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Meine Süß-Biografie „undifferenziert“? (1)
„Joseph Süß Oppenheimer, genannt Jud Süß. Finanzier, Freidenker, Justizopfer“

Soeben von Göttingen zurück. Das erstemal seit 36 Jahren, seitdem ich wissenschaftlich publiziere, wurde ich von einer Universitätsgruppe eingeladen. Thema: meine Biografie (1998).

Im Vorfeld bekam ich zu hören, ein Mitglied der Gruppe stehe sehr kritisch zu meiner Arbeit. Mit der Zeit tauchte auch ein Name auf: Irene Aue. Ich war neugierig, denn nach der strapaziösen Arbeit von sieben Jahren jemanden zu treffen, der es ohne vergleichbare Bemühung besser weiß, kann ja spannend werden.

In der Göttinger Gruppe haben sich nur Frauen mit Süß beschäftigt. In einer kleinen Ausstellung, untergebracht in einer Kirche, die tagsüber offen steht, wird Süß‘ Leben vorgestellt, beleuchtet durch zeitgenössische Illustrationen und Auszüge aus dem Nazifilm von Veit Harlan (1940).

Mein Buch bekommt gleich sein Fett ab: Ich heroisierte Süß, stünde der Gestalt UNKRITISCH gegenüber. Vorgestellt wird mein Werk nicht. Wer es nicht gelesen hat, nimmt die Warnung mit nach Hause: Den Haasis braucht man gar nicht zu lesen!

Überrascht war ich nicht: ein uraltes Modell. Erspart eigenen Fleiß und dürfte, so pauschal daherkommend, meistens oberflächlich recht bekommen.

Abends wiederholt eine Frau, die ich später irrtümlich für Irene Aue hielt (was ich hiermit bedauere, wofür ich mich entschuldigen will: ERRARE HUMANUM EST) die Frage, vor erfreulich unvoreingenommenen Zuhörern (christlich-jüdische Gesellschaft), die gar nicht wissen können, worum es geht: „Wie stehen Sie zu dieser Kritik?“

Ich pflege seit langer Zeit auf solche unqualifizierten Beiträge METAPHORISCH zu antworten. Ein Zuhörer sagte irritiert, ich rede in Anekdoten.

Ach ja, fing ich an, ich sei es gewohnt, dass Akademikern meine Publikationen nicht passten. Ich würde mich mit Ignaz Bubis trösten, der in Reutlingen bei der Konfrontation mit einem übel meinenden Plakatträger sagte: „Man kann‘s nicht allen recht machen.“

Die anonym bleibende Frau gab nicht auf: Ich hätte völlig undifferenziert Süß‘ Leben wiedergegeben, stellte eine Lichtgestalt dar, ein strahlendes Vorbild, fast einen Übermenschen, ich würde SCHATTENSEITEN VERSCHWEIGEN, ich hätte die Figur einseitig zur Verherrlichung konstruiert usw.

Meine Antwort: Nach dem Erscheinen meines Buches kamen zwei Journalisten der Stuttgarter Zeitung zu mir und löcherten mich zwei Stunden lang, mit der Unterstellung, ich hätte eine PHILOSEMITISCHE PFLICHTÜBUNG abgeliefert, in Wirklichkeit sei Süß ein bekannter Verbrecher und ein Dieb großer Vermögen gewesen.

Meine GEDULDIGE Aufklärung hatte bei diesen Zeitungsleuten mehr Erfolg als im akademischen Milieu, das ich häufig als argumentations- und quellenresistent erlebe.

Meine erste Frage an die Zeitungsleute - damals: Ob sie mein Buch gelesen hätten? – Die ehrliche Antwort: NEIN.

Da hilft mir oft nur Humor – und eben das symbolische Erzählen. Ich tröste mich mit Geschichtsschreibern vor mir: Eigentlich könnte man nach jahrelanger Arbeit zufrieden sein, doch plötzlich will einen eine kenntnislose Person an die Wand drücken. Je weniger Wissen, desto mutiger.

Weiter zu den Stuttgarter Journalisten - damals: Ich sei offen für alle Vorwürfe der damaligen Justiz gegen Süß, habe geprüft, was an Beweisen für die Behauptungen geliefert wurde. Ich sei lernwillig, habe aber nie eine Spur gefunden.

Ich stünde zur Verfügung, mit jedem Finder von Beweisen für Süß‘ Verbrechen diese Beweisstücke zu erörtern. Selbst die Stuttgarter Justiz habe keine Beweise vortragen können - damals.

Im Kriminalfall Süß hätte ich als erster eine ständige Verletzung geltender Rechtsnormen durch die Justiz feststellen können, was den Justizmord beweise.

Das Angebot der gemeinsamen Überprüfung gilt unverändert. Bis heute hat mir niemand einen einzigen Vorwurf belegen können. Acht Jahre lang.

ICH WARTE.

Meine Darstellung undifferenziert? Ein Totschlagargument, das gerne auftaucht, wenn eine abweichende Position liquidiert werden soll.

Eigenartig: Die vorgeblichen Liebhaber der Differenziertheit bringen meistens weder im Gespräch noch in ihren Publikationen etwas vor, das ihre Pauschalthese unterstützt.

Mein Buch hat über 470 Seiten. Wenn ich alles noch mehr ausgetreten hätte, wäre ich leicht auf 1.000 Seiten gekommen. Nur wer von Subventionen träumt, wird glauben, dass dieser aufgeblähte Text je gedruckt wird.

In jedem Kapitel finden sich bei mir differenzierte Handlungsweisen von Süß, unterschiedliche Erfolge und Misserfolge, verschiedene Strategien usw. Das Umfeld von Süß, ob freundlich oder feindselig, habe ich rekonstruiert, wie es noch niemand gelungen ist.

Wen hat es je interessiert, mit welchen Geschäftsleuten Süß zu tun hatte? Wie die Geschäfte abgewickelt wurden? Wo die Vermittlung stattfand? Wie Konflikte aussahen? Wie sie gelöst wurden?

In der Süß-Literatur hören wir dazu nichts.

Allein das Kapitel über die KOMPLIZIERTE, gewöhnlich in Geheimnisse gehüllte Münzproduktion stellt einen Höhepunkt der Differenziertheit dar. Soweit ich sehe, gibt es in der deutschen Numismatik KEINEN SO DETAILLIERTEN EINBLICK in das Innere einer deutschen Münze.

Natürlich irrte sich Süß gelegentlich, machte Fehler, er benahm sich keineswegs immer zartfühlend und rücksichtsvoll. Er war ein machtvoller Geschäftsmann in einem fremden Land und kein Erzieher in einem Mädchenpensionat.

Angesichts feindseliger Hofleute und rachsüchtiger Regierungsbeamter lebte er in ANGST und wollte von Stuttgart weg, so rasch als möglich. Der Herzog ließ ihn nicht.

Das konfliktreiche Leben von Joseph Süß Oppenheimer habe ich gründlich beschrieben, sofern es aus den Akten und anderen Zeugnissen erkennbar wurde. WER ES BESSER KANN, SOLL ES PROBIEREN.

Aber ich weigere mich, eine große Persönlichkeit der jüdischen Geschichte in die Niederungen der heutigen politischen Korrektheit oder landschaftlicher Hassüberlieferungen HERUNTERZUZIEHEN.

Eine kongeniale Biographie hat etwas von der Wucht der Persönlichkeit zu vermitteln. Ich halte es nicht für die Aufgabe quellenorientierter Geschichtsschreibung, ein am Galgen endendes Leben mit heutigen Bedenklichkeiten und Besserwissereien zu verzerren.

Für mich ist Geschichtserforschung Beschreiben, Nacherzählen, Verstehen und Erklären, nicht so sehr Aburteilung. Bei allen Irrtümern war Süß seinen Stuttgarter Todfeinden unendlich überlegen. Auch das hat man ihm nicht verziehen – und wie ich immer wieder erlebe: bis heute nicht verziehen.

Meine bisherige Erfahrung: Das Buch wird von heftigen Kritikern so gut wie nie ganz und schon gar NICHT GENAU gelesen. Es ist den Viellesern einfach zu differenziert. Und es liegt jenseits des Mainstreams der Historiker.

Meine letzten Biografien (Süß, Elser, Heydrich) sind soeben japanisch, chinesisch und holländisch erschienen. Den dortigen Fachleuten waren diese Biografien differenziert genug.

Ein anderes von der Göttinger Süß-Frauengruppe verbreitetes Urteil, das ich als ARROGANT empfinde: Ich hätte (nur) eine populärwissenschaftliche Arbeit geschrieben. Ein Defekt?

Populär, verständlich über die Fachkreise hinaus schreiben zu können, stellt in der deutschen Wissenschaft schon immer einen Vorwurf dar. Was andere als Lob empfinden mögen, im Mund von Historikern ist es EIN VERNICHTUNGSURTEIL.

Wenn Nichtfachleute etwas verstehen, ist es AUTOMATISCH NICHTS WERT und braucht nicht gelesen zu werden. Das ist die Denkweise von Sektierern: in einem Getto, hoch subventioniert, nur unter sich und nur für seinesgleichen forschend.

Urteile wie die in Göttingen schleichen mir seit den „Spuren der Besiegten“ (1984) hinterher. Akademiker lesen meine Bücher äußerst selten. Vielleicht tun’s die Nachgeborenen.

Bei den Animositäten gegen meine Süß-Biografie spüre ich: Man erwartet Süß noch immer als den Bösewicht der württembergischen und der deutschen Überlieferung. - Eigentlich möchte man sich von dem gehässigen Süß-Bild der Deutschen lossagen, aber es wirkt zu mächtig und völlig unkontrollierbar im seelischen Untergrund nach.

Es wird noch lange dauern, bis wir uns von den Harlan‘schen Bildern und Geschichtsfälschungen aus dem Film „Jud Süß“ (1940) befreit haben.

Mein Trost: Die Aversion gegen meine Süß-Biografie lebt nur im akademischen Milieu. EIN KLEINER KLÜNGEL. Ob es im akademischen Überlebenskampf etwas bringt, sich durch eine schlecht informierte Herabsetzung eines anders Arbeitenden zu profilieren? Ich habe da Zweifel.

Die Folgen für mich kenne ich: Bei akademischen Kongressen und Treffen zu Süß werde ich konsequent nicht eingeladen. Dennoch kann man von meinem Buch heimlich abschreiben und meine Funde als die eigenen ausgeben. Uralte Gepflogenheit der Zunft.

Aber ich will nicht ungerecht sein. Bei der Göttinger Veranstaltung gab es auch HEITERE ZÜGE. Vergnügen erntete ich im Publikum, als ich das Erlebnis meines Lektors Wolfgang Müller (Rowohlt) schilderte, hier ein Zitat aus meinem Aufsatz über die neueste Süß-Rezeption:

„Für die nächste Zeit ist die Ablösung des alten Süß-Bildes nicht zu erwarten. Besonders in der Region von Süß‘ Untergang scheinen die Landeshistoriker noch am Alten zu hängen. Der Lektor der neuen Biographie fragte [württembergische] Landeshistoriker, was sie von dem neuen [meinem] Buch hielten. – Einhellige Meinung: „Der Biograph hat den Süß tüchtig reingewaschen.“ – Ob sie die Arbeit gelesen hätten? – Nein. – Wie sie dann so urteilen könnten? – Oh, sie kennten jemand, der genösse ihr volles Vertrauen, und dieser habe das Urteil gefällt. – Ob sie sicher seien, dass er das Buch gelesen habe? – Nicht nötig, beim Thema Jud Süß merke man gleich, wohin der Hase laufe.“
(Hellmut G. Haasis: „Jud Süß“ – Joseph Süß Oppenheimer. Rezeption und Verdrängung eines Justizmordes. In: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums. 42. Jg. Heft 167, 3. Quartal 2003, S. 178-184, Zitat S. 184)

Das Lachen im Saal wirkte befreiend.

Nach der Veranstaltung, die ich ansonsten genoss, weil ich erzählen konnte, was nicht in das Buch eingegangen war, saßen noch einige der Ausstellungsmacherinnen mit mir in einer Gaststätte. Plötzlich bemerkte die schon eingangs genannte, leider immer noch ANONYM bleibende Kritikerin:

Sie sei gespannt, wann endlich jemand die Akten des Stuttgarter Prozesses gegen Süß lese und Süß`Leben danach darstelle.

ICH KIPPTE FAST VOM STUHL. Mit Eselsgeduld versuchte ich, ihr beizubringen, meine Biografie beruhe vorwiegend auf den Prozessakten im Hauptstaatsarchiv Stuttgart. Ich sei der erste, der sie gelesen, weitgehend kopiert und verarbeitet hätte. Davon hatte ich übrigens in der Veranstaltung auch gesprochen. Irene Aue hatte wohl geschlummert.

Sie sagte nichts dazu und eilte zu einem andern Thema weiter. Ich bin mir sicher, sie glaubte mir nicht. So ein Verhalten nenne ich argumentations- und quellenresistent.

Viele flinke Kritiker haben die Lektüre meiner Bücher noch vor sich.

Juni 2006
2. Fassung Juli 2006, erweitert um den Namen der Kritikerin Irene Aue (Göttingen) und natürlich ein wenig zugespitzt. Der Wein wird mit der Zeit besser.
3. Fassung Juli 2007. Mit der Widerrufung, dass es sich bei der anonymen Kritikern nicht um Irene Aue handelt. Wer aber war dann, die mich da öffentlich nervte? fragt der so undifferenzierte schwäbische Wissenschaftler. – Ich warte. Eine Antwort der Göttinger Frauengruppe auf mich kam soeben AUCH WIEDER ANONYM im Netz heraus.

 

 

 

 

 

 

/suess_oppenheimer/goettingen.php | anares.org | comenius-antiquariat.ch Samuel Hess 2005