RIEMENSCHNEIDERS HÄNDE
surrealistische Erzählung
von Hellmut G. Haasis
Dunkel herrscht: Gewalt und Verzweiflung. Feucht der Boden, schneidend kalt die Luft, tropfend nass die Wände. Hoch über dem Silberband des Maines liegt Riemenschneider gefangen. Würzburg nach der Niederlage. Die Bauern an der Festung zerschellt, die Mutigsten unter den Bürgern in die Kerker geworfen.
Das Licht der Weinberge hüllt die Festung des Bischofs in einen täuschenden grünen Zauber. Der Herrscher, sonst von Frauen, Gelagen und schrankenloser Machtfülle angezogen, schlürft sich an seinen Opfern satt. Seinen Untertanen, Bauern wie Bürgern, wird er sich in die Knochen und Seelen einbrennen. Aufgestanden sind sie gegen ihn, den Gesalbten des Herrn, einen der herrlichsten Fürsten im Heiligen Reich.
Abgrundtief hasst der Bischof den Gekreuzigten, verwünscht Gebete, verflucht die gefalteten Hände, auch die eigenen.
Erst ein Gesicht durchbricht die schmerzvolle Einsamkeit des gefesselten Riemenschneider.
Noch einmal will der Gequälte durch sein größtes Werk gehen: den Marienaltar von Creglingen.
Aus der Tiefe der Würzburger Kassematte streicht ein lauer Wind durch die feingliedrigen Ornamente des Creglinger Altaraufbaus: ein sanftes Rauschen wie im Geäst einer Linde an einem sonnigen Mittag. Lange still gestelltes Leben kehrt in die Figuren zurück. Hier ist noch nicht alles vollendet, Sehnsüchte liegen offen da.
Der Schöpfer dieser geschnitzten Dichtung möchte nicht mehr bloß aus der Predella herausschauen, wie bisher, selbsterniedrigt. Zu den Aposteln will er hinauf. Die Arme streckt er zu Marias Himmelfahrt empor. Mit der letzten Kraft seines verlöschenden Lebens sucht er sich nach oben zu ziehen, schier unmöglich bei diesen zerbrochenen Händen.
Langsam dringt Bewegung in die Figuren ein. Philippus sieht als erster das von Schmerzen entstellte Antlitz des Bildhauers auftauchen. Vor Schreck fällt ihm sein Buch aus den Händen und reißt auch das Buch von Petrus, dieses Träumers, zu Boden. Beide Werke zerschellen.
Das feiste Gesicht des Philippus nimmt einen schleimigen Ausdruck an, unterwürfig. Der Apostel begreift, hier wolle sein einstiger Herr heraufkommen. Sobald er erkennt, wie unheilbar zerstört dessen Hände erscheinen, lacht er bösartig, mit Genugtuung:
"Auch du hast deinen Meister gefunden. Endlich."
Petrus ärgert sich, dass sein Buch zugrunde ging, mit dem er seine Gewalt befestigen wollte. Er giftet den Bildhauer an, der sich noch immer nicht aufrichten kann. Bartholomäus wirft sein Buch nach dem Eindringling.
Leben erfasst auch die rechte Apostelgruppe. Deren überlange, zerbrechlich anmutende Hände fangen an, eine neue Sprache zu führen. Statt von Zuneigung und Hoffnungen reden sie von Sattheit, Abweisung, fast Hass.
Johannes lässt sein liebendes Gesicht fallen und schreit auf den am Boden Liegenden herunter: "Lass deine Dreckfinger von meiner Mutter. Die gehört uns, der Kirche. Uns, die oben sind."
Das längliche Gesicht des Jakobus wird zu einem vernichtenden Schlund: "Zieh unsere Maria nicht in den Schmutz deiner Rebellen herunter. Die ist für euch viel zu schade."
Tilman Riemenschneider wirft sich nicht weg:
"Bevor man mich verscharrt, will ich sehen, ob wenigstens das überdauert, was ich geschaffen hab."
Diesen Ausspruch, kaum zu hören, nur hingehaucht, lassen ihn seine Geschöpfe sogleich büßen. Andreas nimmt seinen Arm von Petrus weg und springt dem Hilflosen auf die blutenden Hände.
Schmerzensschreie wecken das verschlafene Gesicht der Maria, die soeben aufwärts entschweben will. Ihre Hände geben die geknickte Gebetshaltung auf und neigen sich nach unten. Ihre Arme werden länger.
Als sie Riemenschneider fast heraufziehen könnten, schlägt Petrus mit der Faust diese spindeldürr gedehnten Arme ab. Es klingt, als ob Brennholz gespalten würde.
Die Apostel atmen auf und prusten los. Sie fühlen sich vom Zwang zur Anbetung befreit, fassen sich an den Händen und hüpfen herum, so gut es ihre steifen Beine erlauben.
Ihr Freudentanz nimmt wildere Züge an. Die Augen quellen hervor, auch die Haarpracht gerät in Aufruhr.
Als Johannes mit der Glut seiner Jugend den beleibten Philippus herumschleudert, treten die Adern seiner Hände noch stärker hervor.
Riemenschneider ist zu schwach, um vor dem Unheil warnen zu können.
Philippus stolpert. Seine Gewicht hängt an den dünnen Händen des Johannes. Das schon rissig gewordene Lindenholz bricht auseinander. Der Apostel fliegt über den Altar hinaus und zerbricht auf dem Steinboden der Kirche, mit den abgerissenen Händen des Johannes verklammert. Blut spritzt aus den geplatzten Adern.
Die anderen Apostel tun, wie wenn sie nichts bemerkten. Die Lücke in dem engen Altarschrein ist gleich geschlossen.
Ihre Hände fassen sich nicht mehr zum Tanzen, eher zum Angriff. Sie gehen einander an die wackligen Beine, die verwundbaren Hälse. Unter den faltenreichen Gewändern schlägt verheimlichtes Metall aneinander. Da stehen noch alte Rechnungen offen.
Dem Jakobus kippt die Wehmut seines Antlitzes in Grausamkeit um. Seine galante rechte Hand wird zur gepanzerten Faust, holt unter dem bodenlangen Gewand ein Schwert hervor und dreht es dem bärbeißigen Simon im Unterleib herum.
Riemenschneider, Selbstporträt im Crelinger Altar
Mit gellendem Schrei sinkt Simon zusammen, sterbend. Die übrigen Apostel tanzen auf ihm weiter, Fratzen eines schadenfrohen Vergnügens, und ziehen ebenfalls ihre Waffen hervor.
Mit toten Augen stiert Maria über den Niedergang ihrer Verherrlichung hinweg. In unfassbare Leere.
So erlöscht das Gesicht, das Riemenschneider mit seinem Untergang hätte versöhnen sollen, wenigstens für kurze Zeit.
Der Gefangene möchte seine Hände ins Stroh eingraben, er kann nicht.
Aufrichten will er sich, es gelingt ihm nicht mehr. Auf dem Lager sich umdrehen, doch die Arme versagen.
Nach diesem Gesicht weiß er: sein künstlerisches Leben ist unwiderruflich ans Ende gekommen.
"Vielleicht werde ich mit dem nackten Leben davonkommen, aber mein Werk kann ich nicht mehr fortsetzen. Kein Messer, keinen Hammer, keinen Stechbeutel werde ich mehr halten können: in diesen gemarterten Händen."
Seine Verzweiflung wirft sich gegen die grinsende Wand. Er will sich aufbäumen, sein geschundener Körper gehorcht ihm nicht mehr.
Als Riemenschneider noch tiefer zusammensinkt, gießt sich ein zweites Gesicht über ihn aus. Wie schon so oft, seitdem er aus dem Folterkeller in die Kassematten zurückgekommen ist: ein Gesicht störrischer Erinnerung.
Im Verhör wird er befragt, warum er im Rat der Stadt für die Bauern gesprochen habe.
Warum er den Aufständischen Ratschläge zum Sturm auf die bischöfliche Festung gegeben habe?
Warum er den Bischof und seine Beamten verhöhnte?
Warum er Flüchtigen durchhalf?
Ob er einen geheimen Briefwechsel mit Bauernheeren unterhielt, vor allem mit Florian Geyers Schwarzem Haufen?
Wo die geheimen Schriftstücke steckten?
Des Bischofs Kanzler kommt selbst zur Folterung. Man fragt den Bildhauer, was er gearbeitet habe.
Als Riemenschneider von seinen großen Altären reden will, brechen die Folterknechte in eine dreckige Lache aus. "Ha, welchen denn? Du, Verräter an Gottes würdigstem Diener."
Der Kanzler stellt sich taub.
Als Riemenschneider die Handlanger hören lässt, er habe die Himmelfahrt der Maria geschnitzt, die zu Creglingen, schreien die Knechte: "Hure! Hurenbock!" Machen mit Stößen ihres Unterleibs vor, wie sie überfallene Bäuerinnen zu vergewaltigen pflegen. Und so täten sie's am liebsten auch mit Maria.
Auf ein Zeichen des Kanzlers werfen die wolllüstig Schnaufenden den Holzschnitzer auf die Folter. Die Armsehnen werden ihm auf dem Streckbett zerrissen. Auf den Stacheln der Leiter wird der Rücken zerfleischt. Die Beine zerdehnt durch Gewichte. Und mit höchstem Genuss brechen die Knechte dem Bildhauer Finger für Finger.
Unter der Folter vermag Tilman Riemenschneider nichts mehr anderes zu tun, als seine Hoffnungen auf seine Schöpfungen zu werfen. Seine blutigen Hände streckt er zu Maria hoch. Sie dreht sich weg und verbirgt ihre Armstümpfe. Als er nach ihr schreit und nach seiner Mutter, kehrt Maria nur ein wenig den Kopf zur Seite, erschöpft.
In ihrem einst jugendlich zarten, verklärten Gesicht sieht er tiefe Risse, grobe Falten und einen stumpfen Ausdruck.
Nach dieser Angstvision entlässt man ihn aus dem Folterkeller auf das Strohlager. Mit dem Rest seiner seelischen Kraft will er sein Lebenswerk wiederherstellen.
Noch lange erzählen ihm, in der Fantasie seines Lagers, seine Figuren von Gewalt und Vernichtung. Knochen verrenken sich. Finger brechen ab, ganze Hände.
Nach und nach lässt Riemenschneiders Sehnsucht die zerstörten Stücke nachwachsen, in seinen schlaflosen Nächten. Die Bärte zeigen zuerst Verwilderung, die Haare sind spröde. Langsam gewinnen sie ihre schöpferische Lieblichkeit zurück.
Die Apostel, die einander soeben noch mit Vergnügen abschlachteten, erlangen wieder den geglückten Ausdruck ihres Schöpfers. Ihre in die Waffen verkrampften Hände öffnen sich, lassen die Eisen zu Boden sinken und raffen die Gewänder wieder in Falten, kokett.
In resignierender Liebe richtet Bartholomäus seinen prophetischen Blick auf den Krüppel. Seine Hände halten ein Buch offen, in dem er seine Zukunft zu lesen glaubt: "Einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt."
Des Häftlings Friede mit sich selbst zerbricht, als der Bischof den Häftling nach Würzburg hinunter entlässt. Auf den Gassen der geschlagenen Stadt stieren Feindschaft, Rachgier und Schadenfreude den Zurückkehrenden an. Die Mitleidenden verstecken sich mit ihren Wunden.
Allein gelassen, purzeln dem Gelähmten die Fantasien seiner Schmerzensnächte von neuem durcheinander. Die Apostel blicken hochmütig auf den Holzschnitzer herunter. Bartholomäus geifert: "An allem bist du selbst schuld."
Erneut verändern sich die Hände aller, werden spitziger, knochiger, verlieren ihre Grazie und überziehen den Altar wie ein Spinnennetz.
Den greisen Bildhauer werfen Angstträume nieder, die ihn einst auch in der Werkstatt gequält hatten. Aus den zwangsweise gefalteten Händen der gebrochenen Bürgerschaft kriechen Würmer auf das weiche, wehrlose Lindenholz zu.
Riemenschneider tritt der Angstschweiß auf die Stirn, er will aufspringen und sein Werk schützen. Doch er ist angekettet.
Ein letztes Mal muss er sich geschlagen geben, das Heer von Würmern befindet sich auf dem Siegesmarsch.
Das Blutrecht des Bischofs, die genießerische Grausamkeit der Knechte, die Erbärmlichkeit der Leisetreter - all das frisst sich durch Riemenschneiders gelungenste Arbeit.
In den Bildern seiner vorauseilenden Erinnerung bleiben nur ein Haufen von Holzmehl übrig. Bewunderung, Freude, Weisheit, Harmonie, Glück: alles zerfressen.
Was einst die Prophetie von kommender Schönheit und Liebe hätte sein sollen, ist umgeschlagen in die Unheilsprophetie bleierner Knechtschaft. Das geschnitzte Sehnen nach Freiheit ist zerstoben. Schwarze Angst regiert.