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VISION IM SCHWARZEN MEER
von Hellmut G. Haasis

Der Bahnchef Rüdiger Grube am LÜGENDETEKTOR. - Ergebnis nicht überraschend,
seit über 15 Jahren am Bahnhof in Sprechchören zu hören: LÜGENPACK.
(Plakat 2010 am Bauzaun vor dem Nordeingang zum Hbf Stuttgart, aus der Reihe „Politische Volkskunst“, Foto Hellmut. G. Haasis, Freiheitsbaum Paris-Reutlingen)

Im vergangenen Sommer überfiel mich in einem überhitzten ICE ein Traum. Die schnellste Bahn der Welt jagte vom Bahnhof Paris-Est los: die berüchtigte RSB, die RÖHRENSCHUSSBAHN. Vorne drin Sarkozy, neben ihm fummelte Berlusconi an der Angy herum.

Merkel zu Sarkozy: „Was, ihr habt in Paris immer noch sechs Kopfbahnhöfe?“ Sarkozy mutlos: „Schuld ist Carla, die will was sehen.“

Berlusconi, mit elektronischen Fußfesseln aus dem Gefängnis entlassen: „Und gesehen werden, wie alle Frauen. Kosten alle zu viel. Le donne costano sempre troppo, queste puttane.“

Auf einer Zigarettenpackung sieht Berlusconi eine Warnung: LÜGEN KANN TÖDLICH SEIN. DIE WÄHLER.

Bei einem Spaziergang in den nächsten Wagen fährt ihn ein Bereitschaftspolizist aus WÜRZBURG an: „He Knacki, bist du auch so ein Berufsdemonstrant? Willst wohl eine auf den Sack, geiler Bock? Was ein Itaker? Das gibt Dresche, ihr habt Deutschland in beiden Weltkriegen verraten.“ Die Kompanie lacht, ein ausgereifter Kulturbeitrag aus Bayern.

Nach knapp einer halben Stunde stoppt die Röhrenschussbahn in Stuttgart, unterwegs waren von Frankreich nichts als Werbespots zu sehen. Der Zug kommt in der dunklen, feuchten Grube des Rüdiger Grube zu stehen. „Beleuchtung und Lüftung sind ausgefallen. Wir bitten um Ihr Verständnis. Sänk ju vor trävelling wis se Deitsche Bahn.“

Am Gleis lungert die Bahnhofs-Mafia herum, mit Sonnenbrillen, schwarzen Kerzen und Diplomatenkoffern voller Euros. Mappus, aus Brasilien schon wieder verjagt, Grube, Tanja Gönner, Schuster, Schmiedel, Nils Schmid und natürlich der Pfarrer Bräuchle: Im Dunkeln tasten sie sich an die vorderste Tür heran.

Der Veranlasser der ganzen Katastrofe hechelt hinterher, der MAMFRED ROMMEL: „Lassat me au mit wega meim Vadder. Hier onta sieht mr gnau: Die Wischte läbt. Auf zom Wischtafuchs.“

Die Anhänger des Kopfbahnhofs sind abgedrängt, von der jetzt sozialdemokratisch kommandierten Polizei. Vorne am Zug sehen sie das Ziel aufleuchten und lachen in Sprechchören: SONDERZUG NACH BRATISLAVA.

Mappus umarmt Schmiedel und Nils Schmid. Tanja Gönner kläfft: „Nach dem Nordflügel war es höchste Zeit zum Rückbau auch des Südflügels.“ Mappus schwankt: „War es wirklich notwendig, gleich auch den Südflügel des Alten Schlosses abzureißen?“

„Aus Kostengründen ja“, gilft die Gönner. „Unser Parteifreund hat mir Rabatte eingeräumt und vorgerechnet, mit der Zerstörung des altmodischen Stuttgarts könnten wir das Wirtschaftswachstum um 2 % steigern. Der Stadtrat unter Schuster hat schon zugestimmt, wie immer zu Plänen, die es noch gar nicht gibt. Auch die Hälfte der Landesregierung ist glücklich, Schmiedel und Schmid sind sowieso immer dort, wo’s mehr Beton gibt.“

Hinten lachen sie in Reimen:
„Im Rathaus wird es duschter, da haust der Wolfgang Schuschter.“

Die Türen des Sonderzugs öffnen sich kaum, in Sekunden sind die professionellen Jubler eingesogen, der Zug schießt weiter. Im Flughafentunnel schrammen die Wagen den engen Wänden entlang.

Ängstliche Blicke zu Grube, der ist entspannt: „Wo ich bin, gibt’s Murks - aber ich kann ja nicht überall sein.“

Schuster: „Wie bei Fokker und Chrysler?“

Grube: „Getroffen, ich verdien’ an jeder Pleite. Jedes Jahe 4 Millionen und am Ende noch was oben drauf.“

Die Gönner verteilt eine vorgedruckte Erklärung an die Journalisten: „Reparaturkosten minimal, kaum 150 Millionen. Hab ich soeben geschätzt, das Gutachten kommt in einem halben Jahr.“

Und die Medienleute wissen wieder, was sie zu schreiben haben. Regimepresse.

Unter der SCHWÄBISCHEN ALB kommt die Gönner abhanden. Pfarrer Bräuchle betet und findet sie unter ihrem Sitz mit einem Schraubenzieher. „He, was machst denn du da?“

Gönner: „Mein Sitz wackelt furchtbar. Wenn die Bahn bremst, kipp’ ich nach vorne. Wenn sie beschleunigt, nach hinten. Bei Kurven haut’s mich nach links und rechts. Hab ich schon eine Migräne.“

„Wie willst du das ändern? Alle Reparaturarbeiter sind entlassen und auf Harz IV gesetzt.“

Im Dunkel von Ulm wartet der Oberbürgermeister GÖNNER, der Ivo. Der will gerade seine MAGISTRALE NACH NEU-ULM hinüber besingen, da gehen die Türen auf, samt seinem SPD-Stadtvorstand wird er eingesogen.

Drinnen wird’s unangenehm. „Die Kühlung ist ausgefallen, wir bitten um Ihr Verständnis.“

Mappus schlägt alles auf die Blase. Das erste Clo trägt einen gelben Aufkleber: „WC außer Funktion. Wir bitten um Ihr Verständnis.“

Im zweiten findet er weder Wasser noch Clopapier. „Wir bitten um Ihr Verständnis.“

Bei der Zugchefin will er eine Beschwerde loswerden, die schaut ihn vernichtend an: „Absolut kein Verständnis. Das ist eure Bahn, für uns war die bisherige besser – für die Fahrgäste auch preiswerter und deutlich zuverlässiger.“

Vor München krächzt der Lautsprecher: „Alle anschnallen. Vollbremsung wegen Kopfbahnhof.“

Mappus, nur noch rote Birne, tobt: „Ja ist denn so was polizeilich noch erlaubt? Nach der totalen Infrastruktur-Regenerierung in ganz Europa?“

Die Zugchefin: „Bringen Sie das den Münchnern bei, die haben von euch gelernt. Deren Sprechchöre müssen Sie mal hören, bei jeder Montagsdemo: STUTTGART NIE, STUTTGART NIE.“

Der Geisterzug rast unter Salzburg und Wien durch. In Bratislava sollten viele auf’s Clo, aber nichts zu machen, randvoll. - Keine Halteerlaubnis. Die Clos fangen zu stinken an. „Wir bitten um Ihr Verständnis.“

Der Zug schießt unter Bukarest durch zum Schwarzen Meer.

Und so musste alles enden, die Bremsen wurden nie gewartet.

Bevor der Pfarrer Bräuchle unter Absingung des Luther-Liedes „Ein feste Burg ist unser Gott“ (Gesangbuch Nr. 362) als Märtyrer der Betonreligion im Schwarzen Meer versinkt, bekommen die Strandgäste das hintere Zugschild zu lesen: LÜGENPACK.

Sie rufen es tagelang, mit wachsender Begeisterung und in allen Sprachen Europas. Später schwemmte es das Schild bei der Halbinsel Krim an.

Eine Sammlerin drehte es um und freute sich über den inzwischen europaweit populär gewordenen Spruch: OBEN BLEIBEN.

(22. Oktober 2011, Autorenbeitrag für die Eröffnung des Bücherknastes in Stuttgart)
Eine frühere, davon stark abweichende Fassung kam schon im Februar 2011 in die WORTGEBURTEN. Ein Vergleich sicher reizvoll. http://haasis-wortgeburten.anares.org/surrealistische/surr_05.php

/surrealistische/surr_07.php | anares.org | comenius-antiquariat.ch Samuel Hess 2005