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LOB DER DUMMHEIT
Nr. 2
DER ARME HÖLDERLIN


Der Tübinger Dichter Hölderlin ist seit Jahrzehnten von seinem Zwillingsbruder beerbt: dem Turm am Neckar. Dort drin darf jede irgendwie förderverdächtige Nachwuchskraft unter den Germanisten von einer total neuen Hölderlin-Interpretation schwärmen.

Was ist da nicht schon alles über die Bühne gegangen, die nie die Welt, sondern nur eine winzige lebensfremde Exklave hinter den Stocherkähnen bedeuten.

Durchschlagend neue Impulse sind diesem Turm oft genug fern gehalten worden, dank der Hölderlin-Gesellschaft, der Germanistik und der restlichen Hölderlin-Clique.

Schätzungsweise 57 - oder waren es doch 84, wie am Vorabend des dritten Advents ein Stammtischbruder in der Tübinger Kneipe Boulanger lästerte? – also 57 völlig einmalige Neuansätze zum illustren Dauerpatienten hat der Turm überstanden, unbeschadet. Ein Gutachten des Dachdeckers kann beigefügt werden.

Soeben schleicht sich wieder eine Neuinterpretation des „politischen“ Hölderlins an den Turm heran. Aber hoppla, jetzt wird es wirklich politisch, das will ich meinen. Mindestens der 27. politische Neuansatz.

Das Tübinger Käseblatt meldet soeben:

„HÖLDERLIN UND DIE POLITIK

TÜBINGEN. Die Literaturwissenschaftlerin Marion Hiller, Vechta, hält am heutigen Mittwoch um 20 Uhr im Tübinger Hölderlinturm einen Vortrag über „Hölderlin und die Politik“.

Die Auseinandersetzung mit Hölderlins Verhältnis zur Politik hat eine wechselvolle Geschichte: Von den Forschungen vor allem in den 1970-er Jahren, bei denen einerseits Hölderlin revolutionäres und utopisches Potential herausgestellt wurde und andererseits – vor allem ausgehend von dem Roman „Hyperion“ – Hölderlin als weltfremder, gänzlich „idealistischer“ Dichter stilisiert wurde, bis hin zu neueren Ansätzen, die ein oftmals differenzierteres Bild zeichnen.

Der Vortrag versucht die politischen und sozialen Implikationen der Hölderlinschen Poetologie auf dem Hintergrund realgeschichtlicher Ereignisse herauszustellen und ihr Potential in Bezug auf die Dymanik des Verhältnisses von „Eigenem“ sowie „Dichtung“ und „Leben“ zu bestimmen, um so einen – auch im Vergleich mit zeitgenössischen Autoren – spezifisch Hölderlinschen Begriff des Politischen zu gewinnen.“
(Südwestpresse, Schwäbisches Tagblatt, Tübingen, Mittwoch, 9. Januar 2008, S. 23)

Wie so häufig, erfreut uns das leerformelhafte Totschlagargument „differenziert“. Was früher war, ist grundsätzlich undifferenziert. Basta! Was danach kommt, wird unvermeidlich immer differenzierter – glaubt die interessierte Rednerin. – Dass irgendwann einmal alles in einer Sackgasse stecken könnte, braucht nicht lange überlegt zu werden.

Die Rednerin kann sicher sein, dass in zwei bis drei Jahren die nächste Figur im Turm hochsteigt und dasselbe behauptet: aber jetzt vielleicht viel mehr intertextuell, semiotisch, symbolistisch, kontextualistisch, komparatistisch und postbiotisch - oder doch lieber postnarrativ, originiert und kruzifixokryptisch?

Genau, das letzte Wort wird die Lösung bringen, die postultimativ-prämythische. Und das alles streng wissenschaftlich, denn die Tübinger Geisteswissenschaftler, bei denen Marion Hiller bisher tätig war, kämpfen in vorderster Front, wenn es darum geht, den Geisteswissenschaften mehr Wissenschaftlichkeit zuzuschreiben. Zu welchem Zweck? Es soll endlich mehr Planstellen geben, Geld überhaupt. Aber dalli.

Schön die Kategorie „realgeschichtliche Ereignisse“. – Wenn es sich nicht um eine Tautologie handeln soll (was ich befürchte), müsste es ja auch noch etwas anderes geben, das Gegenteil. Was wären dann „nicht-realgeschichtliche“ Ereignisse? Man bedenke: bezogen auf die postmodernistische ubiquitäre Hybridkontemplationalität.
(Reutlingen, Januar 2008)

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