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Meine Süß-Biografie „undifferenziert“? (2)
„Joseph Süß Oppenheimer, genannt Jud Süß. Finanzier, Freidenker, Justizopfer“

Lieber Veit,
du rätst mir, ich solle die Göttinger Kritik der anonymen Göttingerin weniger „betroffen“ zurückweisen.

Jetzt, wie mache ich das? Es geht ja nicht um eine andere Ansicht, sondern hier stehen ZWEI ARBEITSWEISEN GEGEN EINANDER.

Sieben Jahre lang arbeitete ich mich durch die Akten des Geheimprozesses in Stuttgart (1737/38), bis ich Süß‘ Leben glaubte beschreiben zu können.

Ohne die geringste Kenntnisse meines Buches flutscht EINE BESSERWISSERIN daher, die mit dem Vorwurf der Undifferenziertheit um sich wirft – ohne jeden Beleg.

Meinst du wirklich, dass ich da unbetroffen sein kann? Es geht ja nicht um die Frage, ob Stuttgart am Nesenbach oder am Neckar liegt. Verhandelt wird die absolute Verurteilung einer fleißig erforschten Biografie. Wer es besser wissen will, muss zumindest so viel getan haben.

Noch nicht häufig habe ich so viel UNVERFRORENHEIT erlebt – aber ich will nicht pauschal werden, unverfroren war nur diese eine Göttingerin – und das anonym.

Ich ergreife den Streit beim Schopf, um eine nicht seltene Kritik-Methode unter Akademikern (Hurrah: nun auch unter Frauen) herauszustellen:

KEINE MINUTE MIT QUELLENARBEIT VERSCHWENDEN. Nicht mal die jüdische Gedenkschrift von Salomon Schächter (1738), von mir erstmals ediert (1994), wurde gelesen, sie ist bis heute nicht rezipiert worden.
NIE EINEN FUSS IN ARCHIVE SETZEN.

Der Sozialhistoriker Wehler wurde mit dieser Abstinenz berühmt, aber auch durchschaubar als Schwätzer.
Wer dagegen die eigene Sicht vorwiegend auf Quellen stützt, gilt leicht als „undifferenziert“.

Ziel der „höheren“ akademischen Darstellung: GESCHEITER SEIN ALS DIE QUELLEN.

Die Folge: Viele Historiker und Germanisten können die Kanzleihandschriften früherer Jahrhunderte gar nicht mehr lesen. Also flieht ihr Forscherdrang auf abstraktere Ebenen hinauf.

Allgemeine Erscheinung: Erforscht werden nicht das Leben von Süß, sein Schicksal, sondern die „FIGUR“, die „IKONE“, der “MYTHOS“.

Die Göttinger Frauengruppe fand es 2004 ganz selbstverständlich, dass der einzige lebende Süß-Biograf von der Hamburger Süß-Tagung AUSGESCHLOSSEN wurde, zumindest hat sich niemand dagegen gestellt.

Ich gratuliere zu dieser Strategie im Stile des Absolutismus.

Irene Aues Tagungsbericht – zu lesen unter HYPERLINK mailto:aue@mpi-g.gwdg.de aue@mpi-g.gwdg.de – kam auf hohem Ross daher. Das reizt mich zur Nachprüfung.

Die Tagung ging von einem angeblichen „MYTHOS JUD SÜSS“ aus. Na ja, so kurzlebig ist das kollektive Gedächtnis.

Bis 1998 hieß es: Süß sei als historische Figur uninteressant, die Nachforschung heute leicht möglich, interessiere aber niemand mehr. „Jud Süß“ als lästige Pflichtübung der „Betroffenen“. Ein deutscher Schuldkomplex. Abgehakt.

Süß wird in der Hamburger Tagung mit SCHWABBELIGEN BEGRIFFEN angegangen. Süß – ein Mythos? Wer dieses Leben erforscht hat, sieht das zwangsweise anders.

In Hamburg schwingt sich der Interpretationsgeist noch höher hinauf. Der Titel: „Joseph Süß Oppenheimer, genannt ‚Jud Süß‘. Zur Wirkungsmacht einer ‚ikonischen Figur’“.

Weißt du, Veit, was eine IKONISCHE FIGUR ist? Ich habe die Theologie der Ikonen studiert – eine Frömmigkeitsform der Ostkirche. Ich kann mir nicht vorstellen, dass hinter Süß eine platonische Welt lebt.

Du wirst sagen, ich könne mir schon denken, was gemeint sei.

Mitnichten, ich weigere mich, FESSELBALLONE DER EINBILDUNG als Orientierung zu nehmen. Süß hat nichts mit einer Ikone zu tun. Absolut nichts.

Himmelnochmal, wie weit dürfen Akademiker in ihrem Drang zu neuen Wortgebilden gehen, um Kreativität vortäuschen? Sich im Hauruckverfahren VON DER WORTGESCHICHTE ENTFERNEN? Sich von jedem Wortsinn emanzipieren? Sich von der Verständlichkeit abkoppeln?

Ikonen galten als Widerspiegelungen der himmlischen Welt. Mit ihrer innigen Berührung versicherte sich der Gläubige der Zugehörigkeit zum Jenseits. Durch sie sah er in das Vorbild seiner eigenen Welt hinauf. Ikonen wurden geliebt, in den orthodoxen Kirchen werden sie noch heute geküsst.

Wer will behaupten, dass Süß je geküsst wurde, als platonisches Abbild? Wer soll ihn nach seinem Tod je geliebt haben? Wir kommen auf keine Handvoll Namen.

Von Süß‘ Freundin Luciana Fischer und ihren Küssen der fleischlichen „Ikone“ Süß wollen wir nicht reden. Darf ich auch nicht mehr, guter Veit, denn Irene Aue und die Göttinger Figur-Süß-Forschunsgruppe haben in Hamburg die Kampfparole ausgegeben, die historische Gestalt Süß sei später „sexualisiert“ worden. Wobei natürlich auch ich mein Fett abkriege.

Die Aversion gegen erotische Aspekte einer Biografie wäre ein Fall für Freud gewesen, für die Anna.

angela laich: süß' todesangst im gefängnis hohenasperg.

Heiliger Strohsack, lieber Veit, was ich alles nicht mehr sagen, schreiben, erforschen DARF.

Nach einer Diskussion in Stuttgart über Harlans Film „Jud Süß“ hat mir Prof. Knilli (Berlin), ein anderer tertiärer Süß-Forscher (erforscht ebenfalls Süß nur aus dritter Hand, aus den Medienprodukten), untersagt, von der „Rache des Joseph Süß Oppenheimer“ (Titel einer Erzählung von mir) zu reden. Mit der Idee der „RACHE“ hätte ich mich als Antisemit entlarvt. Vorwiegend Antisemiten hätten den Juden Rachsucht unterstellt. Also sei auch ich einer.

Seitdem gehe ich täglich in mich. Unser FDP-Abgeordneter aus Reutlingen erkannte damals sogar, ich sei zur Zeit DER LETZTE ANTISEMIT DEUTSCHLANDS, der einzige, weil nur ich von „Juden“ spreche, die so was schon lange nicht mehr waren oder nie sein wollten usw. Die Liberalen dagegen, wie er, kennen keine Juden mehr. Jude sein – gibt es nicht.

Beim Einkauf auf dem Marktplatz meines Vororts überfiel mich just nach dem Erscheinen der Biographie ein alter Gemeinderat und Fabrikant und beschimpfte mich laut als Verräter am deutschen Volk. Ich würde den Süß von seinen bewiesenen Verbrechen freisprechen.

Der Unglückselige – auch er hatte meine Biografie natürlich nicht gelesen - berief sich auf einen Lexikonartikel von Selma Stern, die seine Nazisicht belege. – Nur die Fried liebende Gattin des einstigen örtlichen HJ-Führers verhinderte, dass wir uns schwäbisch beschimpften.

Gelt, Veit, jetzt glaubst du es mir: Das Gebiet um den toten Süß ist weiträumig vermint. Wohin ich trete, mach ich‘s falsch. Überall warten schon klügere Köpfe, die mich bei einer Untat ertappen.

Aber ich tröste mich mit der Erkenntnis meiner Großmutter: Wer sich aus dem Fenster lehnt, darf sich nicht beschweren, gesehen und begutachtet zu werden.

Und ein Zweites: Wer Verbrechen in der eigenen Umgebung aufdeckt – hier ein verdrängter Justizmord in Stuttgart – der wird als NESTBESCHMUTZER eingestuft. Der verdient Hiebe.

Wenn ich das akademische Theater dagegen als schwäbischer Clown Druiknui anschaue, werde ich wieder richtig fröhlich – und bin jetzt total „unbetroffen“. Heiter geht‘s weiter, Veit. Entspricht das nicht deiner oberschwäbischen Seele?

Zurück zur Hamburger Tagung und der Berichterstatterin Irene Aue. Die ikonische Figur lassen wir gelten als irgendein Ding zwischen Bild, Figur, Mythos. IRGENDETWAS NEBULÖSES. Ich weiß, die heutige Modesprache erklärt irgendwelche von den Medien fabrizierten Stars als Ikonen.

Aber haben sich an diesem gedankenlosen Gesabber Akademiker zu orientieren? Ein bisschen mehr sprachliche Sorgfalt, wenn ich bitten darf.

Wie kann nun dieser Nebelschweif, fast ein Nichts, eine „Wirkungsmacht“ entfalten? Das will mir erkenntnistheoretisch nicht ins Hirn. Da halte ich mich lieber an den alten Spinoza oder ähnliche Freunde der Vernunft und der gemeinsamen Denkarbeit.

Irene Aue setzt endlich zum Rundumschlag ein, mit einem Seitenhieb ist sie auf der Seite der Richtigen. Ich zitiere, ihr gelingt eine geradezu klassische Form der geistigen Vernichtung:

„Betrachtet man einerseits die umfangreiche Rezeptionsgeschichte und Tradierung des „Mythos Jud Süß“ und andererseits die historische Forschung zu dem Thema, so wird ein Missverhältnis deutlich. Auch die jüngste Biographie Joseph Süß Oppenheimers war eine populärwissenschaftliche Arbeit.“

Im Vorbeigehen werde ich ANGEPINKELT. Mein Bein fühlt sich etwas nass. Macht nichts, trocknet wieder. Wie, willst du wissen? Durch diese Antwort.

Irene Aue weiter: „Offenbar ist es schwer, wenn nicht gar unmöglich, einen Zugang zum historischen Joseph Süß Oppenheimer zu finden, der unabängig von der Wirkungsmacht der ‚ikonischen Figur‘ „Jud Süß“ ist.“

In dieser Allgemeinheit tröpfelt es weiter. Die Hamburger Tagung stand unter dem Glauben, man wisse schon ganz genau, was, wer und wie der historische Süß war. Und auf Grund dieses vorgeblich sicheren Wissens sei zu gewichten, zu urteilen, vor allem abzuurteilen.

Aber wenn man die einzige moderne Biografie nicht gelesen hat, kann man schwerlich auf das Leben, die Person, das ganze Umfeld, ja nicht einmal auf den Hochverratsprozess eingehen.

Die Tagung wollte sich vor der eigenen Unwissenheit mit einem Trick wegstehlen. Alle, die nach Süß’s Hinrichtung über ihn schreiben, lägen unweigerlich irgendwie neben der historischen Figur. Warum?

Da springt, wie schon bei der Metageschichte zu Süß von Barbara Gerber (1990) zu beobachten war, ein anderer Glaubenssatz in die Bresche: Der historische Süß war ja doch ganz GANZ ANDERS.

Auch Barbara Gerber vermied die Archivarbeit, sie beschrieb – unbestritten bienenfleißig - nichts als die NACH-GESCHICHTE, die endlosen Interpretationen nach der Hinrichtung. Das wirkliche Leben von Süß war nicht ihr Thema. An derselben Beschränktheit leidet die GÖTTINGER GRUPPE, ausgehend von einer metahistorischen Fragestellung.

Was bleibt für einen solchen prinzipiell quellenunabhängigen Forschungsansatz noch offen? Nur eine Flucht in die sekundäre Welt: Wie redete, schrieb, fantasierte man SPÄTER über Süß? Auf einmal ist alles möglich, alles erlaubt und alles gleich weit weg von der Realität. IN DER NACHT DER UNWISSENHEIT SIND ALLE KATZEN GRAU.

Solche Geschichtsschreibung hat sich endlich von der einst realen Person Süß befreit. EIN SIEG ÜBER DEN TOTEN.

Diese Spielart der Geschichtswissenschaft setzt erst nach dem Verlust des Lebens ein, ja sie ist VERLUST. Keine Geschichte mehr, sondern Meta-Geschichte.

Juli 2006

Letzte Frage an dich: Was waren bloß die Triebkräfte der Autoren, diese Gestalt so lange nachzuerzählen? UND DIESE ERZÄHLKRAFT IST NICHT ZU ENDE.

 

angela laich: süß' todesangst im gefängnis hohenasperg.

 

 

 

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