick zu seiner Frau hinüber: Lass das, Mutter will davon nichts hören. Sie hat immer alle Konflikte dieser Art abgelehnt. So sind diese Dinge in mir verschüttet worden.
Die beiden Jungen müssen sich äußerst konzentrieren und beugen sich vor. Sie spüren, dass sie hier ein einziges Mal in ihrem Leben etwas erfahren, was Arnolds Innerstes berührt und was er künftig kaum mehr offenlegen würde.
Das Schlimmste, das Brutalste, das konnte ich der Gudrun nie sagen. Daniela und Johnny springen darauf an. Mit Liebe, Energie und mit List - indem sie Kriwitzkis Stolz kitzeln - lösen sie seine seit einem halben Menschenleben gefesselte Zunge.
Also: während des Krieges wurde unsere Stadt zunehmend zerbombt. Nur unsere Wohnung erwischte es zum Glück nicht. Die Meisten wohnten auf dem Land: evakuiert nannte man das. Immer weniger gab's zu essen und immer mieseres Zeug. Als erklärte Nazigegner stießen wir bald auf Fremdarbeiter. Je chaotischer es in der Stadt zuging, desto mehr Zwangsarbeiter liefen von ihren Arbeitsstellen davon, tauchten unter und lebten in den Ruinen. Wenn sie erwischt wurden.....
Kriwitzki kann eine Weile nicht weitersprechen. Es schüttelt ihn. Daniela und Johanny wissen nicht, ob er weint.
Sie mussten mit der Hinrichtung rechnen, die Fremdarbeiter. Folglich, ja sie besorgten sich Waffen.
Kriwitzki gewinnt Energie zurück. Sie wollten ihr bisschen Leben teuer verkaufen. Denen halfen wir einige Male, brachen mit in Vorratskeller von Spekulanten und Nazis ein und verteilten die Beute an untergetauchte Politische und Zwangsarbeiter.
Kriwitzki wird noch leiser und presst seine Stimme fast in sich hinein. So kamen wir nach und nach zu eigenen Waffen und brachten es zu einem ansehnlichen Waffenlager. Jeder von uns hatte mindestens zwei Pistolen und 20 Schuss Munition. Unsere Gruppe besaß sogar ein MG, erbeutet beim Überfall auf eine Polizeiwache.
Der Gedanke an eine große Waffe fährt den beiden Jungen durchs Herz.
Die Bullen bekamen mit, dass wir bewaffnet waren. Sie führten Razzien durch. Wenn die sich nachts leichtsinnig weit in dunkle, zerbombte Viertel hineinwagten, mussten sie mit Schüssen aus den Trümmern rechnen. Da waren ja nicht nur wir, die wilde Jugendopposition, sondern Hunderte von verschleppten Zwangsarbeitern. Vorne am Marktplatz - - -
Kriwitzki kann eine gute Weile nicht weitersprechen. Die anderen sind wie gelähmt.
Also, am Marktplatz kam es Mitte 44 zu einem regelrechten Gefecht. Die Gestapo zog alle verfügbaren Kräfte zusammen. Geschlagene zehn Stunden brauchte sie, bis sie das Widerstandsnest zum Schweigen gebracht hatte. Am Schluss, als auch die Nazis erschöpft waren, haben sie ihre Gegner einfach in die Luft gesprengt.
Johny ist sprachlos. Er schweigt lieber, er weiß selbst nicht, ob aus Ehrfurcht vor den Opfern oder aus Ehrfurcht vor Arnolds schmerzhaften Gefühlen, die er heraushört.
Daniela fängt sich eher. Als Einheimische will sie wissen: Welches Gebäude steht heute an dem Platz, wo diese Widerstandsgruppe sich verschanzt hatte?
Der alte Kriwitzki müde: die Dresdener Bank.
Daniela bohrt erregt weiter: Gehört dahin nicht eine Gedenktafel?
Dem Alten ist das Ganze fremd: eine nie erwogene Idee. Daniela, das ist gut gemeint, aber naiv. Die Nazis von damals haben entsprechende Nachfolger eingesetzt.
Die beiden Jungen finden kein Gegenargument, aber sie wollen das Ende der Edelweißpiraten kennenlernen.
Lange konnten wir, lässt sich Kriwitzki vernehmen, den bewaffneten Kampf nicht durchhalten. Die Gestapo holte Verstärkung, jagte uns V-Leute, Spitzel, auf den Hals. Nun ja, einige Erfolge hatten wir noch. Den örtlichen Chef der Gestapo haben wir nachts auf einer Streifenfahrt erwischt. Wir liegen in einem Keller: ein zerschossenes Haus mit vielen Fluchtmöglichkeiten. Als er kommt, blockieren wir ihm schlagartig die Straße, mit großen Steinen und Holzbalken. Lag ja alles herum in den Trümmern. Er will mit dem Auto zurückstoßen. Da haben wir schon den Rückweg versperrt. Vom Wagen bleibt nicht viel übrig. Wir besaßen auch Stielhandgranaten. In der HJ haben sie uns damit hart gedrillt. Überhaupt verdankten wir viel von unserer Tüchtigkeit gerade den Nazis selbst. Ist das nicht paradox?
Langes Schweigen. Endlich drückt Arnold seinen Oberkörper mit den zittrigen Armen nach oben. Er atmet tief durch. Die ganze Widerstandsbewegung in der Stadt - - - Er zuckt bei dieser Entschiedenheit zurück. Seit mehr als dreißig Jahren hat er sich nicht mehr so sprechen hören.
Also die Widerstandsbewegung in unserer Stadt, wir gehörten zu ihr. Über 20 Nazis haben wir umgelegt, unsere brutalsten Gegner. Wir wussten schon, auf wen wir zielten. Das haben wir vorher besprochen. Ende 44 schnappten sie uns dann, mit Waffen in unserem Versteck. Ich kam in den Folterkeller der Gestapo. Wenn ich beim Verhör nichts sagte, gab's einen Schlag, zuerst mit einem Ochsenziemer, dann mit Vierkanthölzern und ausgerissenen Stuhlbeinen. Nach zwölf Schlägen brach ich zusammen. Mit einem Fleischklumpen im Rücken wachte ich in der Zelle auf.
Kriwitzki stöhnt, die Erinnerung überfällt ihn. Er schluchzt leise und dreht sich weinend weg. Die beiden bleiben hilflos bei ihm. Lange braucht er, bis er wieder sprechen kann.
Dann hat die Gestapo uns alle eines Morgens um vier Uhr geweckt. "Ab zur Hinrichtung!" Wir dachten, jetzt ist es aus. Aber verdammt nochmal, wir waren doch erst 15, 16, 17 Jahre alt, einer 21. Wir hatten noch gar nicht gelebt. Nur HJ und Krieg, sonst nichts. Mit Zwangsarbeitern brachte man uns zum Bahnhofsvorplatz. Dort war schon ein Balken in einer Höhe von drei Metern über den Platz rübergelegt. Acht von uns wurden willkürlich rausgerufen, dann die Hälfte der Zwangsarbeiter. Die wurden vor unseren Augen aufgehängt. Passanten schauten zu. Es herrschte eine grauenvolle Stille. Alle gelähmt, wie wenn ein Heer von Ratten die Stadt besetzt hätte.
Wieder kann Kriwitzki nicht mehr weitersprechen. Die Fingernägel seiner rechten Hand bohren sich in die linke Handinnenfläche. Endlich gibt er sich einen Ruck, steht schwer auf, wie wenn er krank wäre, und schwankt leicht. Mich brachte die Gestapo mit anderen in ein extra eingerichtetes Jugend-KZ: Schwerarbeit, noch weniger zu essen. Zwei von uns wurden bei Fluchtversuchen erschossen. Im Jahr 45 befreiten uns die Amis.
*****
Anderthalb Monate nach dem Verhör durch Adolf Bleibtreu wird Kriwitzki gleich morgens zum Direktor der Telekom gerufen. Als er das Chefzimmer betritt, erstarrt er. Neulich in der Waldschänke hat er sich also nicht getäuscht. Der am Nebentisch ist tatsächlich Engelbert Krummacher gewesen. Eng-el-bert Krum-ma-cher. Die Erinnerung frisst sich quälend aus seinem Inneren hoch.
Kriwitzki flüchtet kreidebleich ins Vorzimmer. Zitternd nimmt er ein Glas Wasser und eine Kreislauftablette, dann eine Magenpille. Der Chef kommt hinterher: Es handelt sich nur noch um eine Formsache wegen der Abteilungsleiterstelle. Die beiden Herren da drinnen sind der Referatsleiter und sein Stellvertreter vom Landesamt für Verfassungsschutz, sie kommen aus der Landeshauptstadt.
Kriwitzki stößt heraus: Den einen da, den älteren, den kenne ich. Sehr schmerzlich habe ich Bekanntschaft mit ihm gemacht, im Jahr 44. Das ist Engelbert Krummacher.
Kriwitzki macht eine kleine Pause und fährt langsam fort, mit der unantastbaren Würde eines Gequälten.
Damals war er bei der Gestapo unserer Stadt.
Und nochmals eine Pause, die kaum mehr auszuhalten ist, mit brennender Schärfe. Die Worte klingen wie unter dem Echo eines Fallbeils.
Der hat Leute beim Verhör gefoltert. Hat zig Menschenleben auf dem Gewissen.
Dann die letzte Unterbrechung, wie vor der Urteilsverkündigung, in einen prallvollen, stillen Saal hinein, mit einer Spannung kurz vor der Explosion.
Das ist ein Schwerverbrecher, bis heute unbestraft.
Der Chef versteht nur Bahnhof. So kennt er den Fernmeldehandwerker Kriwitzki ja gar nicht. Was der bloß hat?
Arnold Kriwitzki will aufstehen. Es gelingt ihm nicht. Er sinkt auf den Stuhl zurück. Die Sekretärin eilt mit einem zweiten Glas Wasser zu Hilfe, gerührt. Der Chef ist ratlos.
Im Zimmer nebenan huscht jemand aus dem Raum durch die auf den Gang führende Türe. Kriwitzki bemerkt das alles nicht. Er erreicht beim Chef, dass die Besprechung um eine Stunde verschoben wird. Der Chef eilt ihm erleichtert, richtig fröhlich mit der Nachricht hinterher: Der Referatsleiter Krummacher ist wegen dringender dienstlicher Geschäfte verhindert. Sind Sie zufrieden, Herr Kriwitzki?
Arnold hört alles nur wie im dumpfen Ton eines Kellers. Er antwortet nicht.
Die Besprechung eine Stunde später beginnt in bemüht freundlicher Atmosphäre. Herr Kriwitzki, Sie wissen ja, dass gerade Ihre Abteilung zu den sicherheitsempfindlichen Bereichen zählt, wegen Abhörschaltungen und anderem. Das alles verlangt höchste Verschwiegenheit und absolute Loyalität gegenüber dem Staat. Sie verstehen.
Kriwitzki versteht viel zu gut.
Aber da gibt es noch gewisse Unstimmigkeiten in den Akten, die zu bereinigen sind.
Kriwitzki glaubt, Adolf Bleibtreu zu hören. Er verlangt Einblick in seine Akte. Der stellvertretende Referatsleiter vom Landesamt für Verfassungsschutz schiebt ein kleines Paket über den Tisch: Fotokopien. Das Deckblatt springt dem alten Edelweißpiraten mit blankem Hohn ins Gesicht:
Geheim, Personalakte Arnold Kriwitzki, geb. 1926, verbotene bündische Umtriebe, Verbrechen des bewaffneten Widerstandes gegen den Staat. Geheime Staatspolizei, 1944.
Gierig blättert Kriwitzki in den Verhörprotokollen, Ermittlungsergebnissen und der Anklageschrift. Er muss sich unter einem schneidenden Schmerz in den Augen konzentrieren, damit unter fernen Qualen ihm nicht alles verschwimmt. Der alte Folterkeller der örtlichen Gestapo überschattet die Papiere. Arnold kann nichts lesen.
Herr Kriwitzki, ruft Franz Jäger, ein bewährter Verfassungsschützer, den einstigen Edelweißpiraten aus der alten Zelle 54 heraus.
Kriwitzki klingt es in den Ohren wie der Hall und der Schrecken eines leeren Gefängnisflures.
Herr Kriwitzki.
Der Ton wird hohler, entfernt sich und gewinnt an Gewalt und Höhe, er wächst über Kriwitzki hinaus und übersteigt das Haus mit blankpolierten SS-Stiefeln.
Herr Kriwitzki.
Die Stiefel senken sich zu den Zerschmetterten herab.
Grundsätzlich würden wir ja gerne Ihre Bewerbung befürworten, da Sie uns außer in dieser Akte unserer geschätzten Amtsvorgänger unbedenklich erscheinen. Vielleicht können Sie uns in Ihrem ureigensten Interesse helfen, gewisse Auffälligkeiten ins rechte Licht zu rücken. Wie Sie schon unserem jungen Mitarbeiter, Herrn Bleibtreu, eingestanden haben, pflegten sie als HJ-Sreifendienst staatsfeindliche Jugendliche zu warnen. Das war gegen Ihre Dienstvorschrift. Müssen wir damit rechnen, dass Sie auch künftig Dienstvorschriften missachten könnten?
Jäger schweigt. Er erwartet keine Antwort. Schweigen ist sein bewährtestes Erziehungsmittel, um einen Verhörten einzuschüchtern.
Des weiteren sangen Sie Lieder, die unzweifelhaft Aufforderungen zur Gewalt gegen den Staat enthielten. Und das, obwohl unser Vaterland damals in seinem schwersten Kampf um einen Platz in Europa rang. Zuletzt, und das ist das Wichtigste: Sie gehörten einer kriminellen Vereinigung an, genannt die Edelweißpiraten. Nun - Lange Pause. Was haben Sie mir dazu zu sagen, Herr Kriwitzki?
Im letzten Satz hat sich die Stimme erneut in die SS-Stiefel gezwängt und ist aufs Dach gestiegen. Sie hat alle ihre alten und neuen Opfer im souveränen Überblick vor sich. Ein schönes Meer, kaum Seegang.
Jäger langweilt sich, er ist schon wo ganz anders und gähnt ungeniert und schaut mehrmals auf die Uhr. Mein lieber Herr Kriwitzki, versucht er zu schmeicheln, nur passt, was er sagt, nicht zu seiner schwebenden Stiefelstimme, Ihre schönen Motive in allen Ehren. Sehen Sie denn noch immer nicht ein, dass Sie Verbrechen begangen haben? Feindselige Flugblätter verteilt, staatsfeindliche Lieder gesungen, Einbrüche, Diebstahl von Lebensmitteln und sogar von Waffen, Verstecken von flüchtigen Gastarbeitern, äh ich wollte sagen: Fremdarbeitern, endlich die Ermordung hoher staatlicher Amts- und Würdenträger.
Jäger wartet, er ist sich seiner Wirkung sicher. Diese Schlusswendung hat er schon hundertmal eingesetzt und immer mit Erfolg. Aber bei Kriwitzkis Schädel will sich keine Wirkung einstellen.
Sehen Sie denn nicht, dass Sie ein schlimmer Gewaltverbrecher gewesen sind, damals? brüllt Jäger Kriwitzki an, der dafür mit Fug und Recht hätte hingerichtet werden können, ja sogar müssen?
Der Chef der Telekom schiebt sich in seinem Sessel mehr als einen Meter zurück. Allzu nahe möchte er bei der Exekution nicht dabei sein. Er behält sich vor, im entscheidenden Moment die Augen zu schließen, um nichts sehen zu müssen.
Arnold Kriwitzki braucht keine Rücksicht mehr zu nehmen. Die Stelle ist futsch.
Halten Sie Ihre Schnauze! fährt er Jäger an. Ihr ruhmlos verdufteter Vorgesetzter ist ein Gestapo-Folterknecht gewesen. Der hat mich 44 schwer misshandelt, hat mich halbtot geschlagen. Ein politischer Gangster.
Jäger, viel gewohnt und seit langem abgebrüht, überhört den Schluss, der ihm bloß unflätig vorkommt. Ihm bleibt nur übrig, sich an das Ende seines auswendig gelernten Fragebogens zu halten.
Herr Kriwitzki, eine letzte Frage: Wie stehen Sie heute zur Gewalt, z.B. bei Atomkraftwerken? Herrn Bleibtreu haben Sie für Hausbesetzungen bereits eine bedenkliche Antwort gegeben.
Kriwitzki steht auf. Erst jetzt bemerkt er, dass sein Chef das Zimmer fluchtartig verlassen hat und draußen Kaffee kocht. Eigenartig, hat er doch sonst in fünfzehn Jahren nie getan.
Jäger erhebt sich ebenfalls, steht stramm, mit Leib und Seele ein hohes Stiefelpaar.
Jäger heißen Sie? fragt Kriwitzki ironisch. Ihr Name bedeutet nur etwas, wenn Sie Wild finden, das sich jagen lässt. Ich lasse mich nicht in eine kriminelle Ecke stellen. Widerstand gegen die braune Terrorherrschaft war kein Verbrechen.
Jäger sammelt seine Akten ein. Ich glaube, dann kann ich nichts für Sie tun.
Kriwitzki lässt ihn dem entsprungenen Vorgesetzten ausrichten: Herr Krummacher soll nicht glauben, ich hätte etwas vergessen. Die Rechnung mit diesem Nazi-Mörder ist noch nicht beglichen.
Jäger verschwindet grußlos. Der Chef öffnet leise die Tür und schaut, ob die Luft rein ist. Strahlend kommt er herein: Wie schön, dass diese Anhörung vorüber sein darf.
Arnold irritiert: Was ist daran schön?
Der Chef begütigend: Vergessen wir das, Herr Kriwitzki. Schwamm drüber. Von Ihnen aus gesehen haben Sie ja recht. Aber verstehen Sie doch auch das Amt für Verfassungsschutz. Die haben ihre unangenehmen Amtspflichten. Ich möchte nicht in deren Haut stecken. Sie etwa?