haasis:wortgeburten

 

LOB DER DUMMHEIT
Nr. 3
UNKENNTNIS ALS BESTER START

junges theater in tübingen am LTT über FRANZ KAFKA

die tübinger theatermacher sind dorthin unterwegs, wo sie nicht sein dürften: zu einem autor, der im amerikanisierten literaturbetrieb als verstaubt, überholt, mega-outgesourct gilt: FRANZ KAFKA.
bisher war zu hören, das mekka des jungen theaters sei anderswo, viel trash. was ich lieber ROTZ-KOTZ-THEATER nenne. und immer ein paar portionen comedy dazu.
neue stücke deutscher autoren werden nicht in erwägung gezogen. nach der zählung von kennern kursieren bei den theaterhäusern derzeit ca. 800 fertige stücke.
tendenz steigend. realisierung von null bis null.
in ihrer ratlosigkeit mussten die schauspieler schon früher selber schreiben, ohne kenntnisse, ohne übung und ohne rückkoppelung an das publikum.
sie hießen es trotzig ein PROJEKT.
so war es ungefähr ab 1978 zu beobachten und von den theaterbegeisterten zu erleiden.
einen schritt weiter ging es, als die schauspieler keine texte mehr zustande brachten. das NICHTS lässt sich halt nicht lange wiederholen.
also jetzt aber her mit einem jungen regisseur, der vom thema des abends absolut nichts versteht. da ist es bei der herrschenden schlüsselloch-mentalität spannend: stürzt er ab?
hoffentlich. ätsch ätsch.
gerade das scheitern ist ja SO WUNDERBAR.
im kulturbetrieb tönt’s seit schorsch tabori:
SCHEITERN SCHEITERN IMMER BESSER SCHEITERN.
schon fallen wir zurück in eine masche der 70er jahre – die GANZ JUNGEN kehren heute zurück zum scheitern der frühen jahre.
damals gab es massenweise erzählungen, die breitmäulig und todlangweilig und absolut überflüssig das scheitern vor den schwierigkeiten des schreibens zelebrierten.
papierene weinerlichkeit. schluchz schluchz schluchz.
der ganze gruscht ist schon lange makulatur.
es fehlte jegliche TENDENZ ZU AUFKLÄRUNG UND EMANZIPATION. und ohne die ist schwerlich leben aus dem papier zu holen.
wenn der abend nun langweilt, weil er altbekanntes wiederkäut oder unwichtiges ausbreitet, so ist doch das scheitern „hochdramatisch“ und damit automatisch ein medienereignis.
SPEKTAKULÄR die schlagzeile:
ein „verdienter“ regisseur „scheitert auf hohem Niveau“ oder so ähnlich.
„regisseur greift endlich nacktmodell an den busen.“
das landestheater tübingen macht sich nun also über kafka her, den schrecken vieler klassenfahrten nach prag.
vor rund zehn jahren lernte ich an der moldau eine erfahrene, souveräne stadtführerin kennen, eine tschechin mit guten einblicken ins alte regime und ergänzend in die schöne neue welt nach 89.
sie hatte auch deutsche gymnasiasten durch prag geführt, die von ihren lehrern mit vier tagen kafka büßen mussten, dass dieser autor sternchen-thema für das deutsche abitur ist.
sie konnte nur den kopf schütteln, wie der gute alte franz ausgedappt wurde. die ganze stadt, ein tschechischer ort, bestand aus einer unmenge lokalitäten, ereignisse, zitate und personen, die nur franz kafka widerspiegelten. um ihn herum war es ausschließlich DEUTSCH.
wo hat der kafka gefrühstückt? wo kaffee getrunken?


um wieviel uhr nahm er morgens welche kurve in der altstadt auf dem weg zur arbeit? wo traf er welchen freund?
welchen blick hatte er von seinem schreibtisch im jahr 1912, welchen 1920?
nur seine bordellbesuche wurden diskret verschwiegen. is nix für mutti.
besonders wichtig: in welchem zimmer hat er sich im tagebuch beschwert, dass alle um ihn herum zu laut seien, sie sollten die klappe halten, weil er soeben bei seinem schreiben in schönster ruhe scheitern will?
die tschechin konnte es nicht fassen, wie verbohrt, verblödet, pathologisch der kafka-unterricht sein muss. von den umgebenden tschechen hörten die deutschen schüler KEIN STERBENSWÖRTCHEN.
die stadt ist von TSCHECHEN GESÄUBERT.
ich musste ihr recht geben, es gibt solche kafkamanie, opfer des konkurrenzkampfes um optimale abitursnoten.
so ein opfer ist nun in tübingen zu besichtigen. opfer zieht opfer an, sollte man meinen. scheitern reiht sich neben scheitern. wie holzscheit neben holzscheit.
das tübinger theater hat einen jungen regisseur beauftragt, kafka auf die bühne zu bringen. im schwäbischen tagblatt befragte soeben die dramaturgin ANNA HAAS den regisseur MARIO PORTMANN.
der hauptheld des tübinger abends ist also ein junger regisseur des jungen theaters für die junge welt von heute.
gerade erst schlappe 51 jahre alt ist dieser mario portmann und offizier der schweizer armee. also lieber nicht einmarschieren, rate ich jedem.
„anna haas: was hast du gedacht, als wir dich gebeten haben, einen kafka-abend für das ltt zu inszenieren?
mario portmann: kafka? oje, hab ich gedacht. kafka ist mir an der schule ausgetrieben worden, und in der folge kreuzten sich unsere wege nicht mehr. ich wusste das immer zu verhindern. es blieb ein schlechtes gewissen. und nun also die gelegenheit, ihn endlich mal wieder aus dem bücherregal zu holen. ihm neu zu begegnen. ich versuchte, alles von ihm zu lesen, und war vollends hingerissen. ein seltener, ein wundervoller autor. wie konnte ich ihn nur so lange liegen lassen?“
damit ist das wichtigste zu dem kafka-abend gesagt, der mehr nach einer lesung als nach einem theaterstück aussieht.
zerknirscht schäme ich mich. der junge schweizer liest in kürzester zeit das komplette werk kafkas. wozu andere jahre brauchen, das schafft der teufelskerl mit dem milizgewehr im schlafzimmerschrank in wenigen wochen, vermutlich 3-4. denn der theaterzirkus setzt auf tempo.
der regisseur tut, was das regietheater auszeichnet. mangels eigener ideen kopiert er die texte, schneidet sie aus und klebt sie kreuz und quer neu zusammen.
schon ist der abend zusammengebastelt. kafka als patchwork.


die texte werden dann, wie man es früher bei szenischen lesungen machte, auf verschiedene rollen verteilt. so bekommen wir gleich auch den titel, kokett modernisiert. huch, wie zeitgenössisch, innovativ und kreativ.
FRANZFRANZFRANZ
wirklich gut und originell. ein zweifelsfrei lebenswichtiges thema. ein name dreimal - und neckisch ohne leertaste dazwischen.
portmanns urteil über seine geistige leistung beim zusammenkleben, ein bescheidenes selbstlob:
„WUNDERVOLL“
der kafka-geschädigte amateur-autor portmann entdeckt wirklich auch noch kafkas urlaubsgesuche und amtliche schreiben:
ein „sehr amüsantes und erhellendes material“, meint er.
so stellt sich klein-fritzchen die interpretation eines stark pathologisch gebeutelten autors vor.
natürlich gehe es, so werden wir entlastet, an dem tübinger abend gar nicht um kafkas texte, sondern um unsere fantasien darüber.
AVANTI MIT DER WILDEN SPEKULATION.
so rächt man sich für die erlittenen besserwisser-lehrer. kafka freilich bleibt ein weiteres mal auf der strecke und gleich dreifach.
nun nimmt der papierklebende regisseur anlauf und schwebt davon, besser als kafka.
„ich habe den drei protagonisten eine geschichte, einen roten faden mitgegeben, die sie in der raumsituation und entlang der dazu ausgewählten texte erleben. (…..) sie wollen schreiben und können es erst nicht. sie rennen an, gegen sich, gegen die umstände.
die diagnose der krankheit schafft dann freiräume, in denen sich inspirationen, figuren aus den stoffen und dem realen leben begegnen und ihr surreales eigenleben entwickeln können.
letztlich entsteht ein schwebender, träumerischer, auch assoziativ vernetzter kosmos, der die spieler und natürlich die zuschauer hineinziehen und so schnell nicht wieder loslassen wird. das hoffen wir.“
wo spielt nun diese textcollage, die schwerlich ihren papiercharakter abstreifen wird?
„ein großer schreibtisch, an den wänden schreibtafeln, eine dachkammer, ein kopfzimmer, ein labor, ein keller, ein traumort. wichtig war, dass er geschlossen ist.“
die ganze bewegung zwischen leidenschaft und begeisterung einerseits und „zweifeln, verwerfen, vergraben“ andererseits – ach ja, die ist einfach WUNDERBAR – meint wieder portmann.
bei diesem kafka-abends ist es völlig schleierhaft, wie da begeisterung aufkommen soll. begeisterung aus dem leeren heraus, in der buchstabenwelt? in einem kopfzimmer?
mario portmann glaubt:
„KAFKA HAT DAS EXEMPLARISCH UND EXTREM GELEBT.“
das riecht verzweifelt nach einem messias, der dIE ganzeN leiden der welt (wahrscheinlich ein KOPFLEIDEN im KOPFZIMMER) durchlebt hat, um uns – wohin zu führen? ist wohl noch offen.
um sich den ERSATZMESSIAS KAFKA abzugewöhnen, empfehle ich einen besuch an seinem grab in prag. dort finden sich ständig bittbriefe verstreut, geschrieben von vorwiegend deutschen anhängern, die kafka anrufen, wie es katholiken bei maria oder den heiligen in ihren kirchen tun.
wie wäre der kafka-abend zu titulieren?
„WUNDERBAR“, meint portmann.
tja, so herrlich wäscht nur PERSIL.
(südwestpresse/schwäbisches tagblatt 11. april 2008, s. 25; besprechung der uraufführung 14. april 2008, s. 25)

hellmut g. haasis (april 2008)

 

 

 

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