Heydrich und das andere Prag
Hellmut G. Haasis
Nachdem ich Georg Elser der überlieferten Bedeutungslosigkeit entrissen hatte (”Den Hitler jag’ ich in die Luft”. Der Attentäter Georg Elser. Eine Biographie), blieb bei mir Unzufriedenheit zurück. Wieder einmal bekommen die Altvorderen Recht, die seit über hundert Jahren herunterleiern: In Deutschland kommen Auflehnung, Widerstand, Rebellion, Aufstand nie zum Erfolg. ”Eine verspätete Nation”, so jammerte man in den Fünfzigerjahren. Und in diesem Ton wurden wir politisch erzogen.
Diesem Erbe kollektiver Depression wollte ich abhelfen. Womit? Natürlich mit einem Erfolg. Wo aber kam ein Attentat zum Ziel, in der neueren Zeit und gegen einen deutschen Gewaltmenschen auf höchster Ebene? Mit Hitler - da war es ja wohl nichts. 42 Fehlschläge zählt die Historiographie, ein wenig flüchtig, wo ich jetzt schon bald ein halbes Dutzend weitere Versuche kenne. Aber die Fehlschläge will ich nicht pflegen.
Meine historische Fantasie durchstreifte meine schmalen Kenntnisse. Da - ja da war doch was. Nur wo? Wo traf es einen ganz hohen Nazi? Aha. Ich teste meinen Freundes- und Bekanntenkreis. Lauter helle Köpfe, aber nur ungefähr die Hälfte kam auf Prag und Heydrich und traf so einigermaßen das Jahr 1942.
Nun, das ist wie für mich geschaffen. 1942 - das Jahr meiner Geburt. Ein Jahr später blieb der großdeutsche Ausflug im russischen Winter stecken. Während in Deutschland die meisten sich besoffen über Deutschlands Macht und Ausdehnung freuten und kaum etwas taten, um die Kriegsmaschinerie zu verlangsamen, fuhr Reinhard Heydrich seelenruhig in eine Prager Haarnadelkurve. Dort standen zur rechten Zeit zwei Fallschirmjäger. Aber wie heißen denn die beiden bloß? Bei meinen Tests kannte niemand einen Namen.
Da wollte ich es genauer wissen. Erstaunlich: es gibt keine Darstellung des Attentats von einem deutscher Autor (samt der weiblichen Sprachform/In). Nur Buch eines englischen Professors, der vor allem die Funksprüche der tschechischen Widerstandskämpfer mit ihrem Exilgeheimdienst in London auswertete (Callum MacDonald: Heydrich - Anatomie eines Attentats, 1990). Völlig anders ein tschechischer Autor, eigentlich Dvorak-Verehrer, der Vater in Mauthausen ermordet (Miroslav Ivanov: Der Henker von Prag, 1993).
Ivanov war ein Prager Schlitzohr bester Sorte. Haha, der alte Schwejk hat sein Volk nicht umsonst Subverion gelehrt. Es lebe der alte Anarchist Jaroslav Hasek, jawohl.
Wer Gespür hat für den Wind, der einen während des Ausgrabens verschütteter Geschichte wohltuend streift, der halte geschwind ein und proste dem alten, nun leider toten Ivanov zu. Hat er verdient.
Es geht weiter. 1961 begann Ivanov, noch zu den besten Zeiten des Spätstalinismus an der Moldau, verbotenerweise die alten Unterstützer der 1942 untergetauchten tschechischen Fallschirmjäger zu besuchen. Unter geradezu konspirativen Vorsichtsmaßnahmen löste er ihre gelähmten Zungen. Was er erfuhr, musste er tarnen. Bei der Veröffentlichung ließ er Namen, Orte, Adressen, nähere Umstände der da geheimnisvoll Redenden weg. Die Staatssicherheit las ja immer mit - sofern sie lesen konnte.
Das Werk tarnte er nach Zusammenstößen mit der Parteizensur durch ein Klassikerzitat des Langweilers Gottwald. Ivanovs Buch kam 1965 heraus. Leider bekam der Autor vom Leben nicht mehr die Chance, nach 1990 die Verschlüsselung der Personen und mancher Sachverhalte in einer revidierten Fassung aufzulösen. So liegt heute eine rätselhafte Zeugensammlung vor, die man erst nach monatelanger Rekonstruktion des verloren gegangenen Schlüssels versteht. Als ich die meisten Zeugen identifiziert hatte, wurde mir das Buch zu einem wahren Schatzkästchen des Prager Widerstandes.
Den beiden Fallschirmjägern Jozef Gabcik und Jan Kubis - die Namen muss man sich endlich merken, verdammt nochmal - ging es wie Elser: Die DDR hat das Ereignis völlig ausgeklammert. Der ”Rote Vatikan” ist immer für einen makabren Witz gut, aber der Westen war nicht viel besser. Als Hitlers Armeen zerschlagen waren, bekannte sich die neue Tschechoslowakei zu ihren Partisanen, die in der Krypta der orthodoxen Kirche St. Cyrillus und Methodius eine Erinnerungsstätte einrichten wollten. Denn dort hatten bald nach dem Attentat vom 27. Mai 1942 dann am 18. Juni sieben eingeschlossene Fallschirmjäger sieben Stunden lang 800 SS-Leuten Widerstand geleistet.
Es kam alles anders. Die KPC riss 1948 die Macht an sich, schaltete das politische Leben gleich und entfernte die Andersdenken aus allen Positionen. Nun drohte den Westemigranten das Sterbeglöckchen, den Soldaten, die nach England ausgewandert waren. Im Zuge des stalinistischen Schauprozesses gab es eine Hetzjagd auch auf die Westexilierten in der eigenen Partei. 1952 hingen an den Galgen im Innenhof des Pankrac-Gefängnisses elf exilierte Kommunisten, die meisten übrigens jüdischer Abstammung. Einst hatten die Nazis hier patriotische Tschechen gehenkt. Die letzten Fallschirmjäger taten gut daran, so rasch als möglich erneut abzuhauen. Kaum einer ist zurückgekommen.
Was die Stalinisten an Überlieferung übrig ließen, interessierte im Westen nur wenige, abgesehen von dem Staatskult, der mit dem zerstörten Dorf Lidice und dem Blutbad zelebriert wurde. Auch hier wie so oft bei Staatsverehrungen ein ungutes Gefühl: Schon für das nächste ähnlich verwüstete Dorf Lezaky interessierte sich ”das Weltgewissen” einen feuchten Dreck. Solche Lidices gab es in der Sowjetunion zu Dutzenden, die Namen sind untergegangen. Ähnlich in Griechenland, Jugoslawien usw.
Gegen die Aufarbeitung der deutschen Terrorgeschichte an der Moldau wehren sich als dritte Strömung die Sudetendeutschen, wobei man nicht mehr weiß, wer das eigentlich ist und wer sie zum immer neuen Ritten gen Osten legitimiert hat.
Aus diesem vielseitig verminten Prag wollte ich weg, in den Untergrund der kleinen Leute, der selbstlosen Unterstützer der tschechoslowakischen Fallschirmjäger. Bei allem Versteckspiel mit der Staatssicherheit spricht aus den Stimmen der Prager Unterstützer für Gabcik, Kubis und die anderen ein eigentümliches Geschichtsbewusstsein, wie man es immer wieder bei unterdrückten Völkern findet, die sich ihr Freiheitsbewusstsein nicht abkaufen lassen. Wer damals von einem ungerechten, gar diktatorischen Staat verfolgt wurde, von nahmen nationalbewusste, stolze Tschechen auf. Die Familien, die die Fallschirmjäger bei sich versteckten, lebten in einem gemeinsamen alten oppositionellen, autonomen Staatsbewusstsein der Tschechen, das historische Romanautoren wie Jirasek überaus populär gemacht hatten. An die Konsequenzen dachte man nicht, man wusste ja aus der Geschichte der Hussiten, wie lange diese Volksbewegung aufs schwerste verfolgt worden war und am Ende doch gesiegt hatte. In diesem Sinne lebte beim besten Teil des Prager Untergrundes ein hussitische Tradition, die zu einem wichtigen psychischen Faktor im Widerstand wurde. Das hat selbst die Gestapo gespürt und daraus den richtigen Schluss gezogen, dass sie diese Leute doch niemals für den großgermanischen Rassismus gewinnen werde.
Als ein zweiter roter Faden durch die Attentatsgeschichte fiel mir eine Menge von Slapsticks auf. Was da alles schief ging. Viel Schwejk, auch ein wenig ein Prager Karl Valentin. Das Ganze hätte Charlie Chaplin jauchzen lassen. Sein ”Großer Diktator” Fortsetzung mit dem ”Henker im verwegenen Prag” finden können.
Die burlesken Zugaben des Attentatsgeschens hat man nicht sehen wollen. War das peinlich, angesichts des massenhaften Todes einfach zu lachen. Aber die Ereignisse sprechen nun mal die souveräne Sprache des Galgenhumors. Als die SS Schläuche der Prager Feuerwehr in die Krypta einführen ließ, um die Partisanen zu ersäufen, gelang es den Partisanen mehrmals, mit einer langen Leiter die Schläuche hinauszudrücken. Und es war Jozef Gabcik, der als erster ein herrliches Gelächter anstimmte.
Es gehörte eine ziemliche Portion Mut dazu, bei der Gestapo sich für verhaftete Unterstützer einzusetzen. Als nach dem Attentat eine Familie im Gestapohaus einsaß, nahm nach einer Woche eine der Nachbarinnen ihren Mut zusammen. Sie betrat das ängstlich gemiedene Haus und fragte einen wachhabenden Gestapomann, wie es denn ihren Nachbarn ginge und ob die nicht etwas bräuchten. Der Schurke schrie die Frau an: Denen gehe es ausgezeichnet, warum sie sich denn darum kümmere, ob sie nicht auch hierher wolle. Die Pragerin ließ sich nicht aus dem Gleichgewicht bringen: Es gehe ihr nur darum, dass in der Küche dieser Nachbarn Nudeln seien und die Nudeln verfaulten und der Gestank ziehe durch das ganze Haus, da wolle man halt wissen, wann diese Leute wieder zurückkommen.
Es wäre eine schöne Tat, vor dem einstigen Gestapogebäude in Prag ein Denkmal aufzustellen für diese tapfere Frau und die Nudeln.
Slapsticks haben sich von Anfang an des Attentats bemächtigt. Als Heydrich, eingelullt durch seine Einbildung, alle Tschechen liebten, in die Haarnadelkurve einbiegt, springt ihm Jozef Gabcik entgegen, mit einer englischen Maschinenpistole. Drückt ab. -Nichts, kein Schuss löst sich. Mit den 32 Projektilen des Magazins wäre Heydrich sofort ein Fall für den Friedhof gewesen, nicht erst nach einer Woche.
Heydrich, ein gänzender Säbelfechter und vorzüglicher Pistolenschütze, sieht die Chance seines Lebens gekommen, als heroischer Einzelkämpfer in die Geschichte einzugehen. Er befiehlt dem Fahrer anzuhalten, er will sich den Kerl da am Straßenrand schon kaufen. Heydrich greift in die Autotür, wo eine Pistole steckt, und springt hoch. Im gleichen Augenblick treffen ihn Autoteile, die die Spezialgranate des zweiten Attentäters Kubis losgerissen hat. Heydrich zielt - aber auch bei ihm geht kein Schuss los.
Nun rennt Heydrichs Schofför raus und jagt dem davonlaufenden Gabcik hinterher und zielt mit seiner Walther-Pistole - auch dieses Ding geht nicht los. Zum Kaputtlachen: die SS-Leute verstehen nicht mal, ihre Waffen in Ordnung zu halten. Gabcik springt von Deckung zu Deckung und - ja wenigstens seine Pistole funktioniert, er schießt zurück, trifft aber niemanden. Nach langer Jagd erwartet der SS-Mann den Gabcik, wie er aus dem Versteck in einer Metzgerei herauskommt. Der Attentäter schießt dem SS-Mann, der ihn mit bloßen Händen ergreifen will, nur in die Beine, lässt ihn liegen und entkommt über die Brücke nach Prag hinüber.
Inzwischen hat der andere, der eigentlich entscheidende Attentäter Kubis sein Radl geschnappt und fährt seelenruhig in den Vorort Liben. Heydrich, das Ziel des ganzen Unternehmens, liegt derweil verletzt und erschöpft auf dem Autokühler. Übrigens eine große Mercedes Limousine. Schutzlos, die beiden Attentäter hätten ihn in aller Ruhe nach Walhalla schicken können. Aber nichts geschieht.
Später, nach dem Krieg, als die Teilnahme an dieser größten Aktion des europäischen Widerstands billiger zu haben war, behauptete der Schwätzer Vanek, damals hätte rund ein Dutzend weiterer Widerstandskämpfer an der Kurve gewartet. Ein Traum mit vollem Bauch auf dem Sofa am Sonntagnachmittag. Es wäre leicht gewesen, das nur halb gelungene Attentat zu vollenden.
Ja aber, so werde ich allenthalben gefragt, so steht es auch in den gescheiten Büchern: War das Attentat überhaupt sinnvoll? Nun ja, das ist ja immer die gleiche Frage, ob durch eine Tat etwas verhindert oder einn schlimmer Zustand nicht erst recht verstärkt wird.
Hier wenigstens, im Prag von 1942, lässt sich sagen, dass Heydrichs Tod der erste empfindliche Schlag gegen die Herrenrasse in Europa war. Dabei traf es noch einen Blonden mit Gardemaß, neben den vielen schwarzhaarigen Nazis ein echtes Rassemuster. Hitler, der bei jeder Gelegenheit sein Maul stundenlag aufzureißen und im Großdeutschen Rundfunk in die Seelen der braven Deutschen einzudringen pflegte - Hitler verschlug es bei der Trauerfeier in Berlin die Sprache. Am Sarg in der Reichskanzlei kam er über drei Sätze nicht hinaus. Ans Grab traute er sich schon nicht mehr. Von da an war Hitlers Begabung als Trommler in biergeschwängerten Männerversammlungen wie weggeblasen.
Ja aber die schrecklichen Repressalien nach Heydrichs Tod? Lidice? Die Terrorperiode, die die Tschechen ”die Heydrichiade” nennen? Diese Bedenken stellen unter uns einen letzten Ausläufer der Nazipropaganda dar. Wie wenn ohne Widerstand auch nur ein einziger Tscheche mehr überlebt hätte. Heydrich hatte, feigerweise in zwei Geheimreden auf dem Hradschin, angekündigt, die Hälfte der Tschechen müssten ”an die Wand gestellt” werden. Und die tschechischen Juden, wer hat von denen Heydrich auch nur ein Härchen gekrümmt? Dennoch fuhren jede Woche einige tausend in den Tod. Noch mehr Todestransporte waren nur deshalb nicht möglich, weil die Nazis nicht mehr Eisenbahnmaterial besaßen. Durch das Attentat änderte sich nur die Propaganda, der Todesfeldzug war schon lange im Gange.
Wer mal wieder nach Prag kommt, sollte die Haarnadelkurve suchen. Ein Kunststück mit einem guten Stadtplan. Zeit sollte man sich lassen für einen Besuch in der Todeskrypta, mit einer anschaulichen Ausstellung über das Attentat und die letzte Schlacht in der Kirche. Oben eine geschmackvolle orthodoxe Kirche, die selbst für einen Freidenker etwas Versöhnliches hat, wenn man an einem Sonntagmorgen stehend den Gottesdienst verfolgt.
Eine ästhetisch ansprechende Performance, mit angenehmen Zutaten für den Geruchsinn, einer schönen Bilderwand, viel Licht im Raum, zwei große Diakone, die mit gelben Gewändern wie Erzengel aus der Ikonostase herauskommen. Und diese Kirche steht ungeschmälert zu den Freiheitskämpfern, die hier starben. Der Geist des in Deutschland, in Konstanz verbrannten Jan Hus erweist sich auch hier noch als eine Geschichtsmacht.