SANIERUNGSFALL DEMOKRATIE?
Vortrag von Ralf Jandl im Hegelhaus in Stuttgart am 18. September 2010
Zur Situation der Zeit:
“Man befürchtet im Augenblick nichts mehr als den totalen Bankrott, dem wie es scheint, ganz Europa entgegengeht, und vergisst darüber die weit gefährlichere, anscheinend unumgehbare Zahlungsfähigkeit in geistiger Hinsicht, die vor der Türe steht.“
Wer war’s? Karl Marx, Kaiser Wilhelm, Frau Schavan? Nein!
Sören Kierkegaard, 1836.
Wir sehen: Europa ist morsch und zäh zugleich.
Heute gibt es ein politisches Unbehagen in allen westlichen Staaten, um die es hier gehen soll, und insbesondere in der BRD und USA.
Wenn man dem zugegeben kühnen Gedanken folgt, unsere Welt würde noch in 1000 Jahren bestehen und dann ein Philosoph wie Jaspers die Geschichte wieder in Achsenzeiten der Entwicklung einteilen würde, wie zuletzt das 16. Jahrhundert, könnte man sich vorstellen, dass er auch von unserer Epoche als einer Achsenzeit sprechen würde.
Dem Buchdruck entspräche heute das Internet mit noch viel mehr soziologischen und politischen Implikationen und der Entdeckung Amerikas die Globalisierung, statt der Reformation vielleicht die Rezession des Christentums und die Verbreitung des Islam sowie das Ende des Wachstums als allgemeines Lebens - und Wirtschaftsprinzip, das auf uns zukommt, wie auch die Verminderung des Wohlstands in den westlichen Staaten und last not least die Emanzipation.
Zum allgemeinen Unbehagen in der Kultur, mit dem sich schon Sigmund Freud befasste, kommt heute eine tiefgehende Unzufriedenheit in allen Industriestaaten, vor allem an der Politik. Liegt’s an der Demokratie?
Willy Brandt gewann die Bundestagswahl 69 mit der Forderung: Wir müssen mehr Demokratie wagen. Offensichtlich ist diese Forderung noch nicht ausreichend erfüllt.
62 % der Deutschen sind mit dem politischen System in Deutschland unzufrieden, gleich ob Schröder oder Merkel regieren. Formal läuft alles richtig, aber die Politik überzeugt nicht mehr trotz der Beachtung des GG.
Eine Demokratie ist nach US Forschern dauerhaft nur möglich, wenn das BIP pro Kopf auf mindestens 3000 Dollar beträgt. Manche Entwicklungsländer scheiden nach dieser Theorie für die Demokratie noch aus. Andererseits müsste ein reiches Land eine stabile Demokratie aufweisen, am Geld kann’s daher bei uns nicht liegen.
Man braucht aber auch Köpfe und
Freiheitsbewegungen, um Demokratie zu generieren, wie Vaclav Havel, Nelson Mandela, Lech Walesa und Kim DaeJung.
Es bedarf nicht nur Geld, wenn Demokratien entstehen sollen. Und es bedarf auch an Köpfen und Persönlichkeiten unter den Politikern, um die Demokratie zu erhalten. Dazu gehört mehr als Kenntnisse der Rhetorik und public relations. Es gehört auch mehr dazu als die 5 demokratischen Wahlgrundsätze, wie Merz meinte. Periodische Wahlen reichen nicht.
Es bedarf soziologischer, psychologischer und rechtlicher Komponenten.
Der Bürger muss sich ernst genommen fühlen, nicht nur mit Sprechblasen abgespeist, und die Gesellschaft darf nicht ungerecht werden wie heute:
Beginnen wir mit der:
Sozialen Gerechtigkeit
Der Begriff und die Praxis der „Sozialen Symmetrie“ garantierte der Bundesrepublik jahrzehntelang soziale Stabilität. Seit langem geht aber bei uns die Einkommensschere fortlaufend weiter auseinander.
Folge ist, dass die Einkommensarmen erheblich wachsen, auch die Einkommensstarken zulegen, und die eigentlich staatstragende Mittelschicht in Existenznot gerät. Daraus folgt eine Destabilisierung des gesamten gesellschaftlichen Systems.
Im Fernsehen blitzte vor kurzem die Meldung auf, 9 von 10 Deutschen würden unsere Wirtschaftsordnung für ungerecht halten. Die Meldung blitzte auf und verschwand wieder, für Talkshows war sie wohl zu grundsätzlich.
Die einen wissen es, die Bevölkerung fühlt es, so kann es nicht weitergehen.
Notwendiger scheint ein Paradigmenwechsel.
Die Vorstellung eines ewigen Wachstums ruiniert Staat und Gesellschaft.
Forderung nach Wachstum und politische Hintergründe:
Wachstum wird von der Politik benötigt, um auf Politik verzichten zu können. Es müssen keine Schwerpunkte gebildet werden, alter Ballast muss nicht beseitigt werden. Die Macher machen, bis nichts mehr zu machen ist. Mit dem Wachstum schwindet die Seriosität aus dem politischen System und der Staatlichkeit selbst.
Verfall der Autoritäten:
Die Erschütterung der Autoritäten begann 1968 in der ganzen westlichen Welt gegen Uni, Kirche und Staat.
Am hartnäckigsten, mit Ausläufern bis heute, in Deutschland, wo es zu einem ausgeprägten Sohn – Vater Konflikt gegen die auch nach 45 vorherrschenden autoritären Strukturen in der Kriegsgeneration kam.
Der Verfall der politischen Autoritäten wurde von manchen Politikern forciert im Zeichen der Bürgernähe.
Rommels Meinung hierzu war - jedermanns Liebling ist jedermanns Dackel.
Andererseits bleibt festzuhalten, ohne Autorität gibt es kein Vertrauen, ohne Vertrauen keine Anerkennung.
Je weniger der Bürger komplexe politische Fragen aber mit eigenem Sachwissen beurteilen kann, desto wichtiger wird das Vertrauen in die Politiker.
Die mangelhafte Information der Bürger im Fernsehen wird noch gesteigert durch die political correctness, mit der die Lüge hoffähig gemacht wird, bzw. der Bürger vorsätzlich getäuscht. (Kollateralschäden, robuste Einsätze, Kippen von positiven Bestimmungen usw.)
Moderne Medien leben vom Schüren der Affekte, nicht von objektiver Information.
Noch heute gibt es viele Tabus, die von Politikern und Medien streng beachtet werden.
Eine Ausnahme bildete Steinbrück in der Fernsehsendung: Blick in den Abgrund.
Selten wird an den Menschen direkt appelliert, so als Merkel und Steinbrück auf dem Höhepunkt der Finanzkrise erklärten, die Spareinlagen seien sicher (waren sie i. ü. nicht).
Kriterium für ehrliche Politiker ist, ob sie Fehler zugeben und sich damit als lernfähig erweisen.
Was politisch nicht vermittelbar erscheint, ist sachlich falsch (z. B. Kopfprämie bei der Gesundheitsreform) Der letzte allgemein anerkannte Wert in Deutschland war der Wert der DM.
Die Wertediskussion ist im übrigen ein Thema für kirchliche Akademien, entscheidend ist das Recht.
Politische Institutionen im einzelnen:
Bundestag und EU Parlament
Hier ist das gravierendste Defizit die peinliche Abhängigkeit der Parlamente von den Multis, wie sie in Brüssel durch Demonstrationen der EU Parlamentarier nach ihrer Niederlage bei der Kennzeichnungspflicht bei den Nahrungsmitteln und den Finanzgesetzen zum Ausdruck kam. (s. hier den Suhrkamptext des politischen Wissenschaftlers Crouch, der diese Problematik überzeugend darstellt)
Hier sei auch angefügt, dass seit Bundeskanzler Schröder in manchen Ministerien die Lobby eigene Räume hat. Das Extrem dürfte die Pharmaindustrie darstellen, die sich bislang gegen jede Regierung durchsetzte.
Leidenschaftliche Grundsatzdebatten im Bundestag, die solche Abhängigkeiten aufreißen, sind selten geworden.
Stattdessen werden Reden zu Protokoll gegeben, d. h. gar nicht gehalten.
Anders als in Weimar war durch die Teilung Deutschlands ein Ringen um den rechten Weg wie damals, als führende Intellektuelle und Politiker - Rathenau, Erzberger, Stresemann, Ebert, Max Weber, Friedrich Naumann – sich leidenschaftlich bemühten, Deutschland nach der Niederlage im 1. Weltkrieg wieder hochzubringen, nicht feststellbar.
Im Westen galt der Kapitalismus mit Vorbild USA, im Osten der Sozialismus mit Vorbild Sowjetunion, wenn man von Grundsatzstreitigkeiten in den unmittelbaren Nachkriegsjahren absieht.
Weitere parlamentarische Defizite:
Ausarbeitung von Finanzgesetzen durch amerikanische Großkanzleien in Berlin.
Abhängigkeit vom Fernsehen
Der MdB Friedrich Merz meinte sogar, Talkshows seien wichtiger als Bundestagssitzungen! Die Talkshow ist aber Unterhaltung und kein objektives Informationsmittel, selbst vorsätzliche Lügen werden nicht berichtigt. Sie verläuft immer im mainstream, argumentiert nie tiefgreifend grundsätzlich und kratzt nur an der Oberfläche.
Als Ergebnis ist festzuhalten, dass sich das Parlament
unnötig selbst schwächt und der einzelne Abgeordnete geradezu machtlos ist.
Der Bundesrat:
Der Bundesrat steht weniger in der Optik der Bevölkerung. Er führt zum Thema Föderalismus. Dieser hat die Ewigkeitsgarantie in der Verfassung, ausreichend wären aber zwei Länder, um dieser Vorschrift zu genügen. 16 sind entschieden zu viel.
Die Bildungskatastrophe ist nicht zuletzt Folge des Föderalismus, der immer ein großes Hindernis ist, wenn Deutschland als Ganzes betroffen ist.
Ein Vorteil ist, dass das Durchregieren schlecht möglich ist, aber auch normales Regieren immer schwieriger wird. (Umweltminister a. D. Ulrich Müller: Werden wir unregierbar?)
Der Föderalismus ist heute bei weitgehend gleichen Lebensverhältnissen in Deutschland in dieser Form nicht mehr notwendig und führt zu einer unnötigen Überbürokratisierung.
In seiner konkreten Form wurde er von den Alliierten gewollt als Mäßigung der Zentralgewalt – heute ist die Zentralgewalt mäßig genug.
Die Zahl der Länder wird leider nur im Sommerloch diskutiert, viele fette Stellen würden wegfallen. Es gibt hohe Ämter auch für sehr Mittelmäßige, und die Landtage können seit der Aufbauarbeit sich nicht wegen Überarbeitung beklagen.
Was zunimmt ist die Gespreiztheit der Politiker, wie sie in der Forderung nach dem größten Porsche als Dienstwagen für den Landtagspräsidenten von Baden-Württemberg deutlich wurde.
EU:
Die EU bestimmt den Bundestag zu 85 %, d. h. insoweit sind Bundesgesetze nur der Vollzug von EU Recht. Die EU produziert nicht nur haarsträubende Richtlinien über die Krümmung der Gurken, sondern bewegt viel, was der Bürger oft nicht mitbekommt (Beseitigung der Monopole, strenge Kartellgesetzgebung, Energiefragen usw.)
Ein großer Nachteil ist ihre Bürgerferne, das Fehlen großer Europäer unter den Politikern und die verheerende Entwicklung der Finanzen in einzelnen Ländern, die entgegen der EU Verfassung im wesentlichen vom deutschen Michel aufgefangen werden müssen.
Der Bundespräsident:
Hier ist Ruf nach Volksbeteiligung zuletzt laut erschallt.
Hier zeigt sich aber auch die Gefahr der unmittelbaren Volksbeteiligung, wie in der Weimarer Zeit bei Hindenburg.
Am Tage vor der Wahl führte bei informellen Abstimmungen der Kandidat Gauck, am Tag danach waren es 70 % die Wulff für geeignet hielten.
Merke: Die Bevölkerung ist generell als Ganzes leichter zu manipulieren wie das Parlament oder die Bundesversammlung, da die Parteien dort als Filter wirken.
Weitere staatliche Institutionen:
Über allem Tadel steht in Deutschland das BVerfG (Bundesverfassungsgericht) und die Bundesbank, bzw. die EZB, die beide nicht demokratisiert sind. Der amerikanische Publizist Fareed Zakaria weist an amerikanischen Beispielen nach, dass der Niedergang der USA nicht zuletzt auf die Demokratisierung von allem und jedem zurückgeht!
Sind an alldem wirklich nur die Politiker schuld oder diese das Treibholz auf dem Strom der Gesellschaft?
Gesellschaftliche Wandlungen:
In Deutschland ist seit 1949 ein großer Generationenwandel festzustellen. Im Bundestag sind heute weniger kantige Politiker (kein Adenauer, Schumacher, Wehner, Strauss, Schmidt). Auch im Landtag kein Reinhold Maier, kein Gebhard Müller, kein Ralf Dahrendorf und kein Erhard Eppler.
Gesellschaft und Parlament waren damals von viel mehr existentiellen Härten gezeichnet als heute. Heute fehlt die Leidenschaft, die interessanterweise jetzt bei der Deutschen Bank angesiedelt ist.
Es fehlt aber auch der „heilige Zorn“ für große Kraftanstrengungen, wie ein neues Steuerrecht, den Subventionsabbau und nachhaltige ökologische Politik, stattdessen viel Kleinklein mit großem Getöse.
Das Ideal von Max Weber für Politiker, das Bohren dicker Bretter mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich, wird nirgendwo angestrebt. Unsere Politik ist bestenfalls nur noch ein erfolgreiches Krisenmanagement.
Der Erfolg des Tages gehört, wie Sophie von Eschenbach schon im 19. Jahrhundert erkannte, der „verwegenen Mittelmäßigkeit“. Der Trend geht zum Event, ja, zum politischem Showbusiness bei Vernachlässigung des nachhaltigen Denkens und Handelns.
Verantwortungsgefühl ist oft nicht mehr feststellbar, und der Soziologe Beck in München charakterisiert das öffentliche System zu Recht als organisierte Unverantwortlichkeit, z.B. Entsorgung der AKW, Loveparade etc.
Zwischen PR und Politik ist manchmal nicht zu unterscheiden.
Funktion der Eliten:
Eine merkwürdige Vorstellung ist bei uns, dass die Eliten vom Einkommen abhängen. Ein Feuerwehrmann gehörte danach nicht dazu, wohl aber jeder Kapitalkräftige.
Richtig ist, dass Eliten sich dadurch abzeichnen, dass sie Pflichten für das Gemeinwohl übernehmen, die andere nicht haben.
Mit dem Einkommen hat dies eigentlich nichts zu tun. Der reiche Steuerflüchtling beteiligt sich nicht einmal finanziell am Gemeinwohl, sonnt sich aber als so genannter Leistungsträger.
Er sollte sich sagen lassen, dass nach überzeugenden sozialwissenschaftlichen Forschungen die Lebensqualität ab einem Einkommen von 75 000 Dollar nicht mehr gesteigert werden kann.
Wie Peer Steinbrück im Fernsehen erklärte, seilen sich unsere angeblichen Eliten völlig von ihrer Pflicht gegenüber dem Gemeinwohl ab.
Das Motto von Madame Pompadour im Jahre 1750 scheint auch das ihre zu sein: Nach mir die Sintflut.
Ein frappierendes Gegenbeispiel ist in einem ganz anderen Bereich, das Verhalten der Engländer beim Untergang der Titanic 1912. Nach dem Grundsatz „ladies and children first“ wurden alle Kinder gerettet und fast alle Frauen. (3 waren nicht auffindbar und 2 wollten mit ihren Männern untergehen.)
Berühmt war früher auch die preußische Elite in Verwaltung und Militär, die fast nur aus Adligen bestand. Der einzig krumme Hund war Bismarck selbst, der sich weigerte Steuern zu bezahlen.
Gesucht werden heute wie damals profilierte Persönlichkeiten, wobei zu einem Profil auch Ecken und Kanten gehören, nicht nur das liebliche Eirund, wie bei manchen Politikerköpfen.
Auch eine hohe funktionale Intelligenz reicht für die Politik nicht aus.
Hinzu kommen muss ethisches Engagement, Ausrichtung am Gemeinwohl und Lernfähigkeit, was gestern richtig war, kann morgen falsch sein.
Vor- und Nachteile der direkten Demokratie:
Der Ruf nach direkter Demokratie dürfte Folge eines Ohnmachtgefühls der Bürger sein, die mehr mitbestimmen wollen. Viele sehen sich nur als Objekt des Staates, nicht als Subjekt, als kleines Rädchen im Getriebe. Dabei tritt ein Paradox auf:
Einerseits ist unsere Gesellschaft völlig partikularisiert, ohne Gemeinschaftsgefühl, außer beim Fußball, und ohne Orientierung am Gemeinwohl.
Andererseits nimmt die Bedeutung des Individuums fühlbar ab, und das Ende der Privatheit wird ausgerufen. Die Bedrohung der Persönlichkeit geht aber nicht mehr vom Staat aus, sondern von Einrichtungen wie Facebook und Google, mit dem von ihnen geforderten „Anspruch der Netzöffentlichkeit“, die völlige Transparenz erfordere.
Wir haben im GG Abwehrrechte gegen den Staat, aber nicht gegen Facebook, Google und Co., außer unserer Verweigerung.
Konkrete Vorteile direkter Demokratie:
Die unmittelbare Demokratie durch Volksentscheid ist im GG nur bei der Neuordnung des Bundesgebiets in Art. 29 vorgesehen und in den einzelnen Landesverfassungen sehr unterschiedlich geregelt. In Baden-Württemberg nahezu unmöglich gemacht, funktioniert sie in Bayern recht gut.
Andererseits ist die Schweiz ein schlechtes Beispiel, da sie zeigt, wie gut geölte finanzkräftige Parteien, wie die Schweizer Volkspartei die Wähler manipuliert. Bemerkenswert ist auch, dass die Bevölkerung oft viel radikalere Meinungen vertritt als Parlamente. Man vgl. hierzu auch die Karriere von Chavez inVenezuela.
Wer aber trägt Verantwortung?
Am Beispiel für Kalifornien zeigt Zakaria, dass der Niedergang eines Landes proklamiert ist, wenn die direkte Demokratie auch für Finanz- und Steuergesetze eingeführt wird. Dies ließe sich an vielen Beispielen zeigen. Hier soll nur hervorgehoben werden, dass trotz der Verdoppelung der Bevölkerung das Bildungswesen stagniert, der Gefängnisbau aber boomt. Kalifornien ist geradezu das Lehrbeispiel falsch für die unmittelbare Demokratie.
Beispiel Hamburg:
Auch der vor kurzem erfolgte Volksentscheid in Hamburg zur Bewahrung des bisherigen Schulsystems gegen die schwarz-grüne Regierung macht sehr nachdenklich. Hat wirklich die Bevölkerung gegen die Regierung gesiegt oder nur eine gut organisierte, finanzkräftige Bürgerinitiative und letztlich eine Minderheit? Wie haben Altona, St. Georg, St. Pauli oder die Wilhelmsburg abgestimmt? Bestand hier gar kein Interesse der Bevölkerung, oder wurde es nicht geweckt? Es wird deutlich, dass Volksentscheide in Einzelfällen ein Korrektiv zur etablierten Politik sein können, wie in Bayern. Aber auch dort waren die Befragungen zum Rauchen nicht sehr repräsentativ.
Parteien:
Die Volksabstimmungen in der Schweiz geben sehr zu denken.
Die Parteien sind im GG hervorgehoben im Gegensatz zu Weimar, real aber dennoch schwach. Sie bilden eine Schattenelite aus spin doctors, collectoren, PR Experten etc. Die Wahlkämpfe sind nicht argumentativ, sondern ausgefeilte psychologische Werbekampagnen.
Die Willensbildung bei der SPD und Grünen erfolgt noch heute mehr von der Basis her im Gegensatz zu der CDU, die auf die Rückkoppelung weniger Wert legt.
Privileg der Parteien ist die Kandidatenaufstellung, wobei es zu groben Manipulationen kommen kann. (Affäre Steiner/Wienand oder im Bananenwahlkreis Burladingen durch den Trigema-Chef)
Spezialproblematik Stuttgart 21:
Viele Politiker, insbesondere auch Kommunalpolitiker, haben es noch nicht begriffen, dass es nicht reicht, politische Entscheidungen durch die entsprechenden Organe beschließen zu lassen, und die „Legitimation durch Verfahren“ nicht ausreicht. Der heutige Bürger möchte frühzeitig informiert werden und möglichst gestaltend mitwirken.
Es reicht auch nicht aus, Pläne in Rathäusern oder Parlamenten auszulegen, sondern diese müssen mit den verschiedenen Interessenten auch diskutiert werden, damit die Diskussion und der Protest nicht wie bei Stuttgart 21 erst richtig in Gang kommt, wenn die Bagger anrollen. Rein rechtlich ist Stuttgart 21 formell gelaufen, aber die Konzeption ist dem Bürger nicht nahe gebracht worden und lässt sich nicht durch „Basta“ beenden.
Die technische Planung und technische Einzelheiten lassen sich von fachlich vorgebildeten Laien auch bei Beobachtung des Schlichtungsverfahrens im Fernsehen nicht beurteilen. Bei Großprojekten dieser Art wirkt sich das fehlende Vertrauen in die Politik, s. o., besonders gravierend aus, und der Verdacht auf Mogeleien, Pferdefüße usw. liegt nahe.
Stuttgart 21 wurde lange vor der Finanzkrise geplant. Heute muss davon ausgegangen werden, dass sichere behagliche Zeiten ohne finanzielle Restriktionen nie wieder kommen werden und für Stuttgart 21 bei ständig steigenden Kosten gewissermaßen die Geschäftsgrundlage entfallen ist.
Die Vergötzung der Geschwindigkeit ist ohnehin unverständlich, wurde doch erst vor kurzem völlig zu Recht zur Entschleunigung aller Prozesse aufgerufen.
Ein Faktor beim Protest gegen Stuttgart 21 ist der Verdacht, dass der Tiefbahnhof, der bezeichnenderweise von der EU mit keinem Cent gefördert wird, Ausdruck des Stuttgarter Syndroms ist, das darin besteht, etwas zu haben, was es noch nirgends gibt, um sich national und international zu profilieren, also eine spezifische Profilneurose der Stadt Stuttgart und des Landes Baden-Württemberg.
NGOs:
Eine wichtige, in keiner Verfassung und keinem Gesetz geregelte Materie sind heute die Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wie Attac, Greenpeace, usw. Sie können als hochkarätige und hocheffiziente pressure groups für Anliegen eintreten, um die sich national und international keine Gruppe kümmert.
Schon der konservative Staatsrechtler Ernst Forsthoff wies in den 70er Jahren darauf hin, dass es in der Bundesrepublik keine rechtliche Instanz gebe, die sich um das Gemeinwohl kümmere. Wichtig ist bei den NGOs die Bewusstseinsbildung auf ihren Gebieten, die im Politbetrieb viel zu kurz kommt, hier aber Gehör bei den Medien findet.
Implosion:
Eine Gefahr für die Demokratie ist heute auch die Implosion, wenn Staatsschulden den Staat handlungsunfähig machen, Steuern im großen Stil hinterzogen werden oder Verzicht erpresst werden soll. Der amerikanische Rechnungshof stellte fest, dass zwischen 1998 und 2005 zwei Drittel der US Firmen keinen Cent an den Fiskus abgeführt haben.
Bei uns kostete die Sanierung einer einzigen Bank Hypo Real Estate 145 Milliarden.
Durch vorsätzliche Missachtung des EU-Rechts, vor allem auch durch die deutsche Regierung, sind bei der EU inzwischen alle rechtlichen Dämme gebrochen, wenn ein Einzelstaat in Schwierigkeiten kommt oder gar insolvent wird. Die Folgen hierzu sind noch nicht abzusehen. Das Versagen der Banken, das ganze Staaten in den Abgrund reißt, lässt die Forderung nach Verstaatlichung der Banken verständlich werden.
Missachtung des Rechts:
Die Verletzung des EU Rechts ist der massivste und offenkundigste Affront gegen unsere Rechtsordnung. Insgesamt lässt sich feststellen, dass das Recht in seiner Bedeutung für Staat und Gesellschaft zurückgeht, was langfristig einen Trend zur Barbarei bedeuten könnte. So hat z. B. der Schriftsteller Martin Walser sich unwidersprochen für die Korruption eingesetzt, wenn dadurch Arbeitsplätze erhalten werden können.
Was bedeutet dieses für den Normalbürger? Wie in Rom lautet die Devise: ius est vigilantibus, das Recht ist für die Wachsamen da. Konkret:
Werden Sie Anstifter!
Die Anstifter haben thematisch eine große Speisekarte. Man muss nicht alles gleich goutieren, aber es steht fest, dass sie unter Peter Grohmann zur größten und lebendigsten gesellschaftspolitischen Initiative in Stuttgart geworden sind, die vieles aufgreift, was politisch vernachlässigt wird.
Und was sagt nun Hegel selbst dazu:
Sei keine Schlafmütze, sondern immer wach!
Und er ergänzt am Schluss der Vorrede zu seiner Rechtsphilosophie: „Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung den Flug.“
Ich glaube, liebes Publikum, es ist dunkel genug bei uns, möge die Eule Minervas flattern, in Stuttgart, Berlin und wo es auch immer notwendig ist.