haasis:wortgeburten

LITERARISCHER UNDERGROUND HABSBURG 1700- 1800

von Hellmut G. Haasis

Die freie Reichsstadt Nürnberg galt um 1793/94 bei oppositionellen Literaten wie bei der Polizei als die heimliche Hauptstadt der Underground-Literatur.

Hundert Jahre früher war in der Stadt nur alle paar Jahre ein Stück aufgetaucht, in der Sebalduskirche oder am Rathaus. 1705 kamen mehrere handschriftliche Exemplare einer Pasquille „unter der Frühpredigt so auch unter der Vesper auf die Kanzel“. Vom Pfarrer wurde die ‚Schmähschrift‘ am nächsten Tag „öffentlich von der Kanzel herab verlesen“. (1) Eine unerwartete Publizität.

Eine Woche später forderte man das Volk vom Rathaus herunter auf, die Autoren zu nennen, dafür gebe es 100 Reichstaler.

Der Erfolg mager: Es wurden zwar sechs weitere Exemplare abgegeben, aber keine Autoren genannt. Der Scharfrichter verbrannte alle Schriften am Pranger vor dem Rathaus. (2)

Für die Obrigkeit stand diese Literatur auf einer Stufe mit Hexen und Ketzern.

Beim nächsten Stück dreizehn Jahre später wurde der anonyme Autor als „ein unruhiger Kopf“ tituliert, er attackierte einen Patrizier. Dieser Schrift erging es genauso: „von dem Rathaus öffentlich publ[iziert] (...), durch des Henkers Hand öffentlich verbrannt.“ (3)

Beim folgenden Fall von 1730 gab es nichts zu verbrennen. In der Nacht hatte jemand mit Kreide ans Rathaus geschrieben:

„Auf, Bürger, auf, heut ist es Zeit, das Joch ganz abzulegen, [wer?] mit Gott u. Kaiser vereint, der greife zu den Degen. .... Die drei letzten Worte waren nicht ausgeschrieben. Es wurde hierauf sogleich befohlen, die böse Schrift auszulöschen.“ (4)

Der Mauertext erhält von der Chronik das Prädikat „aufrührerische Schrift“.

1734 erwischt man die Produzenten unerwünschter Kupferstiche. Die Obrigkeit lässt die Kunstwerke auf extra errichteten Schafotten vor dem Rathaus in Flammen aufgehen. Der Schreiber, der Kupferstecher und der Kupferdrucker müssen daneben stehen, sie werden für zwei Jahre ins Zuchthaus geworfen. Einer stirbt in den Eisen, ein anderer kann flüchten. (5)

Was hat das alles mit Buchforschung zu tun? Mir scheint, wir stehen bei solchen Texten und ihren rätselhaften Autoren vor Keimformen oppositioneller Literatur. Abweichende Meinungen müssen sich noch ins Dunkel verdrücken, aber sie suchen die Herausforderung an zentralen Plätzen, unterlaufen die Zensur und kümmern sich nicht um die Gesetze des Buchhandels.

Sie kennen keinen Markt, sie kosten nichts - im Falle des Erwischtwerdens freilich Freiheit und soziale Existenz.

Die Kehrseite: Diese Literatur kommt nur auf eine geringe Reichweite und wird lange nicht überliefert. Exemplare aufzubewahren oder abzuschreiben und weiterzugeben, ist riskant. Anfangs sammelt niemand die Texte, nicht einmal die Polizei.

Im Vorarlberg entwickelt sich Ende des 17. Jahrhunderts eine radikaldemokratische Volksbewegung, getragen von einer Gemeindedemokratie, gipfelnd in Massenbewegungen. (6) Bürokratie und Militär tun sich schwer, die Bergbevölkerung für den Ausbau des absolutistischen Staates auszuplündern und zu entrechten.

Der literarische Underground ist gemeindedemokratisch und antihabsburgisch, hier streitet man für die eigene Freiheit, eine gerechtere Lastenverteilung, direkte Kontrolle der Verwaltung durch die Regierten und für einen tatkräftigeren Landtag. - Aktuelle Themen bis heute.

Die Vorarlberger haben nicht vergessen, dass sie einmal Eidgenossen waren, ohne das kaiserliche Militär wären sie es wieder geworden. Das Land ist gespalten in zwei Parteien, die „Unrüebigen“ („die Unruhigen“, die Opposition) und die „Rüebigen“ oder „Ständischen“, die Leisetreter. Die „Unrüebigen“ fordern 1702 in einer Denkschrift die direkte Volksherrschaft.

Beim ersten Anlauf scheint es zu einer Verständigung mit der Regierung und dem Kaiser zu kommen (1704). Doch die kaiserlichen Truppen machen keinen Unterschied zwischen dem eigenen Volk und dem Feind. So geht’s von der Steuerverweigerung weiter zum Aufstand.

Die Rebellen marschieren nach Plan aus allen Gemeinden bewaffnet hinunter nach Bregenz. Forderung: Abzug des kaiserlichen Militärs. Als die Gemeindeabgeordneten in Bregenz erlahmen, schließt die Bauerntruppe den Landtag ein. Plötzlich finden die Verhandlungen ein gutes Ende.

Diese Volksbewegung ist durchzogen von selbstbewussten literarischen Zeugnissen: Drohschreiben, Appellen, Briefen, Versammlungsergebnissen, Diskussionsvorschlägen, Verhören. Ziel ist eine Verfassungsreform. Literatur - ein befreiendes Lebensmittel mit utopischem Horizont.

Unter den Aufständischen kursiert auch eine Weissagung der mythischen Sibylle. Einer der Rebellen breitet sie beim Verhör in Bregenz genüsslich aus:

„Sie reden insgeheim davon, dass das Schweizerland sich so viel vergrößern werde, dass der Berg Bussen im Schwabenland inmitten des Schweizerlandes stehen soll und die so genannten Schneebauern (worunter sie sich selbst verstehen) werden sich von Spreu und nicht von Korn ernähren, und alsdann werden sie herausfallen und alles erschlagen, und alsdann wird Friede werden.“ (7)

Der Bussen, ein Berg bei Riedlingen an der Donau, soll mitten in einer nach Norden expandierenden Eidgenossenschaft liegen, ganz Vorderösterreich wäre frei von Habsburg, Südwestdeutschland dem preußischen Druck entzogen.

Im Ausklang gehen sieben Flugblätter über Bregenz nieder: Die Vorarlberger wollen sich lieber zusammen mit Bayern und Frankreich gegen Österreich organisieren. Ihr Staatsverständnis definieren sie antikaiserlich und eidgenössisch.

Wäre diese Utopie verwirklicht worden, das Schicksal der Vorarlberger wäre ganz anders verlaufen, unendlich besser. Die Schweiz wäre größer geworden, Österreich kleiner. Und noch schöner: Die Vorarlberger Juden wären nicht vertrieben oder ermordet worden, die Vorarlberger Männer hätten nicht in den Krieg ziehen müssen, zum Töten anderer oder in den eigenen Tod. –

In der Underground-Literatur können sich völlig unerwartete Aussichten verbergen: verschüttete Alternativen unserer Geschichte.

Zur gleichen Zeit brach in der Reichsstadt Augsburg ein Gesellenstreik aus, der die Schlagkraft der Gesellenorganisation bewies. (8) Die Augsburger Schuster wollten ihren Würzburger Brüdern für den Streik ein Solidaritätsschreiben schicken und zwar autonom, was der Rat und die Zunftherren zu verhindern suchten.

Den ersten Angriff der Herren schlagen die Gesellen zurück. 1726 greift der Augsburger Rat erneut ihre Autonomie an. Unter den Schustern entstehen zwei Parteien, die „Braven“ – so nennen sich die Autonomen, die Radikalen – und die „Spöttischen“, die höhere Schicht unter den Gesellen, die Meistersöhne und Meisterschaftsanwärter.

Gegen die Strategie der Zunftherren, mit Polizeigewalt die Gesellenlade in ihre Kontrolle zu bekommen, treten die Schuster in den Streik. Nach dem Verbot wollen sie in die nächste Stadt auswandern. Als der Augsburger Rat die Tore sperren lässt, brechen die Gesellen mit Gewalt durch.

Ihre Organisation vermag das Augsburger Schusterhandwerk reichsweit in Verruf zu bringen. Künftig darf kein auswärtiger Geselle mehr in Augsburg arbeiten. Wer hier den Streikbrecher macht, kann in keiner andern Stadt des Reiches mehr die Arbeit aufnehmen. Für den Verruf verschicken die Streikenden Laufbriefe, die zur Solidarität und zum Boykott auffordern.

Ihre klandestine Kommunikation hielt zwei Jahre lang den Boykott durch. Abgefangen wurden ihre Laufbriefe für 22 Städte, weit mehr Orte dürften einbezogen gewesen sein. Gegen die Schuster schlossen sich der Kaiser, das Reich und Bayern zusammen. Ohne Erfolg.

Neben den Boykottbriefen gab es persönliche Schreiben an schwankende Gesellen. Sofern die Schreiben Leiden und Gegenwehr der Streikenden berühren, bieten sie noch heute Stoff für einen sozialrevolutionären Roman.

In Fürth, einem Ort unter der Aufsicht Nürnbergs, regte sich 1738 ein jüdischer Underground. In Stuttgart war soeben der jüdische Finanzmann Joseph Süß Oppenheimer durch einen Justizmord gehenkt worden. (9) Süß hatte in seiner Todeszelle zwei Glaubenszeugen gebeten, alle jüdischen Gemeinden mit einem Gedenkblatt von seinem grausamen Ende zu benachrichtigen.

Diese klandestine Schrift, eine einzige Druckseite in winzigen hebräischen Lettern, nannte sich „Relation von dem Tod des Joseph Süß seel. Gedächtnus“. (10) Hergestellt wurde sie in der Fürther jüdischen Druckerei von Chajim ben Zvi Hirsch. Aus Angst vor der feindseligen christlichen Umgebung verschwieg der Drucker alles: seinen Betrieb, den Autor, den Druckort und das Jahr. Nur seine Druckerzeichen am Rand ermöglichen die Identifizierung.

Der Drucker hielt freilich ein Gesetz des Undergrounds nicht ein, er verkaufte die heiße Ware an Feinde. Als vier christliche Übersetzungen ins Deutsche herauskamen, hassvoll kommentiert, kaufte der jüdische Gemeindevorstand von Fürth die Restauflage auf ----- und verbrannte sie.

Subversive Literatur kursierte in Salzburg 1787, eine Verspottung des Papstes in lateinischer Sprache: Er sei nur ein NICHTS. (11) Einen Monat später übertünchten während des Gottesdienstes schräge Vögel außen an der Kirche ein Bild des Christophorus. (12)

Während der Revolutionskriege kommt es im Erzbistum zu Verweigerungen des Kriegsdienstes, der Erzbischof lässt seine Untertanen mit Gewalt niederwerfen. (13) Bei einem Rathausball 1797 verteilt „ein Spaßvogel“, wie eine Chronik ihn nennt, einen Zettel, auf dem die sieben Todsünden sich unterhalten, die die Namen der berühmtesten Geschlechter der Habsburgermonarchie tragen. (14)

Im nächsten Jahr wandert ein scharfes Lied gegen den Krieg ins Land, es kommt aus der Steiermark und aus Tirol. (15) Angeklagt wird das soziale Elend der verkrüppelten Soldaten, die vom Vaterland verstoßen werden, sobald sie verletzt sind. Gegen alle Kriege und die Politik der Herren solle man einfach zu Hause bleiben, die Fürsten könnten selber auf das Schlachtfeld marschieren und sich die Köpfe einschlagen. - Diese Literatur bleibt zeitlos treffend.

In Nürnberg nahmen in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts die Spannungen zwischen dem patrizischen Rat und der Bürgerschaft zu. Ab 1773 erschienen geheime Streitschriften gegen den Rat, 1778 drohte ein Anschlagzettel erstmals „eine Rewellion“ an. (16)

Ein Patrizer sammelte indessen die vielen Zeitungen, Wochenschriften, Satiren und Pasquillen. Im gedruckten Katalog seiner Sammlung findet sich eine köstliche Notiz, selber angesteckt vom Geist des Undergrounds. Zum Band 1012 (!) heißt es lakonisch:

„Es sind geschriebene und gedruckte Sachen, die sich nicht anzeigen lassen. Ihre Verfasser müssen das Licht scheuen, und sie sollen auch bey mir im Dunkeln bleiben.“ (17)

Nach dem Bastillesturm blüht der Nürnberger Underground auf, mit neuer Qualität. Am 13. August 1789 hängt morgens am „Roten Hahn“, einem Gasthof, ein handschriftlicher Aufruf in der neuen Sprache der Zeit.

“Auf, Brüder! Auf, Bürger! Jetzt ist der Zeitpunkt, dass ihr eure Freiheit, eure angeborne Rechte wiedererlangen könnt. Ihr, meine Mitbrüder, lebt jetzt außerordentlich im Druck, erhaltet keine Gerechtigkeit, seid immer die Schlachtopfer der adeligen Kanaillen....” (18)

Zehn Tage danach ist sich in Vorderösterreich der erste Rebellenton zu vernehmen. In Endingen, nördlich vom Kaiserstuhl, hängt am Sonntagfrüh 23. August 1789 am Schulhaus eine Aufforderung zum Aufruhr.

“Auf! Wer ein rechter Bürger ist, der wehr sich um die Gerechtigkeit willen, bei der ersten.....” (19)

Der Text bricht ab. Mit Gerechtigkeit ist die Wiedergewinnung der geraubten Rechte gemeint, das zentrale Thema am Oberrhein. Der Magistrat von Endingen jammert: Der Text sei so geschickt angeschlagen gewesen, dass alle Kirchgänger ihn lesen konnten.

Im Februar 1792 tauchte in einer Frankfurter Buchhandlung ein gedrucktes Spottbüchlein auf, fast ein Theaterstück, Druckort vermutlich Nürnberg:

“Merkwürdige Reise des Papstes in den Himmel, in die paradiesischen Gerichtshöfe und in die Hölle” (20)

Die Verlagsorte Rom und Avignon bedeuten Hohn und Spott. Der Papst will mit den Schlüsseln des Petrus die Himmelstür aufschließen. Das erweist sich als unmöglich, denn das viele Blut, das frühere Päpste mit ihren Morden vergossen, ließ die Schlüssel verrosten.

Ein Wiener Revolutionsplan elektrisiert im November 1792 die Nürnberger Polizei. Der Krieg gegen Frankreich soll mit einem Appell gestoppt werden. Handschriftliche Aufrufe eines “antiaristokratischen Gleichheitsbundes” fordern zur Wahl des ersten Parlaments im Deutschen Reich auf. Tagungsort sei Nürnberg, außerhalb von Habsburgs Zugriff. (21)

Im Herbst 1792 erleben die deutschen Jakobiner ihren größten Erfolg. Eine kleine französische Truppe scheucht im Linksrheinischen zwischen Landau und Bingen den Adel und den hohen Klerus aus dem Land. Mit der Rheinisch-deutschen Freistaat und der Hauptstadt Mainz entsteht die erste deutsche Republik.

Wenig später findet sich am Morgen des 11. November 1792 auf dem Nürnberger Kornmarkt der bisher radikalste Aufruf, der Autor nennt sich Jakob Rothhaub. Der Name - ein Programm.

“Auf, ihr Mitbürger, greifet zu Waffen! Erringet eure Freiheit! Nun ist der Zeitpunkt vorhanden, wo ihr eure Rechte erkämpfen könnt. Ist dieser entwischt, dann auf ewig gute Nacht, du Freiheit. Gleichheit ist das erste Gesetz, welches die Natur schon einführte. (.....) Zerstöret den Adel und verbannet diese Blutigel aus eurer Stadt! Sie haben alles an sich gerissen, verprasst und mit dem Rest Güter gekauft. Nehmet ihnen die Güter und was ihr bekommen könnt!” (22)

Die Taktik zeugt von mangelnder Erfahrung. Die Bürger bräuchten sich nur geheim zu versammeln: “Gleich werden euch alle Bürger zufallen.“ (23) Als eine Woche danach noch immer niemand sich regt, schreibt der Autor seinen Text mehrmals ab, verändert ihn ständig und öffnet ihn für ein größeres Publikum. Wir blicken damit in den Reifungsprozess des Autors hinein.

Der Nürnberger Rat sieht in dem Aufruf ein “schweres Verbrechen” und “Hochverrat”. Wenige Monate danach brechen Volksbewegungen aus, Nürnberg ist lange Zeit nicht mehr regierbar. Ein Hauch von Paris liegt über der Stadt. Im Juni 1793 ziehen die Schlosser, Schneider und Schreiner mit Prügeln durch die Straßen und singen “Freiheits- und Aufforderungslieder”. (24) Nach drei Tagen werden sie von Soldaten vertrieben.

Die literarische Form gewinnt an Niveau. Auf dem Marktplatz hängt über Nacht ein riesiges Revolutionsgedicht, 30 Strophen: ein „Psalm, vorzusingen Adel, Schreibern und Genannten, nach der geistreichen Melodie: Ein Vogelfänger bin ich ja“. (25)

Auch dieser Autor vervielfältigt sein Werk handschriftlich und verteilt es in der Stadt. Der Underground nimmt Kontakt zur französischen Rhein- und Moselarmee auf, deren jakobinischer Volksrepräsentant Bourbotte die radikalen Zusätze dem Wohlfahrtsausschuss nach Paris schickt.

Im Jahr 1795 genügt ein geringer Anlass, dass die Empörten und Armen die Bäckereien stürmen, Läden und Fenster einschlagen und Häuser durchsuchen. Der Underground bringt den ersten Kupferstich heraus und überliefert uns damit die Volkserhebung.

Der bedeutendste Nürnberger Revolutionsfreund, der Arzt und Philosoph Johann Benjamin Erhard, fasste 1794 seine Gedanken in einem revolutionären Flugblatt zusammen, das er illegal drucken ließ: “Wiederholter Aufruf an die deutsche Nation”. (26)

Der vierseitige Underground-Text geht einer größeren Schrift voraus. Im folgenden Jahr brachte der Autor legal in einem Verlag seine Revolutionstheorie heraus “Über das Recht des Volks zu einer Revolution”. Auf der Leipziger Messe beschlagnahmte die Polizei jedoch den größten Teil der Auflage.

Erhard wich in weitere Untergrundtätigkeit aus. Um den französischen Feldzug von 1796 zu unterstützen und in Nürnberg einen Umsturz zu begünstigen, lieferte er dem französischen Außenministerium politische Informationen. Der Geheimautor wurde Geheimagent. (27)

Das umfassendste Zeugnis des Nürnberger Undergrounds finden wir in Verhörprotokollen, in denen der französische Geheimagent Valentin Probst, ein Elsässer, von der Nürnberger Revolutionsszene erzählt. (28) 1794/95 operierte er im Auftrag des Wohlfahrtsausschusses in Nürnberg.

Probst erzählte begeistert vom prorevolutionären Ton in den Nürnberger Abendgesellschaften und Wirtschaften. Dort stellte der Underground die Normalkultur dar. Die Nürnberger Jakobiner sangen Revolutionslieder, wenn sie spät nachts nach Hause zogen. Die Polizei wusste genau, welcher Geist in diesen Klubs herrschte, aber sie war machtlos.

Finanziell stützte sich der Geheimagent Probst auf den führenden Kopf des Nürnberger Handels, der zu Robespierre hielt, freilich unter Ablehnung der Guillotine. Der Nürnberger Großkaufmann finanzierte den französischen Geheimdienst in ganz Mitteleuropa. Er richtete eine geheime Druckerei ein, die Robespierres Reden in Übersetzungen herausbrachte und in Mitteleuropa vertrieb.

Der Höhepunkt des deutschen Undergrounds: eine Geheimdruckerei Robespierres unter den schlummernden Augen der Stadtherren.

Ab 1790 lässt sich im deutschen Südwesten eine neuartige, breite Untergrundströmung beobachten, aus dem Elsass kommend. Bedroht von einem Invasionskorps des Kardinals Rohan, verlegten sich Elsässer Demokraten darauf, im Rechtsrheinischen massenweise Flugschriften zu verbreiten.

Als einer der ersten warnte der nach Straßburg emigrierte Stuttgarter Demokrat Christoph Friedrich Cotta die Deutschen davor, in Frankreich einzufallen. Sein Büchlein “An die Männer in Teutschland” (29) wurde jenseits des Rheines ausgestreut.

Im Mai 1791 spitzte sich die Invasionsgefahr zu, dagegen proklamierte das zweiseitige Blättchen “Letzter Ruf der freigewordenen Franken an die unterdrückten Deutschen” ein Ultimatum. (30)

Während es in Südbaden sogar zu Straßenschlachten zwischen den antidemokratischen Söldnern und der Landbevölkerung kam, verließ in Straßburg eine der besten jakobinischen Flugschriften die Druckerei. Der Titel enthusiastisch:

“Allgemeiner Aufstand oder vertrauliches Sendschreiben an die benachbarten Völker, um sie zu einer heiligen und heilsamen Empörung aufzumuntern”. (31)

Schon der erste Satz führt gekonnt in den revolutionären Underground ein: “Du, wer du auch seyn magst, dem dieser Brief zu Händen kömmt, und der ihn lesen kann, her da, setze dich mit mir in irgend einen Winkel allein. Denn, allein, unter vier Augen, muß ich mit dir reden. Ins Herz, tief ins Herz möchte ich dir reden.” (32)

Eine weitere Broschüre Clauers, “Kreuzzug gegen die Franken”, verbreitete sich bis nach Ungarn, Siebenbürgen und ins Banat. (33) Ein aufmerksamer Leser dieses “Kreuzzugs” war der junge Philosoph Johann Gottlieb Fichte.

Das politisch am weitesten ausgreifende Produkt des literarischen Undergrounds entstand in Wien. Andreas Riedel, ehemals Mathematiklehrer des regierenden Kaisers Franz, war 1792 entsetzt über die Kriegspolitik seines Schülers. Riedel wollte dem Monarchen mit der Vortäuschung einer gesamtdeutschen Verschwörung Angst einjagen und ihn zum Frieden bewegen.

Er verschickte Abschriften seines Appells (34) nach Deutschland, man solle einen “antiaristokratischen Gleichheitsbund” gründen und eine deutsche Republik ausrufen. In allen Gegenden des Deutschen Reiches seien Abgeordnete zu wählen und nach Nürnberg zu schicken, wo das erste deutsche Parlament zusammentrete. Erfolg hatte Riedel nicht, aber von nun an arbeitete er auf eine wirkliche Revolution hin.

Im Gefolge der josephinischen Bauernbefreiung und langer Bauernstreiks regte sich auch in Böhmen und Mähren der Underground. (35) Ab August 1789 meldeten die böhmischen Kreishauptleute der Regierung nach Prag, tschechische wie deutsche Bauern verlangten die Aufhebung der Leibeigenschaft.

1792 klebte am Fenster eines Kaffeehauses in Brünn ein Drohgedicht gegen den Kaiser, ihm und seinem ganzen Lumpengesindel sei das Messer ins Herz zu stoßen. (36)

Im folgenden Jahr tauchte in Komotau (Nordböhmen) ein “Manifest des Geheimen Nationalkonvents der Josephinischen Böhmen”. (37) Die Protestanten Ostböhmens lebten in einer chiliastischen Hoffnung: Es komme eine Welt ohne Obrigkeit, alle Menschen würden gleich, diese neue Welt werde man zusammen mit den Franzosen errichten. Habsburg höre auf, denn die Franzosen brächten die böhmische Krone nach Prag und würden selber den König einsetzen.

Der mitreißendste Text, ein Revolutionslied, drang aus dem benachbarten Schlesien ein. Noch 1848 war es auf den Straßen am Rhein zu hören. (38)

Zwischen Sachsen, Böhmen und Schlesien gab es massenhafte Bauernstreiks, die die Grenzen ständig überwanden, auch die sprachlichen. Die Polizei fand bei Haussuchungen in Böhmen ein Spottlied nach der Melodie der Marseillaise und mit Texten verfolgter ungarischer Jakobiner. (39) Alle wünschten sich eine Niederlage der österreichischen Truppen. Bei der Einberufung zum Kriegsdienst flüchteten die Bauern in die Wälder.

In Hermannstadt kursierte 1793 ein handschriftliches Flugblatt, das sich für die Revolution aussprach und die siebenbürgisch-sächsischen Vertreter im Landtag einer radikalen Kritik unterzog. (40) Im 2. Flugblatt meldet sich ein “Hermannstädter Geschworener Jakobinerklub” zu Wort, der für den Aufstand auf die Mithilfe rumänischer Bauern setzte. (41)

Am Rande Vorderösterreichs finden wir in dem Weltpriester Joseph Rendler einen antihabsburgischen Literaten. Seine Biographie: Studium und Priesterweihe in Wien, Anhänger von Kaiser Josephs Reformpolitik, Vertreter bäuerlicher Interessen gegen die Klöster. Nach Josephs Tod wird er aus Wien ausgewiesen – Rendler geht ins französische Oberelsaß und wird ab 1792 einer der rührigsten Verbreiter demokratischer Ideen im deutschen Südwesten. (42)

In Frankreich bringt Rendler ungehindert seine Gedanken zu Papier. Als Vorbereitung für einen Umsturz erklärt er in einer Flugschrift auf 31 Druckseiten die “Rechte und Pflichte der Menschen”. (43) Ziel der Volksversammlungen sei “eine unblutige Herstellung und Erhaltung des Friedens”. In einem Artikel spricht er “von der Widerrechtlichkeit der Leibeigenschaft”.

Seine Broschüre, über die Schweiz nach Deutschland geschmuggelt, gilt heute als der erste deutsche Grundtext über die Menschenrechte.

Im Jahr 1799, als südwestdeutsche Demokraten eine Republik anstrebten, erschien in der Reichsstadt Heilbronn ein frecher Roman. (44) Wie das Justizopfer Schubart kam der Autor Johann Gottfried Pahl aus der Reichsstadt Aalen. Der Titel seines Spottromans:

“Leben und Taten des ehrwürdigen Paters Simpertus oder Geschichte der Verfinsterung des Fürstentums Strahlenberg. Zur Lehre und Warnung für Obskuranten und Aufklärer geschrieben von dem Bruder Thomas, Pförtner an dem Jesuiten-Collegium zu Strahlenberg”.

In Anspielung auf die machtlose katholische Gegenaufklärung erscheint Madrid als vorgeblicher Verlagsort, statt eines Verlegers liest man “auf Kosten der heiligen Inquisition”.

Der Kanzelredner parodierte die Antiaufklärung, voran die verbotenen Jesuiten, die die moderne Aufklärung auszurotten suchten. Damit traf er den Nerv Habsburgs. Der Autor roch die Polizei, er blieb lieber anonym. Es half nichts.

Die österreichische Geheimpolizei ermittelte Autor und Verlag, aber sie ahnte nicht, dass in ihren Reihen ein Freund des Autors wirkte. Dieser riet dem Verleger zur Vernichtung verdächtiger Papiere, dem Autor zum Untertauchen.

Als kaiserliche Soldaten den Heilbronner Verlag überfielen, fanden sie nichts.

Die Buchtarnung und die Repression wurden dem Werk beinahe zum Verhängnis, überlebt haben nur zwei Exemplare.

Zum Schluss die seltsamste Underground-Literatur. Bei Ehingen an der Donau rumorte im katholischen Vorderösterreich eine württembergische evangelische Exklave, das Rebellendorf Rottenacker. Seit 1792 entstand dort eine radikale Opposition gegen Staatskirche und Monarchie.

Die Abweichler begannen mit pietistischen Privatversammlungen. Aber unter der staatlichen Gewaltherrschaft, dem Einfluss ketzerischer Literatur und angeregt von einer charismatischen Visionärin aus Appenzell nahm es diese Gruppe anderthalb Jahrzehnte mit dem Königreich Württemberg auf.

Einer ihrer Sprecher, der Schuster Stephan Huber, verfasste das umfangreichste Revolutionslied der Epoche, 48 Strophen mit je sieben Zeilen: “Ein Volck wo Freyheits Liebe brent scheut nicht Thiranen Macht” (um 1798). (45)

Für ihre untergründige Bildung lasen die einfachen Leute - Weber, Kleinbauern, Tagelöhner und Schuster – mystische, theosophische Literatur: den Schuster Jakob Böhme, den schwedischen Visionär Emanuel Swedenborg und den schwäbischen Theosophen Friedrich Christoph Oetinger.

Der Kampf in Rottenacker gegen die Kirche zielte ursprünglich nur auf die Trennung, das Separieren, daher ihr Name Separatisten. Die Kirchengegner ließen ihre Kinder nicht mehr taufen, schickten keines in die Schule, schließlich verweigerten sie Kriegsdienst und Abgaben.

So landeten am Ende die Männer auf der Festung, die Frauen im Zuchthaus, die Kinder im Waisenhaus. Das traf 10 % der Rottenacker Bürger. Der Vogt schätzte ihre geheime Anhängerschaft auf über 50%.

Nach zehn Jahren ließ der nächste König die Separatisten auswandern, in die Vereinigten Staaten oder nach Südrussland. Ihre theosophischen Handschriften sind bis heute nicht ediert.

Nähmen wir die Underground-Literatur ernst in ihrer noch unerschöpften Vielfalt und ihrer Fremdheit gegenüber der Hochkultur, so könnten sich uns neue Erkenntnisse eröffnen über verschollene Chancen der Literatur überhaupt.

Stadtarchiv Nürnberg, Chroniken Nr. 62, S. 53
wie Anm. 1
wie Anm. 1, S. 89
wie Anm. 1, S. 116
wie Anm. 1, S. 123
Hellmut G. Haasis: Spuren der Besiegten. 2. Bd. Reinbek, Rowohlt, 1984, S. 493-507 Über den Zug nach Bregenz siehe die Erzählung, Hellmut G. Haasis: Edelweißpiraten. Erzählungen über eine wilde Jugendbewegung ....., Grafenau, Trotzdem, 1996, S. 41-54 (“Die Schlotterhosen von Bregenz”).
(7) wie Anm. 6 Haasis: Spuren 2. Bd., S. 504
(8) Hellmut G. Haasis: Spuren der Besiegten. 2. Bd., S. 525-534
(9) Hellmut G. Haasis: Joseph Süß Oppenheimer, genannt Jud Süß. Finanzier, Freidenker, Justizopfer. Reinbek, Rowohlt, 2. Aufl. 2001
(10) Salomon Schächter: Relation von dem Tod des Joseph Süß seel. Gedächtnus. Fürth/Stuttgart 1738. Einst verlegt von Mardochai Schloß alias Marx Nathan. Mit hebräischen Lettern gedruckt von Chajim ben Zvi Hirsch in Fürth.... Neu hrsg. von Hellmut G. Haasis. Paris usw., Freiheitsbaum, 1994 (ein ausleihbares Exemplar der bibliophilen Kunstmappe in der Landesbibliothek Stuttgart)
(11) Felix Adauktus Haslberger: Die Salzburger Chronik. 3. Teil. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 69 (1929), S. 103
(12) wie Anm. 11
(13) wie Anm. 11, S. 113
(14) wie Anm. 11, S. 114-115
(15) wie Anm. 11, S. 119
(16) Nürnberg, Stadtarchiv, G.V.d.H.Ä. Nr. 14
(17) Nürnberg, Stadtarchiv: Georg Andreas Will: Bibliotheca Norica Williana. Bd. 3, Altdorf 1774, S. 217
(18) Haasis: Spuren der Besiegten. Bd. 2, S. 600-601
(19) Hellmut G. Haasis: Gebt der Freiheit Flügel. Die Zeit der deutschen Jakobiner. 1. Bd., Reinbek, Rowohlt, 1988, S. 186
(20) wie Anm. 19, S. 314-329
(21) wie Anm. 19, S. 230-246
(22) wie Anm. 18, S. 603
(23) wie Anm. 18, S. 604
(24) Heinrich Scheel: Süddeutsche Jakobiner. Klassenkämpfe und republikanische Bestrebungen im deutschen Süden Ende des 18. Jahrhunderts. Berlin, Akademie-Verlag, 1962, S. 62
(25) Heinrich Scheel (Hg.): Jakobinische Flugschriften aus dem deutschen Süden Ende des 18. Jahrhunderts. Berlin, Akademie-Verlag, 1965, S. 51-54
(26) Johann Benjamin Erhard: Über das Recht des Volks zu einer Revolution und andere Schriften. Hg. von Hellmut G. Haasis. 2. Aufl., München, Hanser, 1970, S. 101-107
(27) Die Geheimberichte nach Paris erstmals gedruckt in: wie Anm. 26, S. 165-187
(28) wie Anm. 19, S. 738-762
(29) Hellmut G. Haasis: Gebt der Freiheit Flügel. 2. Bd., S. 627-638
(30) wie Anm. 29, S. 639-655
(31) Carl Gottlieb Daniel Clauer: Allgemeiner Aufstand oder vertrauliches Sendschreiben an die benachbarten Völker, um sie zu heiligen und heilsamen Empörung aufzumuntern. Straßburg, 31. August 1791 (Blauwolkengasse 1 Hg. von Hellmut Haasis) Paris, Freiheitsbaum, 1992
(32) wie Anm. 31, S. 8
(33) wie Anm. 31, S. 44
(34) wie Anm. 19, S. 320-246
(35) wie Anm. 8, S. 623-635
(36) wie Anm. 8, S. 624
(37) wie Anm. 8, S. 625
(38) wie Anm. 8, S. 629-634, mit einer Masse von Varianten.
(39) wie Anm. 8, S. 634
(40) wie Anm. 8, S. 636-637
(41) wie Anm. 8, S. 638
(42) wie Anm. 25, S. 15-16
(43) wie Anm. 42, S. 107-122
(44) wie Anm. 19, S. 350-369
(45) Stepan Huber: Ein Volck wo Freyheits Liebe brent scheut nicht Thiranen Macht. (Blauwolkengasse 5. Hg. von Hellmut G. Haasis) Paris, Freiheitsbaum, 1993.

(Einst hab ich den Stoff sehr gerafft vorgetragen in Wien, beim Kongress der Buchwissenschaftler, wo ich als illustrer Kanarienvogel und dazu noch aus dem Schwabenland kurz – nur 20 Minuten – die viel zu kleine Bühne betreten durfte.

gedruckt in: Frimmel, Johannes / Wögerbauer, Michael (Hg.): Kommunikation und Information im 18. Jahrhundert. Das Beispiel der Habsburgermonarchie, Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2009, S. 217-226.

Für die Netz-Fassung in den „Wortgeburten“ wurden weitere Illustrationen von Undergroundliteratur eingefügt.)

 

 

/underground/underground28.php | anares.org | comenius-antiquariat.ch Samuel Hess 2005