Weißenstein Karl wandert durch die Stadt der toten Dichter
Johannes Urzidils vergessene Erzähler
von Hellmut G. Haasis 29. April 2009
Prag Kleinseitner Brückenturm bei Nacht
Weißenstein Karl – Traumgestalt zwischen Angst, Kaffeehaus und Pogrom – stolpert über Erzähler, die dem Prager Literaturkanon entglitten sind.
Die ältesten Autoren findet er beim Friedhof: Seligmann Kohn („Der Prager Tandelmarkt“, 1834), Salomon Kohn („Reb Jisroel Schachner“, 1884), Alfred Meißner („Lederhausgässchen“, 1865) und Georg Carl Herlessohn („Bitterer Kelch der Lebensprosa“, 1845).
Den Sucher treibt es vorbei am verschollenen Cafe Union. Er vermisst die größere Seite der Stadtkultur, die tschechische: das „Befreite Theater“ (Jan Werich/Jí?i Voskovec und der Jazzer Jaroslav Ježek) und die ästhetische Avantgarde (Karel Teige u. a.).
In einer Ecke schreibt noch immer der Jaroslav Hašek von seiner Freud am Militär. Der sieht, dass der Weißenstein Karl ja der Charlie Chaplin ist.
Über die Karlsbrücke will er, nachts, der Weißenstein Karl. Beim Teufelsbach ?ertovka zieht es ihn ins Haus „Zu den Neun Teufeln“.
Haarscharf an der Tür, die sich hinter ihren Opfern nicht mehr öffnet, erzählen Tony Brook („Begegnung mit dem Golem“, 1937) - hinter dem Pseudonym steckt der Münchner Jude Fritz Rosenthal, der später in Jerusalem als Schalom Ben Chorin (1913-1999) berühmt wurde - Hans Klaus („Die Verklärung des Dr. Schourek“, 1930) und Arthur Heller („Meister Unruhig“, 1929).
Zurück treibt’s Weißenstein zum Rabbi-Löw-Denkmal (Moshe Jaakov Ben-Gavriel, „Der Neplatka: die neue Saga von Prag“, 1943) und zur Altneuschul (H. G. Adler, „Die Verbotenen“, 1962; Herbert von Fuchs, „Unsere tägliche Höllenfahrt“, 1917). Am Friedhof schließt sich der Kreis (Siegfried Kapper, „Das leere Grab“, 1896; Antoinette von Kahler, „Messias“, 1943).
Diese verwehten Spuren folgen Motiven Urzidils: „Prager Triptychon“, „Die verlorene Geliebte“, das Haus „Zu den Neun Teufeln“ und Wenzel Hollars „Elefantenblatt“.
Vergegenwärtigt mit einer Geschichte jedes Erzählers. Hier lebt ein Prag jenseits des auftrumpfenden Nationalismus oder des brachial optimistischen Staatssozialismus.
Meinem Prag-Lesebuch gab ich vorzeiten den Titel „Die unheimliche Stadt“ (Piper, 1992). Inmitten der gegenwärtigen Weltkrise gewinnt der Geist dieser Erzählungen schon wieder Bedeutung.
Hier wurde erzählt, was allgemein geworden ist: Die Welt als ein großes Gebeinhaus. Gegen das Vergessen helfen nur Erzählen und wieder Erzählen - sagt der Weißenstein Karl - und eine Freud an Charlie Chaplin, Eulenspiegel und anderen heimlich gescheiten Scherzbolden aller Kulturen.
Radierungen von Hugo Steiner-Prag begleiten die Texte.
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Für 2009 wurde ein Kongress von Tschechen und Deutschen angekündigt, im alten problematischen, von Sudetendeutschen und Nazis einst verseuchten Aussig, sonst Usti nad Labem geheißen.
Ziemlich sicher kam ich irrtümlich auf die Liste der Herrschaften, die ihre Idee einreichen sollten. Hier ist sie – zum Kongress selbst schaffte es mein Erzähltraum nicht. Dieses Ende passt zum Thema, insofern kein Grund zur Überraschung. (August 2012)