haasis:wortgeburten

Prag

prager nacht stuttgart 2006

hellmut g. haasis, tannenstr. 17, 72770 reutlingen
tel/fax 07121/50.91.73
3. oktober 2006

an die projektgruppe tschechische bibliothek
robert bosch stiftung
heidehofstr. 31
70 184 stuttgart

prager nacht
stuttgart 30. september 2006

hallo meine lieben literaturfreundinnen,

es tut mir leid, aber es hat keinen sinn, eine arge enttäuschung nur mit sich herumzutragen.
es steht zu befürchten, dass sie die nächste prager nacht ähnlich in den sand setzen werden.
sie werden die probleme nur auf den shuttle-bus schieben.
aber die probleme liegen tiefer: sie liegen an der inszenierung mit ihren orten und an der textauswahl, einer öden dramaturgie, die einer psychiatrischen anstalt gut anstehen würde.

wenn wenigstens die leseorte (diese unsäglichen lokeischens) passend und angenehm gewesen wären und die ausgewählten stücke animierend, dann könnte man viel verzeihen.
leider passte oft nicht mal das.

wir waren beim anfang auf dem dach der feuerwache 2 in der weimarstraße. etwas vom besten an diesem abend, obwohl das stück von julius zeyer über seine garten-erinnerungen ein wenig dürftig ausfiel.

dann rutschte das unternehmen ins dilemma ab. wir warten weit über eine halbe stunde auf den ominösen shuttle-bus. die stimmung sinkt, die jüngsten und tapfersten stuttgarter fangen das marschieren an. bei der weiten streuung der leseorte kommt man da nicht weit.

endlich sind wir im luftschutzbunker beim diakonissenkrankenhaus.
die lesung unten sollte uns hart anpacken – das publikum weiß sich dagegen zu helfen. wir werden a bissl pragerisch. obwohl es, wie wir hören, nicht hätte sein dürfen, dass wir uns auf stühlen setzen, wir holen sie uns. - und ruhen aus. das muss sein, auch wenn es nicht der angestrebten schockierung entspricht.

und sind begeistert über die inszenierte lesung von kafkas „bau“. klasse, der schauspieler mathias kopetzki. bei friedel schirmer, einst am staatstheater, hätte er das ganz trocken und langweilig lesen müssen, „dekonstruktivistisch“ und „postmodern“, wie dieser stuss in der branche zu heißen pflegt.

der nächste bus? wir stehen und stehen und schwätzen miteinander. sicher nicht schlecht, mit zufällig zusammengewürfelten sich zu unterhalten. neben uns ein gebürtiges tschechisches paar. wir stehen wieder rund eine dreiviertel stunde. niemand weiß, wohin das führen soll.

zufällig bekommt eine andere mitleidende kontakt mit einer freundin im bus, der unten am volksfest im stau steht. sie gibt uns die einschätzung des fahrers durch: mindestens 25 minuten.

mit neuprager erfahrung veranschlagen wir 45 minuten - und schleichen über die harten straßen richtung leonhardsplatz. zufällig beobachte ich zwei schwer geplagte freunde der literatur, der eine mit einem hüftleiden, der andere mit einer achillessehnen-verletzung. beide waren sich sicher, der shuttle-bus werde sie entlasten.

die organisatorinnen werden sicher jünger und besser zu fuß sein. da kommen einem die mühseligkkeiten der älteren interessenten fremd vor – und reichlich verstaubt.

und das spüren wir auch bei der auswahl der texte. eine andere mitleidende erzählt enttäuscht, der havel-text im einrichtungshaus rohrer & wagenknecht sei arg schwer gewesen. eine andere bedauert, in der mehrzweckhalle unterm bahnhof seien ihr hrabal und kohout ziemlich aufgestoßen.

ich weiß, das halten jüngere literaturfreundinnen für unbedingt notwendig: die hörerinnen müssen desillusioniert werden. keine idylle. kein erfreulicher text, nein. volles rohr rein in die aktuelle depression, das sei die aufgabe von literatur, bildender kunst, musik und wasauchimmer.

die leute werden ihnen weglaufen. schade um die prager literatur. sie hat mehr zu bieten, als sie auswählten.

ich glaube, das ein wenig beurteilen zu können. sie selbst werden davon schon nichts mehr wissen, von meiner prager anthologie „die unheimliche stadt“. sie ist 1991 bei piper erschienen, inzwischen selbst in den internet-antiquariaten nicht mehr aufzutreiben.

darin hätten sie ansprechendere, vielfältigere texte gefunden. sicherlich nur deutschsprachige. natürlich sollten woandersher auch tschechische kommen.

bei pavel kohout haben sie aus dem roman „sternstunde der mörder“ gerade das widerlichste kapitel gewählt. einer frau wurde es so übel, dass sie fluchtartig die lesung verließ. den anderen stieß es nicht weniger ekel erregend auf.

nachher sprach ich kurz mit dem schauspieler heiner heusinger, der schon vorher unbehagen fühlte und deshalb seine aufgabe feinfühlig löste. er erleichterte mir sein herz: ja, er habe von sich aus weitere widerliche stellen gestrichen. – ich danke.

ich weiß, wir sollten das alles aushalten, glauben theoretikerinnen, die im trockenen und warmen sitzen. aber so vergraulen sie nur noch mehr aus der schmalen literaturszene.

was gäbe es anderes? prag ist mehr, ist auch leben, ist geistreich, nicht nur so psychotisch (wie der ewig abgenudelte kafka), nicht nur voller mörder, wie bei ungar und anderen.

aus meiner anthologie hätten einige texte besser gepasst, durch die bank auch peter demetz damals unbekannt. 1991 kam er just beim erscheinen meines buches zu piper nach münchen, bekam das büchlein zur begutachtung gereicht, sagte gönnerhaft, wie kenner zu tun pflegen: ach ja, wieder eines der üblichen lesebücher, rasch zusammenklatscht. mit gnädiger herablassung ging er das inhaltsverzeichnis durch - und las staunend einen unbekannten namen nach dem andern. am ende gab er – natürlich nur im kleinen rahmen – zu, fast die hälfte der autoren seien selbst ihm unbekannt. - inzwischen wird diese anthologie in germanistischen seminaren verschiedener universitäten als ergänzungsband zur eingeschränkten kafka-welt eingesetzt.

hugo steiner-prag:
auf dem gang in den stuttgarter luftschutzbunker,
auf der suche nach der kafka-lesung

 

was ich vorschlagen könnte?
ganz eigenartig, rätselhaft, aber gut verständlich, die geschichte von siegfried kapper „das leere grab“ auf dem alten jüdischen friedhof.

salomon kohn die beiden liebenswürdigen schrulligen, alten freunde „reb jisroel schachner und reb natel schmeling“.

leo perutz „mordechai meisls gut“.
sehr geheimnisvoll, ein schlüsseltext zum verschwundenen alten prag.

paul adler „der spiegel des kindes“. das motiv wurde später von anderen romanautoren weitergesponnen.

hugo steiner-prag „besuch um mitternacht“.
oder ein stück von meyrinks roman „golem“, wenn es gut inszeniert wird. kopetzki hat bewiesen, dass es geht und den leuten auch gefällt. – die leute wollen auch einmal einen beliebten klassiker hören.

eine entdeckung von kafkas letztem überlebendem freund, er hatte sein leben nach london gerettet: hans klaus: „die verklärung des dr. schourek“
(im anhang finden sie die kurz- und werkbiografien der unbekannten autoren)

warum nicht auch ein reizvolles licht werfen auf das alte prag? mit paul leppin „prag in seiner unzugänglichen schönheit“.

undsoweiter.
zum schluss könnte eine hoffnungsvolle geschichte davon erzählen, dass sich das freiheitsbedürftige und erzählfähige prag nicht unterkriegen lässt:
moshe yaakov ben-gavriel „das haus in der karpfengasse“, hieraus am kräftigsten das schlusskapitel mit dem neplatka, dem ominösen herrn prag. das ist eine begeisternde figur. enthusiasmus ist ein wesentliches lebenselixier.

ach ja, mit meinem erfahrungsbericht werde ich wieder mal ins leere gesprochen haben.
so ist das bei einem geschlossenen kreis von organisatorinnen.

Machen sie es bitte das nächste mal besser.
prag hat immer noch hoffnung.

tanti cordiali saluti
hellmut g. haasis

 

 

/prag/prager_nacht_2006.php | anares.org | comenius-antiquariat.ch Samuel Hess 2005