Szene an der Moldau in Prag, unten ein Bereitschaftspolizist
in Erwartung der Nasen-Demonstration (einst von Hans Ticha:
Illustration zu Karel Capeks Roman: Der Krieg mit den Molchen, 1936)
Nur einmal passierte es mir, liebe Oona, dass ein fertiger Film verschwand. Mühevoll gedreht, Monate lang, recht teuer. Nach Jahren fand ich nichts mehr, keinen einzigen Meter. Ich erinnerte mich dumpf an Prag. Ob ein neuer Film etwas tauge, ließ ich in den Staaten eine Probeaufführung entscheiden. Ich holte wahllos Leute ins Kino und wartete im Dunkel zitternd darauf, ob ein Jubelsturm ausbreche. Dieser Film fiel durch, zu schwierig hieß es: surrealistisch. Ich legte ihn geknickt beiseite, irgendwann verschwand er.
Vorher hatte ich „The Kid“ gedreht. Ich war nicht lange aus Europa zurück, ach ja, diese Reise kennst du noch nicht, meine erste im Jahr 1921. Meine europäischen Verehrer träumten hinter mir weiter, am geistreichsten die an der Moldau, die Prager. Oona, hast du als Amerikanerin je von dieser Stadt gehört? Wir werden auch dahin kommen – wenn man uns reinlässt. Kalte Zeiten heute, feindselig, das liegt am Regime, nicht an den Herzen.
Mein Film ist wohl nicht zufällig weg. Er ging auf die bizarre Erzählung eines Russen zurück. Sonst ließ ich mich nie von älterer Literatur anregen. Die Geschichte war so urkomisch, verrückt und unglaubhaft, dass sie mein Herz und meinen Verstand und meine Phantasie eroberte. Ich war gefangen, ein unfreier Schöpfer. In so einem Zustand lief es bei mir am besten. Meine erfolgreichsten Werke machte ich in einem Sturmwind tief aus meinem Innern, meinen unkontrollierbaren Gedanken, aus einem Meer überflutender Gefühle.
Eine Russe hatte die Kurzerzählung geschrieben, er trug einen lautmalerischen Namen: GOGOL. Nikolai Gogol. Hörst du, wie der hüpft, der Name, kluckst, alles kann man sich drunter vorstellen: Kokos, Koks, Kokain, selbst Gockel und Gugelhopf, wie ich von einer Urgroßmutter weiß, einer Schwäbin aus Upflamör auf der Schwäbischen Alb. Von ganz allein kamen mir Szenen ins Bild. Dieser Gogol wachte im Jahr 1836 eines Morgens auf, aus einem Nachtgesicht voller Angst, ihm sei etwas Grässliches passiert, worunter er den Rest seines Lebens leiden müsse. Die Erzählung hieß kurz, wie man’s für einen Film braucht: DIE NASE. Ihr Reiz: Etwas Zentrales änderte sich an einem Menschen, eine Beschädigung, mit der niemand leben wollte.
Kaum aus Prag zurück, quälte mich eines Nachts eine schauerliche Vision. So was hatte mir in Prag ein Autor prophezeit, Kafka hieß er, genannt der Gruselfranz. Auch mich hole eines Tages, so hatte er gemurmelt, ein Spätschaden dieser Stadt ein. Ich glaubte ihm nicht. Wie wollte ich mich nun von diesem Angsttraum befreien? Ich nahm mir vor, die Geschichte auf eine scheußliche Person abzuladen. Am Opfer meiner Phantasie stimmte plötzlich etwas nicht, es handelte sich um einen gierigen, räuberischen Banker, der Tausende armer Teufel zu Schwindelgeschäften verführt hatte, die im Schuldturm endeten. Hättest du sehen sollen bei der Premiere, wie sich das Publikum ärgerte, den negativen Filmhelden verfluchte. Der Geldmensch war kein Fettsack, sondern schlank, adrett, gewinnend, und er blieb unbeeindruckt, ein anerkannter Frauenheld. Ihn kümmerte nichts. Als er eines Morgens aufwachte, spürte er, ein wesentliches Körperteil wäre nicht mehr an ihm dran. Welches? Die amerikanische Klatschpresse hätte unbesehen hinausposaunt: Ihm fehle sein schnuckelicher, kleiner Freund, der beste, weg iss-er, keine Liebe mehr, ab jetzt sind die Frauen sicher vor diesem Wüstling, den man aus dem Land jagen sollte, wie sie es oft auch mir angedroht hatten. Jetzt, nach vierzig Jahren, haben sie es geschafft. Du weißt, Oona, unsere Europareise kennt keine Rückkehr: Die Einwanderungsbehörde hat mich ausgesperrt.
Meinem Filmhelden ging es anders, er schleppte sich mühselig ins Bad, kein Licht wollte er mehr sehen. Wie man ihn zum Frühstück rief, stürzte er an den Lichtschalter. Ein Schrei rief das Personal herbei. Mit grellweißem Gesicht starrte er in den Spiegel.
Weg war sie, seine Nase, an ihrer Stelle klaffte eine Platte, leicht eingesunken. Der Gesichtserker offensichtlich abgefallen, der den Wüstling beim Küssen gestört hatte. Sollte das nicht die Strafe sein für sein lästerliches Liebesleben? Sein Personal flog durch die Wohnung, fing im Bett an zu suchen, dann im Schrank. Im Schreibzimmer, wo er gestern Abend eine neue Strategie für sein Kapital entwickelt hatte. Nirgends fand sich die Nase. Also rein in die Mülleimer, den Keller, den Vorratsraum, zuletzt in die Garage, ob die Nase nicht im Auto liege. Nichts.
Bei der Filmvorführung neigte sich ab dieser Stelle die Sympathie des Publikums dem Nasenlosen zu, die Sünden seines kleinen Freundes könnten ja nicht so groß gewesen sein. Unterwegs zur Bank traute er sich nicht, aus dem Auto zu blicken, die anderen würden ihm sicher den Vogel zeigen. Aber schon der erste Fahrer, der neben ihm herfuhr, hatte ebenfalls keine Nase. Jetzt schwappte ein Stöhnen über die Zuschauer hinweg. Als mein Opfer und der andere Nasenlose einander sahen, rissen sie erschrocken ihre Steuerräder herum und fuhren krachend ineinander. Sie stiegen aus, zitternd, jeder entschuldigte sich beim andern für das Aussehen, es sei keine Absicht, sie würden es bis morgen wieder in Ordnung bringen. Jeder begleiche seinen Autoschaden selbst.
Gefährlicher wurde es bei einem Fußgängerüberweg. Rund die Hälfte, so schätzte unser Geldzähler, besaß schon beim Betreten der Fahrbahn keine Nase mehr, unterwegs fielen weitere Nasen ab. Einige wollten sie aufsammeln, vielleicht um sie zu verkaufen, doch dafür reichte die Grünphase nicht. Beim nächsten Schwung Fußgänger eilte ein Straßenfeger voraus, um die vorher platt gefahrenen Nasen zusammenzukehren. Aus der Routine des Säuberns ließ sich schließen, dass das Unglück mit den Nasen auch in diesem Stadtteil schon bekannt war.
Die Nasenlosen gingen genau wie die glücklichen Nasenbesitzer weiter, ohne ein Wort über ihren Zustand zu verlieren. Ein Tabu. Es war nicht zu erkennen, ob sie schon resigniert hatten oder nur überrascht waren. Der Banker hielt sich beim Betreten seines Instituts eine Zeitung vors Gesicht. Seine Mitarbeiter schauten nicht auf, sie grüßten heute aus gutem Grund niemanden, auch den Chef nicht.
Alle arbeiteten still weiter, viele rascher als sonst, denn jetzt hinderte sie keine Nase daran, schnell über ihr flaches Gesicht hinweg sich eine weitere Arbeit zu holen und zusätzlich zu erledigen. Mittags beobachtete der Banker Unruhe in der Stadt. Von äußeren Stadtteilen näherten sich komische Demonstrationszüge. Winzlinge marschierten daher, einfach so auf der Straße, kein Auto kam mehr durch. Alles Nasen, wie sich beim Näherkommen erkennen ließ, die die Kreuzungen blockierten, hupende Autos umwarfen oder Fahrer herauszogen und zum Mitmarschieren zwangen, dabei fielen auch deren Nasen ab. Gewaltig skandierten sie Sprechchöre, die sie sich früher nie getraut hätten: WIR WOLLEN UNSER GESICHTER WIEDER HABEN. Ein radikalerer Slogan setzte sich nicht durch: ALLE NASEN WEG. Noch wünschte man nicht allen so ein Elend.
Nach einigen Stunden, die die Stadt in Verwirrung gestürzt hatten, griff die Bereitschaftspolizei durch, verstärkt durch mehrere Kompanien Panzergrenadiere: Sie riegelten mit harter Hand die rebellischen Stadtviertel ab. Als die ersten Uniformierten mit Knüppeln zuschlugen, fielen auch ihnen die Nasen ab, nur bluteten ihre Gesichter. Sie schrieen gekonnt, das sei Widerstand gegen die Staatsgewalt. Die anderen Nasen stürmten fröhlich über sie hinweg, mit schadenfreudigem Gelächter. Der Spuk verflog, als das Regime die Nasen ins Fußballstadion lockte. Dabei half geschickt das Versprechen, dort bekämen sie alles umsonst, auch die teuersten Waren, die Regierung verschenke alles. Kritische Äußerungen hatten keine Chancen, denn wer nur eine Nase besaß, aber keinen Kopf, wie hätten dessen Ideen etwas gelten können? Und das Genäsel verstand man zu schlecht. Im Stadion blieb es ruhig, bis die helleren unter den Nasen erkannten: Was soll uns das Zeug nützen? Der Plunder wird zur Last, wie will eine überladene Nase die Geschenke heimschleppen?
Die Entwicklung gewann Dramatik, als die Nasen von weitem ihre Köpfe mit neuen Gedanken versorgen wollten. Nun setzte Widerstand ein: das Denken, das eigene, ohne Erlaubnis und ohne Anweisung. Die nasenlos herumirrenden Gestalten fingen an, einander zu fragen, was draußen im Stadion vor sich gehe? Bald riefen die Köpfe durch die Straßen: WIR WOLLEN UNSERE NASEN WIEDER HABEN. Natürlich gab es auch Leisetreter, die tuschelten, man könne nicht mehr so altmodisch wie früher auftreten, ohne Nase wäre man moderner, richtig chic. Die Mehrheit bewegte sich dennoch Richtung Stadion. Die Wächter, inzwischen selber nasenlos, blieben mit verschränkten Armen untätig stehen. Nasen und Köpfe brannten vom Wunsch, sich wieder zu vereinigen. Hätte damit nicht alles gut enden können?
Aber nein, liebe Oona, denn die Nasen konnten ihr richtiges Gesicht nicht mehr finden. Was sollte da helfen? Rufe? Ging nicht, denn die Nasen hörten ohne Ohren schlecht, kannten zudem ihre eigenen Namen nicht mehr. Eine öffentliche Beratung verlief turbulent. Nach Stunden gaben die heftigen Verteidiger des Privatbesitzes nach, auch sie wollten lieber irgendeine Nase haben, als jahrelang nach der alten zu suchen. Und vielleicht erwischten sie eine hübschere? Selbstverständlich ließ man den Frauen den Vortritt, die bräuchten dringend ein ansehnlicheres Exemplar. Niemand traute sich das anzuzweifeln, er wäre von den weiblichen Nasen verklopft worden, unterm Jubel aller.
Am Ende saßen alle Nasen wieder in irgendeinem Gesicht, alle sagten sich: Besser diese Nase da als keine. Das Nachdenken setzte in Massen ein: Was war die Ursache für die ganze Unruhe gewesen? Ein Traum? Die Angst vor Raffgierigen? Die Kopflosigkeit der Normalbürger? Es bildete sich eine Regierungskommission.
Die tagt inzwischen seit Jahren, niemand erwartet, dass sie je zu einem Ergebnis kommt.
Die Filmerzählung endet mit einer leicht krächzenden Stimme aus dem Off: Diesen unbekannten Chaplin-Film aus dem Jahr 1923, als der Surrealismus zur Welt kam, entdeckte ein Sammler alter Geschichten aus Prag, ein Schwabe und Märchenclown, der einzige auf der Welt. Er fand das Zelluloid, schwer verstaubt, im Archiv der tschechoslowakischen Literatur im Kloster Strahov. Auf der Filmrolle stand tschechisch: Vorsicht! Haft! Gefährliche Verrücktheit eines amerikanischen Geheimagenten, der nach dem Sieg der Roten Armee die Freunde der Sowjetunion verstören wollte. 1952 beschlagnahmt bei Karel Teige, Verschwörer gegen das Proletariat, führender Surrealist in Prag. Als Schöpfer dieses Films nannte er, wohl zur Ablenkung, einen hier unbekannten Tscharrli Tschäpplin. Dieses Werk eines Schizophrenen darf nur in geschlossenen Gesellschaften gezeigt werden, kritisch kommentiert von Psychiatern und nur vor ausgewählten Insassen eines Irrenhauses, unter Aufsicht der Partei.