Von Betzingen nach Grafeneck
Hellmut G. Haasis
Schwänke und Ermordung eines schwäbischen Eulenspiegels,
Reutlingen 2008; 120 S., 12,- €.
Die Lebensgeschichten der Opfer des Nationalsozialismus sind zum größten Teil mit ihrer Ermordung verloren gegangen. Wenigstens sind in den letzten Jahren zu den „Nummern“ der Opfer in vielen Fällen deren Namen und Lebensdaten erschlossen worden. Ihr Denken und Handeln, ihr Glück und ihr Unglück im Leben jedoch sind nur in Ausnahmefällen erhalten geblieben.
Was liegt näher, als dass ein Autor reale Bruchstücke eines Lebens zu einem Lebens-Roman verarbeitet. Natürlich ist das ein gefährliches Unterfangen, wie viele literarische Beispiele – zunehmend auch zur Thematik „NS-Zeit“ - belegen. Denn es liegt nahe, dass in solche Romane mehr vom Autor als von der beschriebenen Persönlichkeit einfließt. Gute historische Kenntnisse, großes psychologisches Einfühlungsvermögen und eine nicht allzu große schriftstel-lerische Eitelkeit sind Voraussetzungen, um fiktionale Geschichtsschreibung nicht nur lebendig, sondern auch glaubwürdig und lehrreich werden zu lassen.
In dem neuen historischen Roman von Hellmut G. Haasis, der vor einigen Jahren eine erfolgreiche Biografie über Georg Elser vorgelegt hatte, sind diese Voraussetzungen weitgehend gegeben, auch wenn in fast jeder Zeile spürbar ist, dass der Autor sich sehr mit dem Schelmisch-Unangepassten seiner Hauptfigur identifiziert.
Haasis wählt einen sozial randständigen Menschen mit dem Spitznamen „Heisel Rein“, eigentlich Reinhold Häußler, zum „Helden“. Er wurde 1878 in Betzingen geboren, heute ein Stadtteil von Reutlingen. Die Zeit noch mehr als der Autor gliedert die Lebensgeschichte in zwei Teile: in die Zeit vor der „Macht-ergreifung“ der Nazis und die Zeit danach. Heisel Rein, fürs „anständige“, arbeitsame Leben eines schwäbischen Dorf-Menschen nicht gemacht, wird zum Spaßvogel, zum liebenswürdigen Spötter und „Narren“. Dabei nimmt er – Haasis protokolliert das gewissermaßen an Hand von 24 Streichen - vor allem die Obrigkeit aufs Korn. Und das wird 1933 noch gefährlicher als zu „normalen“ Zeiten. Heisel Rein kommt ins „Fürsorgehaus“, dann in die Psychiatrie in der Weissenau bei Ravensburg. Und schließlich steht da 1940 das Schloss in Grafeneck, der Ort der Ermordung von über 10.000 behinderten Menschen.
Das Buch, ein Schelmenroman mit traurigem Ende, ist lebendig und spannend erzählt und reizvoll illustriert. Leider fehlt eine historisch-dokumentarische Verankerung an Hand der vom Autor gefundenen Quellen. Oder ist alles Fiktion?
Wie auch immer: auch die Fiktion ist lesenswert. (sl) (Silvester Lechner, Ulm)
(Quelle: Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm e. V. – KZ-Gedenkstätte. Mitteilungen Heft 50 / November 2008, S. 35)