Nachtrag zur Süß-Biographie, Nr. 1
Joseph Süß – ein unerkannter Marrane?
Zur Zeit studiere ich wieder einmal Baruch Spinoza, für einen Vortrag im Berthold Auerbach Museum von Nordstetten (Horb/Neckar). Früher einmal sollte es ein Hörspiel für den WDR geben, aber dann raffte eiskalt eine neue Angst meinen Herrn Redaktör hinweg, die Angst vor der Geschichte, mit der man keinen Profit machen kann, die Angst vor dem Nachdenken, mit dem man nicht an die Börse gehen kann, die Angst vor einer abseitigen Biographie, die sich nicht für die esoterische Religiosität eignet – und so erschien ihm auf einmal alles nicht mehr interessant, zu weit weg, die Gedanken verstaubt, die Darstellung zu schwürück.
Da stimmte es wieder, das Schreckgespenst freier Autoren: Dem Redacktör wird’s viel zu schwör.
Bei der Lektüre der niederländischen Spinoza-Biographie von Theun de Vries (Rowohlt 1994, schon damals stolze 37 Tausend aufgelegt) stoße ich ständig auf Parallelen zwischen Spinoza und Joseph Süß Oppenheimer.
Woher stammen die strukturellen Ähnlichkeiten? Mehr zufällig scheint mir etwas davon gedämmert zu haben, als mir Süß wie ein kurpfälzischer Marrane vorkam. Wäre das eine Möglichkeit, Zugang zu seinem Selbstverständnis zu finden, zu seiner Orientierung zwischen Tradition und feindseliger Umgebung? So schrieb ich einst:
„Als Süß ab Mitte 1735 dem Herzog mehrmals seine Dienste kündigte, wollte er nur noch heiraten und nach England oder Holland gehen. Einer der vielen Auswanderungspläne, die bei seinem Temperament nicht lange anhielten. Vermutlich war die in Aussicht gestellte Braut eine portugiesische Marranin, die in England lebte, wohin ihre jüdischen Vorfahren nach generationenlanger Unterwerfung unter die Inquisition ausgewandert waren. Fühlte Süß selbst sich vielleicht als kurpfälzischer Marrane, äußerlich der intoleranten Umgebung angeglichen, unter Bewahrung einer geheimen jüdischen Identität, die selbst der Todesdrohung widerstehen wird? Liegt hier der Schlüssel zu seinem inneren Festhalten am Judentum?“ (Haasis: Joseph Süß Oppenheimer, S. 240)
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Diesen Gedanken habe ich damals nicht weiter verfolgt. Die Inquisition und die katholischen Iberer nannten Marranen (portugiesisch: Schweine) diejenigen Juden, die nach 1492 sich dem christlichen Terror unterworfen hatten. Vor der Alternative der Christen: Taufe oder Tod, wählten sie die Taufe, blieben aber meistens innerlich bei ihrer Religion und lebten im Geheimen weiterhin nach ihrem Glauben. Unter ständiger Angst, bei einer häuslichen Sabbatfeier von Nachbarn verraten und auf das Schaffott gezerrt zu werden. Die Anpassung vollzogen sie nur äußerlich, innerlich blieben sie umso fester.
Hier sehe ich ein Lebensmuster, um den tapferen Widerstand von Süß bei schwersten Angriffen, in elfmonatiger Haft, zu verstehen. Je brachialer die evangelische Obrigkeit auf Süß einschlug, desto offener und energischer hielt Joseph Süß am Glauben seiner Vorfahren fest. Vorher pflegte er sich nicht als Jude zu bekennen. Das bezeugte auch seine Freundin Luciana Fischer, nicht nur das übel gesonnene Stuttgarter Hofmilieu.
Süß kannte die Marranenproblematik aus Mannheim, wo die erfolgreichsten jüdischen Geschäftsleute Marranen waren: Sephardim aus Portugal. Ihre Vorfahren waren vor dem Tod nach Portugal geflüchtet, hatten sich dort nur äußerlich unterworfen, nach fast 200 Jahren angstvollen geheimen Lebens flüchteten sie in die kurpfälzische Hauptstadt Mannheim – andere übrigens nach Hamburg. Mit der Einwanderung war die Unfreiheit wie weggeblasen.
Joseph Süß stand von seiner Herkunft her näher der traditionalistischen Gettomentalität Frankfurts, die er in Heidelberg zu spüren bekam und die ihn anwiderte. Je erfolgreicher er wurde, desto mehr arbeitete er sich aus der Traditionalität heraus, freilich ohne abzuschwören. Das nahm ihm die christliche Umgebung übel.
Solange man ihn in Ruhe ließ, kümmerte ihn die alte Religion herzlich wenig. Erst als die Justiz seine Identität mit Foltermethoden brechen wollte, mit dem Versprechen des Todes, wurde er wieder bekennender und leidender Jude. Schlagartig überkam ihn die uralte kollektive Erfahrung der Juden: Für die Judenschaft gibt es keine größere Gefahr, als wenn einer der Ihren hingerichtet wird, eine willkommene Gelegenheit für die christlichen Neider und Räuber, in einem Handstreich oder gar einem ganz gewöhnlichen Pogrom jüdischen Besitz an sich zu reißen. Mit kirchlichem Segen.
Als Materialsammlung über meine Biographie hinaus will ich künftig Splitter sammeln, mit denen man selbst weiterarbeiten kann.
Süß wehrte sich ständig dagegen, seine Gedanken und seine Religion sich von anderen aufzwingen zu lassen. Dieser frühaufklärerische Grundsatz, in Deutschland noch unbekannt, bestärkte ihn im Widerstand gegen die permanenten Bekehrungsversuche seit seiner Verhaftung.
Für die Universität Stuttgart findet sich im Sommer 2006 angekündigt zum Wintersemester 2006/07, Fachbereich Germanistik, ein Hauptseminar in Fachdidaktik von Klaus Disselbeck: „Die Idee der Toleranz in der Philosophie und Literatur des 17., 18. und 20. Jh.‘s“.
Dort heißt es unter anderem:
„1670 erscheint Spinozas ‚Theologisch-politischer Traktat‘, den man als das klassische Grundbuch der Toleranzbewegung betrachten kann. Nach ihm muss ein Staat zwar die Freiheit zu handeln einzuschränken, er darf aber nicht die Freiheit zu denken und seine Gedanken zu äußern beschneiden, ohne sich selbst zu gefährden. Kraft seiner Macht muss der Staat daher auch jeden Versuch einzelner Konfessionen unterbinden, der Gesellschaft religiöse Lehren und Vorschriften aufzuerlegen. 1689 veröffentlichte Locke seinen ‚Brief über Toleranz‘, der mit Spinozas ‚Traktat“ darin übereinkommt, dass man sich für einen Glauben frei entscheiden können muss. Während aber Spinoza und Locke die Toleranz hauptsächlich staatsrechtlich begründen, legen Voltaire, Lessing und Goethe den Nachdruck auf den erkenntnistheoretischen und ethischen Aspekten der Toleranz.“.........
Soweit die Stuttgarter Ankündigung. In Süß‘ Bibliothek fand sich kein Buch von Spinoza, auch nicht von Locke. Woher rührt also Süß‘ Modernität in Richtung Spinoza?
Vielleicht ist der traditionelle akademische Aspekt auch nur falsch, nach dem man neue Ideen vorwiegend aus Büchern hervorgehen sieht und nicht erwägt, ob nicht schon lange vorher praktisch tätige Bürger aus ihrer Alltagserfahrung heraus ein Bedürfnis nach Toleranz spürten und diesen Gedanken ausbauten, ohne je ein Buch darüber gelesen zu haben?
Uraltes Problem: Wie und wo kommt eine völlig neue Idee auf die Welt? Im Kopf eines klassischen Denkers und auf seinem Papier, also am Schreibtisch - oder nicht genauso gut in der Lebenserfahrung weitsichtiger Menschen? Mir scheint, Süß hat über die philosophische Tradition hinaus, die er ja nur ungenügend studiert haben konnte, die Notwendigkeit der Toleranz in seinem Leben erfahren. Die Geburt des neuen, vorwärts weisenden Gedanken also aus dem Leben selbst, nicht aus dem Papier.
(August/September 2006)