NACHTRAG ZU „TOD IN PRAG“, Nr. 2
LEIDEN ZWEIER DEUTSCHBÖHMEN
Für die Übersetzung meines Buches "Tod in Prag" ins Tschechische bot mir Herr Salfellner vom Prager Vitalis Verlag an, ich könnte wichtige Zusätze einfügen. Ich lieferte, der Verleger antwortete nicht, ich dachte, die Sache ginge in Ordnung.
Umso mehr wunderte ich mich, als in der tschechischen Ausgabe der Einschub fehlte.
Warum? Platz hätte es gegeben. Angst vor einer Verwechslung mit sudetendeutschen Reaktionären? Angst vor einem Sturm lauernder Deutschfeinde?
Es ist eine Schande, wenn man vor jedem ìrgendwie befürchteten Missverständnis zurückweicht. So was nannte man früher Opportunismus. Und es zahlt sich nicht aus.
Es geht hier ja nicht um alle Prager und Tschechen und nicht um alle Deutschen. Bei meinem ersten Nachtrag dreht es sich um eine den Krieg überdauernde nazitreue Gemeinheit, gesichert durch Beamtenmentalität und Dienstweg.
Eine nie ausrottbare Erscheinung. Daraus lässt sich für die Zukunft lernen.
Wie? Die Fahne der abstrahierenden Verallgemeinerungen und der posthumen Besserwiserei ein wenig tiefer hängen.
Es geht mir um sperrige Schicksale, die nicht zu verrechnen sind mit schablonierten Erwartungen.
Leider sind inzwischen die meisten solcher grässlicher Erfahrungen - auch auf der Seite der Tschechen - unter den Teppich gekehrt.
Aber aus solchen Stücken setzt sich oft das wirkliche Geschichtsbewusstsein der Familien zusammen, nicht aus klugen Einschätzungen, die man aus den Schulbüchern lernen musste.
Deshalb sind für mich umso wertvoller diese zwei Mosaiksteinchen. Die vielen Leiden der Tschechen hatte ich mehr zu Wort kommen lassen - und mich dann umso mehr über die pfiffigen Widerstandsformen aus dem Underground gefreut. Es leben die Gewerbeschüler von Kladno und Prag.
Vorgesehener Einschub für Kapitel 8, auf Seite 138 (deutsche Ausgabe):
Vieles von dem, was die Prager damals an Terror erlitten, dürfte in den spannenden Einzelheiten unrettbar verloren gehen. Was Deutschböhmen zu erdulden hatten, die als Freunde des tschechischen Volkes handelten, verschwand noch viel früher.
Deshalb sei stellvertretend an das Schicksal eines deutschböhmischen Eisenbahningenieurs erinnert, der heute (zur Zeit meiner damaligen Ergänzung im Jahr 2004) 93jährig in München lebt.
Er war unter Tschechen aufgewachsen, verstand also die Landessprache und die Mentalität. 1942 arbeitete er in der Berliner Reichsbahnverwaltung. Regelmäßig hörte er die tschechoslowakischen Sendungen von BBC London.
So erfuhr er am 27. Mai 1942 als einer der ersten Berliner, dass ein Attentat Heydrich getroffen hatte. Im Kollegenkreis bedauerte er, dass Heydrich überlebte.
Deutsche Kollegen denunzierten ihn der Gestapo, vorschriftsmäßig auf dem Dienstweg. Der Deutschböhme kam glimpflich davon. Ein Sondergericht in Berlin-Moabit verurteilte ihn zu zwei Jahren Gefängnis. Danach Strafbataillon.
Noch heute ist der Hochbetagte sicher, dass er für seine Aussage in Prag hingerichtet worden wäre. Aber in Berlin habe man billigende Aussagen über das Attentat nicht ganz so heiß gekocht wie in Prag.
Nach dem Krieg, so erzählte er mir, sei er in der neuen Bahnverwaltung lange als "Vorbestrafter" diskriminiert worden, makabrerweise von denselben Kollegen und Vorgesetzten, die ihn damals verpetzt hatten.
Die Unbelehrbaren beklagten noch immer, dass man ihren antinazistischer Kollege nicht hingerichtet hatte. Noch heute fühlt er sich bedroht durch diese Kreise, weshalb er mich um das Verschweigen seines Namens bat.
Ein ganz anderes Beispiel: Im März 1942 heiratete Lieselotte Franck (geb. 1918 in Kaiserslautern) in Prag den deutschböhmischen Kunstexperten und Kulturbeamten Francis Schmidt (geb. 1892 in Prag, ein studierter Kunsthistoriker). Seine Mutter war Tschechin, der Vater Deutschböhme. Francis Schmidt hatte im Prager deutschen Kulturamt Museen zu betreuen.
Das junge Ehepaar lebte in Freundschaft mit tschechischen und tschechisch-jüdischen Familien. Als jüdische Freunde deportiert werden sollten, wollten es die Schmidts nicht glauben, gingen mit zum Bahnhof und beobachteten aus einem Versteck, wie die Opfer in Viehwagen hineingezwängt wurden.
Während man die letzten Prager Juden abholte, nahmen die Schmidts 1943 und 1944 zwei Familien auf: zwei Ehepaare und zwei Kinder.
Frau Schmidt, heute in Tübingen wohnend - übrigens die Schwiegermutter des Tübinger Kunstexperten Götz Adriani - erinnert sich noch an den Arzt Kraus und seine zwei Söhne.
Das Haus der Schmidts lag beim Hauptbahnhof, in der Jindrišská Ulice, Ecke Jeruzalemská. Frau Schmidt beschaffte, was außerordentlich mühselig war, Lebensmittel und kochte für die im Dachstock Versteckten.
Ein Spaziergang war für die Illegalen unmöglich. Gelegentlich holte Frau Schmidt die Kinder in ihre Wohnung herunter. Die sechs Verfolgten erlebten das Kriegsende unversehrt.
Nun kam der gewaltige Prager Aufstand vom 8. Mai 1945. Die Schmidts wurden verhaftet, Hass und Rache der Prager Tschechen schlugen unterschiedslos zu.
Aber selbst hier war ein abweichendes Verhalten möglich, nun bei den Tschechen. 15 tschechische Freunde gaben den Schmidts schriftliche Bürgschaften, bestätigten ihnen die antinazistische Haltung und Hilfsbereitschaft.
Was für die Tschechen sehr gefährlich war: Das konnte nach Kollaboration riechen. Das hat es sicher noch öfters gegeben. Es wurde rasch verdrängt und damit die Geschichte grauer, widerlicher als sie eh schon war.
Ein anderes tröstliches Erlebnis hatte Frau Schmidt, nachdem ein Tscheche sie hochschwanger aus der Straßenbahn geworfen hatte, denn wie einst die Juden in Deutschland, so durften jetzt die Deutschen nicht mehr Straßenbahn fahren: Ein sowjetischer Offizier sprang der Hochschwangeren furchtlos bei.
Als ihr später frei gelassener Mann bei der Polizei einen Ausweis beantragte, zerriss man ihm die 15 Bürgschaften und warf ihn ins Gefängnis Pankrác.
Seine Frau tauchte nun unter und verbarg sich bei tschechischen Freunden, so bei den Eltern von Kafkas Freundin Milena Jesenská, mit denen sie schon lange befreundet waren, und den beiden geretteten jüdischen Familien.
Doch bald wurde auch sie festgenommen. In der Haft erlitt Frau Schmidt eine Fehlgeburt im 7. Monat, es wäre ihr erstes Kind gewesen.
Nach längerer Zeit erhielten die Schmidts ihre Freiheit wieder und wurden als eine der letzten Deutschprager ausgewiesen. Ihr Besitz, darunter eine schöne Kunstsammlung, musste in der gesperrten Wohnung bleiben. Alles wurde von Einbrechern weggetragen, das tschechische Volk hatte keinerlei Nutzen davon.
Ihr altes Haus durften die Schmidts nie mehr betreten, auch lange nach dem Krieg nicht.