haasis:wortgeburten

2 Gericht

„Ja, wo bleibt er denn?“ fragte Brod am nächsten Tag scheinheilig. Alle genossen Chaplins Verspätung. Ein Tummelplatz für männliche Sehnsüchte.
Teige, ein Liebhaber kleiner Bosheiten: „Unsere Zdenka, sie wird ihren Gast doch nicht ermüdet haben?“ Die Herren grinsten, sie hatten nichts anderes im Hirn. Brod schmunzelte: „Der Leppin müsste da sein. Der hätte eine Freude dran, als Dichter. Gemüselyrik kann er nicht ausstehen.“
Mit eingezogenem Genick starrte Hasek indessen zum Schild über dem Eingangsportal hinauf: Amtsgericht. Sein Versuch, anzunehmen, missglückte. Die groben Stiefel, x-beinig auseinandergestellt, berührten sich bloß an den Spitzen. Von oben herab schrie er sie an: „Ihr da unten habt mehr Achtung vor der Staatsautorität zu bezeugen. Ihr werdet heute sehen, wohin ihr mit eurer Renitenz kommt. Das hier ist kein Steinhaufen und keine Kneipe, merkt euch das, sondern eine Trutzburg des Rechtes, verteidigt von untadeligen Gerichtsräten, die sind immer hochaufmerksam bei der Sache.“
Hasek geriet ins Grübeln: Was tun? Ach was, das Richtige würde ihm drinnen schon einfallen. Im Augenblick sah er seine Stärke in seiner Begleitung: alle mit Schuhen, gewaschenem Hals und eigenen Hemden.
Da schwang sich jenseits der Kreuzung eine Melone aus der Straßenbahn und wollte herüberkommen, sie wurde gebremst, denn an dem zu engen und falsch geknüpften Kittel hatte sich eine adrette Frau eingehakt. Sie hatte seinen Arm geschnappt und geleitete den Fremdling nun würdevoll quer über den weiten Platz.
Das konnte nur die Zdenka sein, alle spürten es im Bauch – wir wollen ehrlich sein: sie spürten es eher etwas darunter - und zogen die Schultern ein. In Zdenkas freiem Arm lag ein Bund roter Rosen. Zdenka reichte, während sie sich vorstellte, jedem eine Rose, mit Grazie: „Wenn ein Freund vor der Justiz steht, muss man mitleiden oder mitfeiern.“ Ihre Stimme klang wie aus einem verträumten Garten der Kleinseite.
Zdenka: „Entweder wird es ein Abschied für Jahre oder wir feiern die zweite Geburt, die Freilassung. So pflegte mein verblichener Mann zu sagen, wenn er vor den Richtern stand, für den Turnerbund Sokol.“
„Selbst verblichen stand er und sprach?“ wunderte sich Hasek. „Und was würde der Herr Gemahl sagen, wenn er dich hier sähe, mit einem Landstreicher am Arm, gar einem ausländischen? Der Sokol konnte Ausländer nicht leiden, außer sie sprachen gut Tschechisch und waren Slawen.“
Zdenka warf sich ins Kreuz, was ihre Figur vorteilhaft rundete: „Nichts hübscher, würd' er sagen, als eine fröhliche Witwe. Schau, meine Gute, dass du nicht versauerst, würd' er mir zuflüstern.“
Hasek verzog das Gesicht, ja die Erotik, das war nicht sein Fach. „Ich prophezei dir, Chaplin, die Zdenka wird dir bald schicklichere Kleider anziehen. Pass auf, dass du in Prag deine berühmte Gestalt nicht verlierst. So eine Frau kann dich ruinieren.“
Chaplin zwinkerte mit dem linken Auge, so dass die rechts eingehängte Zdenka nichts mitbekam, und stupfte sie, wie aus Versehen, mit seiner Rose. Sie zwickte ihn in den Hintern. Verlegenheit überflog sein Gesicht.
Ein Strom beginnender Verliebtheit antwortete in ihrem Leib. Der sie da schelmisch anlachte, konnte eigentlich erst um die fünfundzwanzig sein. Mit einem gelenkigen Körper, auch in dieser unmöglichen Aufmachung. Sie stöhnte ein wenig. Dieser dunkle Wuschelkopf, eine Haartolle in die rechte Gesichtshälfte fallend, mit einladenden vollen Lippen, der Mund leicht offen. Das Gesicht, nein der ganze Jüngling ein Geschenk der Natur, zum Umarmen. Letzte Nacht hatte sie in seinem Gepäck gewühlt. – Entschuldigung, na ja nur ein wenig und sehr diskret. - Sein Pass erzählte Unglaubhaftes: schon zweiunddreißig Jahre? Das konnte nicht stimmen. Aber wenn er sie anlächelte - und wie er das konnte, der Schwerenöter - schmolzen auch ihr einige Jahre weg: zumindest fünf. Dann zählte sie erst sechsundzwanzig.
War das ein Gemälde: Er zwischen hübsch geniert und liebreizend, sie eine schnittige Pragerin. Eine Freude für das Gericht, einen tristen Ort, den die Kenner Komikerfriedhof nannten. Allein schon dieser Name tröstete die Spaßvögel über die geist- und humorlosen Trübsäcke hinweg, die auf der Gerichtstribüne warteten. In der Moldau sollte man sie versenken.
Zdenka zog die Zügel an: „Alle antreten. Wir gehen rein, im Gänsemarsch. Die Rosen hoch. Noch eine Frage?“ Keine.
„Nun zu dir, Hasek“, machte Zdenka weiter, „sag uns, was du ausgefressen hast, aber keine Abschweifungen wie in deinem Schwejk.“
Hasek erschrak: „O je, was werd ich schon gemacht haben?“ - Zdenka scharf: „Wird's bald? Gib was zu, wir halten zu dir, egal, was es war. Ein Mord wird es ja nicht gewesen sein?“
Hasek bemühte sich, reumütig zu erscheinen: „Ich soll die, äh, die Ordnung umgestöpselt haben.“ - Zdenka flink: „soll heißen umgestürzt.“ - Hasek stolperte weiter: „die Ruhe gefördert.“ - Zdenka: „gefährdet muss das heißen, du Dackel“ – Hasek: „und zum Aufstand gegen die legitime Macht aufgewickelt haben.“ - Zdenka verzweifelt: „Himmelnochmal, aufgewiegelt heißt das, Hasek. Haben dir die Bolschewiki in Russland das Hirn ausgepustet?“
Vor dem offenbaren Dummkopf geriet Zdenka in die Rolle der Anklägerin: „Und womit, Beschuldigter, hast du den Staat umgestürzt?“ Hasek schrumpfte zusammen: „Mit einem freimütigen Zeitungsartikel.“ - Zdenka: „sicher einem frechen, rotzfrechen.“ – „Also mit einer niederträchtigen, aber kleinen, wirklich ganz klitzekleinen Rede.“ Hasek schlug sich schuldbewusst an den Kittel, der wüst staubte: „Die Justiz in Prag, so schrieb ich, sei voll mit Schlafhauben. Entschuldigung“, schloss er demütig, „ich werde es nie mehr sagen, schon in der nächsten Nummer hab ich's berichtigt: Die Richter seien keine Schlafhauben – das sei ein Druckfehler - sondern ein Schafshaufen. Wegen eines Buchstabens oder zwei braucht man doch nicht nachtragend zu sein.“
Zdenka entgeistert: „Was für einen Schafshaufen? Etwa einen so hinge-, hingeschissenen?“ - Hasek empört: „Davon hab ich nichts gesagt.“ - Zdenka erleichtert: „Dann werden wir gewinnen.“
Die fünf Gerechten vom Moldaukai stellten sich auf, Chaplin vorne, und schritten durch das Portal ins Reich der blinden Justitia, direkt in den Sitzungssaal. Der Gerichtsdiener schnauzte sie an: „Die Rosen haben hier nichts zu suchen. An der Garderobe abgeben. Der Angeklagte nach vorne.“ Und er schob den Landstreicher Chaplin zur Richtertribüne. Hasek verdrückte sich in die hinterste Zuschauerbank.
Als das hohe Gericht einzog, sprangen alle auf, einer riss den andern um. Polternd gingen sie miteinander zu Boden und beschuldigten sich gegenseitig. Chaplin, vorne platziert, kippte seinen Stuhl um, der ihm auf den linken Schuh stürzte. Er wimmerte und musste getröstet werden, der Schuh: „Das Gericht meint es doch gut mit allen, auch mit dir.“
Der Vorsitzende leierte herunter, warum man hier sei. Mitten drin befiel ihn Zweifel, wer da vor ihm stünde. „Beschuldigter, warum haben Sie nichts Anständiges angezogen?“ - Chaplin: „Hab nichts anderes, bin arbeitslos und obdachlos.“ Von allen Seiten grinste spöttische Freude Zdenka an. Undankbarer, warte, nachher zuhause. Der wird mir künftig nur ordentlich angezogen ausgehen. Keine Widerrede, nicht in Prag.
Nun wurde Hasek herausgefischt: „Jetzt schau her, ein alter Bekannter“, freute sich der Vorsitzende aufrichtig. „Das ist wenigstens ein Mensch und mein aufmerksamster Zuhörer. Vorkommen zu mir. Ich bin glücklich, dass Sie noch leben. Was wär ich ohne Sie, mein Herr Anarchist?“
Hasek schwang sich zu seiner Verteidigung auf und wurde gefährlich weitschweifig: „Meine winzige Rede kann den Staat unmöglich um Ruhe und Ordnung gebracht haben. Der steht ja noch fest, der Staat, wie unschwer jede Polizeiwache beweist, wo die Ordnungskräfte vor sich hindösen.“
Der Vorsitzende glotzte ihn glasig an, bereit zuzustimmen, solange sich bloß niemand im Ton vergriff. Ein glücklicher Mensch, der als Student an der Prager Universität gelernt hatte, einem Redner an den Lippen zu hängen, ohne zuzuhören.
Der Vorsitzende dachte an etwas Wichtigeres: Was hatte ihm gestern Abend beim Kartenspiel im Goldenen Hirsch gefehlt? Denn das wusste er haarscharf, etwas musste gefehlt haben. Sonst wären seine Gedanken soeben nicht abgeschweift. War's der Wein? Die Bedienung hatte ihn beruhigt, der Melniker Weiße sei so gut wie jedes Jahr. Die Zigarre? Sie kam aus demselben Tabakladen, der Besitzer war von der Finanzbehörde geprüft. Was also mag gefehlt haben? Sein Verdacht näherte sich dem Käse. Genau, der hatte gefehlt, der Käse.
Aber jetzt? Stand da nicht doch ein gefährlicher Kerl vor ihm? Warum trug dieser Staatsfeind kein schöneres Hemd und keinen Kragen? Auch die Fingernägel nicht gesäubert. Wenn das alle machten, wäre die Autorität des Staates bald im Eimer. Soweit wird es kommen, wenn man keine Kleidervorschrift erlässt.
Folglich strengte er sich an, in seinem Innern für das Prager Justizministerium eine Kleiderordnung zu entwerfen. Eine Arbeit, die ihm weit mehr Freude bereitete, als dicke Akten zu lesen, die gewöhnlich vor seinen Augen verschwammen.
Hasek, gefestigt durch nutzlose Justizverfahren, führte mit Enthusiasmus aus, was er in seinem Artikel geschrieben hatte. Ihm kam nicht der geringste Verdacht, dass im Gericht niemand etwas davon wissen wollte. „Ich habe, im Vertrauen auf die Weisheit der Staatsmacht, nur empfohlen, mittellose, hungernde Demonstranten nicht zu oft auf den Kopf zu schlagen oder mit der Feuerwehrspritze einzunässen, so dass gewöhnlich mehr als die Hälfte sich eine Erkältung zuzieht. Könnte vielleicht jedes dritte Mal ausreichen? So spart man auch Wasser.“
In seiner gerichtsnotorischen Fröhlichkeit schlug Hasek weitere Milderungen von Polizeimaßnahmen vor: „Den Knüppel vorher einweichen. Das Wasser vor dem Spritzen anwärmen. Den Niedergeschlagenen Orgelmusik vorspielen und während der Prügelszenen die Kirchenglocken läuten, damit die anständigen Bürger nicht durch Schreie gestört werden.“
Die Gerichtsbank rang bereits schwer mit dem Schlaf. Aber niemand soll behaupten, die Räte hätten sich ohne Widerstand ergeben. Nein, dafür waren sie auf diesem Feld viel zu erprobt, wenn auch tragischerweise regelmäßig unterlegen.
Der erste Beisitzer, rechts, erwischte den besten Start. Er schnappte sich das inkriminierte Exemplar von Haseks Blättchen "Der arme Rebell", Adresse Zizkov Taboritengasse. Er vertiefte sich in die Lektüre und stützte sein Haupt in beide Hände. In der Befürchtung, die Staatsfeinde könnten ihn beim Einnicken beobachten und in ihrem Schmutzblatt die Justiz mit Häme überschütten, zog er alle Gesetzesbücher und die dickleibigen Kommentare an sich und baute daraus den neuen Turm von Babylon. Dann ließ er sein müdes Haupt dahinter verschwinden.
Als er zu schnarchen anfing, verspürte neben ihm der Gerichtsvorsitzende den Drang, den verbrecherischen Artikel erstmals zu studieren. Hasek eilte mit seinen Vorschlägen rücksichtslos weiter. Während er sich ereiferte, wie gut es dem Staat anstünde, Übeldenkende durch Zivilstreifen zu observieren, beugte der Vorsitzende sich zum Beisitzer rechts hinüber und murmelte: „Entschuldigung, Herr Kollege, gestatten Sie,“ und zog den Bücherstapel so geschickt an sich, dass das Kunstgebäude nicht einstürzte.
Der zweite Beisitzer, zur Linken, erkannte sofort, wie der Kollege zur Rechten nun schutzlos dem Spott der Anarchisten ausgesetzt sein musste. Aus lauter Verzweiflung bohrte er in seiner Nase: alles hart. Danach peinigte ihn ein Jucken im rechten Ohr, so dass er mit einem Bügel seiner Brille darin herumstochern musste.
Hasek unterbrach unvorhergesehen seine Rede. Das Schweigen riss den Gerichtsbeisitzer zur Linken hoch. Er holte sich ein Buch vom Stapel des Vorsitzenden zurück, blätterte darin und fragte den Vorsitzenden, ob die Redaktion überwacht worden sei.
Der Angesprochene erhob mühselig sein Haupt: „Dieses Jahr reise ich nach Florenz.“ Und schlummerte weiter. Der Beisitzer zur Linken fing an, Haseks inkriminierten Artikel mit einem Bleistift zu verzieren: Striche, Männchen, Kreise, Häuser und hübsche Busen. Als schließlich der Beisitzer zur Rechten aufwachte, spielten seine Kollegen bereits Schiffe Versenken. Fortan kreuzte sich Haseks Enthusiasmus mit den geflüsterten Kommandos der Admirale von Prag: „Schuss auf A 3.“ – „Flasche, nichts getroffen, jetzt ich: Schuss auf B 8.“ – „Treffer, ich halte auf A 4.“ – „Oh je, das ganze Schiff versenkt, ein Panzerkreuzer, ich antworte auf C 5.“ – „Schlafmütze, immer daneben.“ So tobte die Seeschlacht auf einer Gerichtsbank, die an der Wahrheit vorbeidöste.
Plötzlich erschütterte ein Schlag die Sitzung: Der rechte Beisitzer war vom Stuhl gefallen. Als er sich aufrappelte, drohte er Hasek mit dem Zeitungsartikel: „Davon hab ich einen Schwindelanfall bekommen, Angeklagter, Nichtswürdiger. Ich plädiere auf schuldig, Herr Vorsitzender, außerdem gehe ich nächste Woche in die Kur.“
Der Vorsitzende schaute auf seine Uhr und erbleichte. Der verdammte Staatsfeind redete seit über einer Stunde, ohne dass jemand etwas begriffen hatte. Mit Jammermiene und Zeigefinger verwies der Vorsitzende auf den Schwindel seines Nachbarn. Alle fühlten sich glücklich, als Hasek mitten im Satz aufhörte. Die Richter erhoben sich, setzten ihre ulkigen Hüte auf und schritten, vom Gerichtsschlaf wunderbar erfrischt, zur Hintertür hinaus.
Zuerst streckten sie sich, gähnten und unterhielten sich über die zentralen Fragen ihres Lebens: Frauen, Gehaltsaufbesserung, die beste Kaffeerösterei und den Melniker Wein. Die Gerechtigkeit nahm ihren Lauf. Es folgten Klatsch aus der Nachbarschaft und Tipps für Lotterien, bis die Protokollantin mit dem Kaffee eintrudelte.
Nach einer halben Stunde drängte der Vorsitzende die Staatsschutzkammer zur Beratung: einen Marsch um die Kaffeetafel. Schon wollten die zwei Beisitzer zurück in den Saal einbiegen, da wies der Chef sie mit Strenge an: „Wir müssen ein Exempel statuieren. Die Republik ist gefährdet. Noch fünf Runden. Der Kerl soll lernen, sich kurz zu fassen. Außerdem brauchen wir keine Leute, die selber denken und sogar schreiben.“
Drinnen spritzte das verlorene Häuflein Zuschauer auf und schlug erneut die Köpfe zusammen. Der Vorsitzende erwischte im Jackett den Einkaufszettel seiner Frau und las das Urteil tadellos ab: „Der dem Gericht schon lange aufgefallene Hasek wird nach reiflicher Abwägung aller Gesichtspunkte verurteilt, vier Wochen lang vor seinem Stammlokal drüben in Kosire den Gehweg sauber zu halten. Andernfalls muss er in einer Kirche, keiner hussitischen, als Messdiener antreten und des Nachts unterhalb der Karlsbrücke das Treibholz aus der Moldau fischen.“

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