Joseph Süß Oppenheimers Persönlichkeit -
das Rätsel seiner inneren Stabilität
von Hellmut G. Haasis
(Worms 25. Juli 2010)
Joseph Süß kam 1698 in Heidelberg auf die Welt. Es soll das Zeitalter der Aufklärung sein, nur ist davon in Deutschland nichts zu spüren, kaum ein Aufklärungsphilosoph hat in diesem zerstückelten, zurück gebliebenen Land etwas zu sagen oder gar zu lachen.
Josephs Mutter stammte aus der Frankfurter Judengasse, der Vater gehörte zur Heidelberger Gemeindeleitung, es war seine dritte Ehe, die Ehepartner lagen 35 Jahre auseinander. Auf Josephs Leben lagen die Schatten von Kriegen. Französische Truppen Ludwigs XIV. hatten Mannheim, Heidelberg und das untere Neckargebiet zerstört. Die Heidelberger Juden nahmen 35 jüdische Mannheimer Flüchtlingsfamilien auf und rückten in ihren Häusern zusammen: 167 Personen mehr. Joseph wuchs mit Ruinen auf.
Die Familie Süßkind lebte orthodox, doch im Untergrund existierte eine schmale, geheimnisvolle Strömung, eine seltsame Hoffnung – aber Abweichen war gefährlich. Josephs erster Rabbiner Hirsch Fränkel war heimlich Kabbalist, Anhänger einer jüdischen Geheimlehre, er blieb es auch in Schwabach (bei Nürnberg). Dort wurde er in einen Streit um die Regierung hineingezogen.
Ein evangelischer Theologe der Nürnberger Universität Altdorf denunzierte, Fränkel schreibe kabbalistische Manuskripte. Die galten für so subversiv, obwohl sicher niemand sie verstand, dass man den Kabbalisten über 24 Jahre lang einlochte, Hände und Füße in Ketten, bis zum Tod. Vielleicht war diese Grausamkeit auch eine Rache dafür, dass sein Bruder Regierungschef beim Markgrafen von Ansbach-Bayreuth gewesen war und seine Gegner am Hof sich mit Sippenhaft rächten.
Dieses grässliche Schicksal steht in einer Reihe jüdischer Justizopfer jener Zeit, die in unserem Geschichtsbild überstrahlt werden von Idealgestalten der Aufklärung und Klassik.
In Heidelberg durfte der begabte Joseph die allgemeine Schule nicht besuchen, später nicht die Universität. Autodidaktisch machte er sich schlauer als viele Regierungsbeamte. Er genoss die traditionelle Erziehung im Cheder und in der Handelsfirma seines Vormundes Feist Oppenheimer, des Gemeindevorstands.
Beim Wiederaufbau Heidelbergs brach die Krämerzunft einen Wirtschaftskrieg gegen die jüdischen Händler vom Zaun, die Autorität des Kurfürsten galt nichts. Aber es war doch das Zeitalter des Absolutismus?
Wem solche Wirtschaftskonflikte in den Blick kommen, dem entpuppt sich der Absolutismus als ein Glaubenssatz von Regierungshistorikern, die bei der Destruktivität des Wirtschaftsbürgertums gerne die Augen zudrücken.
Die Kampagne gegen die Juden hat in Heidelberg keine religiösen Wurzeln, es geht um die Ausschaltung und Vertreibung anderer Händler. Obwohl der Kurfürst anordnet, wenn ein Jude ein Haus für 1.500 Gulden baue, dürfe er bleiben, will die Krämerzunft niemanden hereinlassen. Juden, die schon da sind, sollen hinausgeekelt werden. Wie?
In der Stadt dürften sie keinerlei Handel treiben, schreiben Krämer vor, wie wenn sie die Obrigkeit wären. Der Stadtrat, der die Politik der Judenfeinde betreibt, will den jüdischen Händlern ein offenes Geschäft und jedes Gewerbe verbieten, auch gegen die kurfürstliche Verordnung. Der Landesherr wiederum will seinen Juden helfen, seinen besten Steuerzahlern - aber in Heidelberg hat er nichts zu sagen.
1699 kommt es zum Gewaltausbruch. Als ein jüdischer Händler seine Waren auf einem Markt auslegt, überfallen ihn die Krämer und zwingen ihn, seine Verkaufsbude abzubauen. Wessen Geistes Kinder sie sind, offenbaren sie, indem sie sich auf eine mittelalterliche Reichsverordnung berufen: Juden dürften nur Lumpen anbieten und was sonst unter der Ehre eines Christen sei.
Der Erfolg macht die Krämerzunft frecher. Juden sollen nicht in einer zentralen Straße wohnen und ihre Waren höchstens in den oberen Stockwerken anbieten dürfen. Weil das Haus der Familie Süßkind im Krieg zerstört wurde, wohnt sie in Miete bei einem Christen in der Obergasse, Joseph wurde vermutlich dort geboren. Der Stadtrat befiehlt dem Hausbesitzer, die Familie Süßkind auf die Straße zu werfen.
Solche Gewalterfahrungen müssen wir als Hintergrund von Joseph Süß’ politischem Weltbild immer mitdenken. Die schlimmste Zuspitzung erfährt die Heidelberger Gehässigkeit, als 1718 aufgestachelte, besoffene Studenten die Judenhäuser stürmen. Es werden Scheiben zertrümmert, der Hausrat auf die Straße geschleppt und zerschlagen, die Synagoge verwüstet. Die Studenten machen es wie die Räuber im Spessart und Odenwald: Mit einem schweren Balken rammen sie die Haustore ein.
Es herrscht Bürgerkrieg, unter Duldung der Nachbarschaft und der Ortsobrigkeit. Der Kurfürst ist machtlos. Die antiliberale Krämerzunft hat das Gemeinwesen in der Hand, zum Schaden des Landes.
Joseph Süß ist zur Zeit dieses nächtlichen Straßenkriegs zwanzig Jahre alt. Er hat die Nase voll von dieser Stadt und den feigen Bürgern, er orientiert sich nach der modernen Nachbarstadt Mannheim.
Mit 25 Jahren ist er dort der einzige Geschäftsmann, der es riskiert, das ungeliebte staatliche Stempelpapier zu pachten, dem Kurfürsten die fälligen Zahlungen auf jede Urkunde im voraus abzuführen und nachher bei den Behörden einzuziehen.
Hier kann er nun eine neue Stufe der bürgerlichen Obstruktion kennen lernen. Jahrelang führt kaum eine der staatlichen Stellen das Stempelgeld ab. Der Kurfürst kann noch so sehr Strafen androhen, Rechnungslegung verlangen und Strafbefehle verschicken. Es geschieht nichts, der zahlungsunwillige Mannheimer Magistrat und selbst die Justiz stellen sich dumm, klagen, dass alles teuer werde und so schwer zu verstehen sei.
Die Eingaben und Proteste von Süß bei der Regierung werden von dieser mit einer Ignoranz falsch und hetzerisch wiedergegeben, dass man an ihrem Intelligenzgrad zweifeln möchte. Süß’ Befürchtung bekommt Recht: Der Zahlungsboykott der Mannheimer Wirtschaftsbürger frisst sich wie ein Geschwür in die Landstädte der Kurpfalz hinaus.
Joseph Süß hat ohne Erfahrung und Hilfe das Stempelpapier übernommen, die staatliche Verwaltung legt ihm nur Knüppel in den Weg. Er hat dem Kurfürsten getraut und erkennen müssen, dass der Herr rettungslos wankelmütig ist. Das Land befindet sich in der Hand der wirtschaftlich führenden Leute, die nur dann dem Landesherrn folgen, wenn sie dabei ihre Kasse füllen können.
Wenn’s ums Geld geht, blättert die offiziöse Judenfreundlichkeit der Stadt Mannheim schnell ab. Süß muss sich vom Magistrat als Jude anpöbeln lassen: Er bereichere sich und stürze das Land in den Ruin. - Später wird es in Stuttgart ähnlich klingen.
Wir haben hier ein Kernstück des wirtschaftlichen Antijudaismus vor uns, das seit Generationen, also lange vor den Nazis, zur Grundüberzeugung des deutschen Bürgertums gehört. Süß zieht aus der Mannheimer Erfahrung die Konsequenz: Wenn er je wieder auf höherer staatlicher Ebene operieren will, muss er im Landesherrn eine feste Stütze haben, sonst werden seine Rechte in den Wind geschlagen.
Auf die bürgerliche Verwaltung und ihre Vertragstreue wird er nie mehr setzen. Kein Wunder, dass er Anhänger der Landesherren ist. In Stuttgart wird er bei Obstruktion rascher durchgreifen, er hat erlebt, dass bei Nachgiebigkeit die Dämme zum Schutz eines Juden rasch brechen.
Süß verlässt das ihm zu eng gewordene Mannheim und versucht sich in Hessen-Darmstadt mit der Münze, auch hier gegen die Bürokratie, die nichts tun will. Durch Verhandlungsgeschick, Kontakte zu anderen Höfen und enormen Fleiß kommt er als Münzpächter doch noch zum Erfolg. Die Stimmung in Hessen-Darmstadt ist völlig anders als am Hof und im patrizischen Bürgertum Stuttgarts.
Davon zeugt eine geistreiche Erzählung, die als historisch zutreffend gelten kann. Sie zeichnet ein so positives Bild von Süß, dass sie bis heute aus der Süß-Literatur verdrängt wurde. Wer, wie ich, sich mit einer solchen sympathischen Überlieferung abgibt, dem tönt aus dunklen Ecken der deutschen Seele entgegen: Der Haasis ist apologetisch - gemeint ist, ich würde Süß, den unrettbar Bösen, verteidigen wie ein zweifelhafter Anwalt, natürlich zu Unrecht. Bewiesen wird gegen mich nie irgendein Unrecht oder eine Einseitigkeit.
Abwehrideologien vertragen keine rationale Beweisführung aus den Quellen. Süß bleibt bis heute im dumpfen Untergrund der deutschen Seele mit hochkriminellen Zügen gezeichnet. Veit Harlan und Joseph Goebbels leben fröhlich weiter, je glorreicher sie im Fernsehen die Medienhelden spielen dürfen.
Die Giessener Erzählung (Süß, Biografie, S. 264-267, 392-394) schildert uns einen aufgeklärten Juden, der seinen eigenen Weg geht, weder orthodox noch assimiliert. Süß hat in Gießen mit einem Regierungsrat über die Münze zu verhandeln. Äußerlich tritt er als ein Angehöriger der Führungsschicht auf. Den Gastwirt bittet er, ihm ein eigenes Zimmer zu heizen. Bis es dort warm ist, geht er in die Gaststube hinunter.
Dort springen Studenten, gewöhnlich tüchtige Judenfeinde, von den Stühlen auf, sie wollen dem Herrn die Ehre erweisen. Süß beruhigt sie: „Sitzen geblieben, Ihr Herren! Sitzen geblieben.“ (264)
In der Ecke sieht Süß einen Juden sitzen, der sich als Lipmann aus Düsseldorf vorstellt. Süß sagt ihm auf den Kopf zu, mit wem dieser in Heidelberg und Mannheim verwandt sei. Süß will Lipmann einen Wein spendieren: eine scherzhafte Herausforderung für den Orthodoxen, der bedauert, die Rabbiner erlaubten ihm diesen Wein nicht.
Süß macht sich lustig über die koscheren Vorschriften und spricht perfekt das Loschen hakoudesch, die mit hebräischen Worten angereicherte Sprache der deutschen Juden. Lipmann ist platt, Süß will ihm Mut zur Modernität machen, er selbst sei ja auch Jude, ein Bar Jisroel: der Süß Oppenheimer. Selbstverständlich trinke er den Wein.
Lipmann will sich an dem modernen, nicht gesetzestreuen Süß rächen. Er verpetzt ihn bei der Zollwache, dieser feine Herr sei Jude und habe sicher den Judenleibzoll betrogen. –
Der Denunziant hat Pech, denn Süß ließ sich überall von Judenabgaben befreien. Wir sehen einen Orthodoxen auf Rachekurs, die moderne Kleidung des Süß beweist ihm dessen Abfall vom Glauben – und darauf muss Strafe erfolgen, zur Not mit Hilfe von Judenfeinden.
Lipmann schmiert Süß auch beim Gastwirt an, der aber dem Süß nur einen harmlosen Streich spielt. Der Wirt benachrichtigt die Betteljuden in der benachbarten Judenherberge, einer der Ihrigen, ein reicher Herr, sei bei ihm, sie könnten ihn um Almosen für den Sabbat bitten. Wie Süß zurückkommt, wird er von einer Masse vagabundierender Juden belagert, Opfern der Landstraße, wie 10 % der Deutschen damals.
Süß redet freundlich mit ihnen: Ja ja, so ist’s, man findet überall arme Leute. Und er gibt ihnen reichlich, von den Alten bis zu den Kindern. Bei diesen Betteljuden fühlt er sich wohler als später am Stuttgarter Hof.
Diese wertvolle Erzählung aus Gießen zeigt einen Süß Oppenheimer, wie ihn die Antisemiten nie sehen wollten: eine aus Geschäftsgründen äußerlich angepasste Gestalt, innerlich ein Mensch mit jüdischer Identität, einfühlsam mit den Hilflosen seines Volkes und zugleich Anhänger der modernsten geistigen Orientierung, der Aufklärung. In Stuttgart erklärt er, er habe „ein Herz für die Bedrängten“, gewöhnlich hilft er auch anderen, nicht nur Juden.
Diesen Charakterzug vermochte er in den letzten beiden Monaten seines Lebens in Freiheit noch größer zu entfalten, als er in Stuttgart in einem großen Palais wohnte. Wenn er es einrichten konnte, ließ er verbreiten, er erteile Audienz. Dann füllte sich der Flur seines geräumigen Gebäudes. Es machte ihm Vergnügen, andern helfen zu können, oft scheint er seine Hilfe fast aufzudringen.
Mit Vorliebe verhilft er jungen Frauen zu einem Mann und gibt ihnen eine ansehnliche Aussteuer mit. Ein bemerkenswerter Heiratsstifter – ein unbezahlter, überkonfessioneller Schadchen?
Süß’ Geschäfts- und Lebensstil zeigt von Anfang an Niveau und ist auf Ausdehnung angelegt, wie es bei den Einschränkungen für einen Juden möglich ist. Der junge Heidelberger arbeitet sich aus dem Wenigen heraus, das er geerbt hat. Der Vater hatte Schulden hinterlassen, eine sehr junge, hübsche, aber bettelarme Witwe und zwei kleine Kinder.
Joseph halfen da nur Geduld, Zeit, Zähigkeit, Verhandlungstalent, Annäherung an den Hof und Appellation an den Kurfürsten, möglichst gestützt auf Anwälte. Nur zwei Jahre braucht er, bis er alle Hausanteile der Geschwister erworben hat, im Jahr 1717. Bei seinen Kommissionsgeschäften kommt er gut an mit seiner angenehmen Art, mit andern zu reden und zu verhandeln.
Er gilt als eifrig, absolut zuverlässig, einfallsreich, ist gesegnet mit einem guten Gedächtnis – die Geschäftspraxis war zumeist noch mündlich. Nun verlangt er vom Gericht die Ausstellung des Kaufbriefs für sein Haus. Er muss bis zum Oberappellationsgericht klagen. Das Gericht überstürzt nichts und entscheidet erst 1722 für ihn. Es tut sich weiter nichts. –
Einem Kohlhaas wäre das Messer in der Tasche aufgegangen. –
Süß muss noch zweimal den Kurfürsten einschalten, da bekommt er endlich zehn Jahre später den Kaufbrief. Halten wir kurz inne: 15 Jahre für eine schon entschiedene Rechtssache. Die Retourkutsche des schläfrigen Gerichts: Süß wird in einem Schreiben angeschmiert als „ein querulierender Jude“.
Süß zog die Konsequenz, möglichst nie mehr vor Gericht zu klagen; wenn er eine Forderung zu regeln hat, setzt er lieber nicht auf ein Gericht, man verliert Zeit, einen guten Ruf, Kreditwürdigkeit und Geld. Sein Grundsatz lautet: sich mit dem andern vergleichen, mit sonstigen Forderungen verrechnen, den Kollegen vielleicht mit in ein Geschäft nehmen.
Ein Konkurrenzkampf, mit dem Ziel, den andern möglichst zu vernichten, wie es zum Konkurrenzkapitalismus gehört, war ihm fremd. Wenn ein jüdischer Kollege in Schwierigkeiten geriet, versuchte man, ihn woanders mit einzubeziehen. Ein Ausgleich geschah durch eine Provision, deren Höhe offen sein konnte: mal ins Belieben des Partners gestellt, mal Anteile woanders.
Eine Provision verlangte Süß in Stuttgart für alles Vorschießen seiner Gelder, die er ja selbst leihen musste. Den württembergischen Patriziern, deren Horizont noch agrarisch beschränkt war und die im Land keine einzige Bank hatten, hielten eine Provision für den Ausbund jüdischer Aussaugung des ganzen Landes. Hier stießen zwei Wirtschaftswelten aufeinander, die sich nicht verstanden.
Süß versucht mit 24 Jahren sein Glück in Mannheim. Die neue Stadt arbeitet sich aus den Trümmern unter tatkräftiger Mitwirkung jüdischer Geschäftsleute heraus. Die Juden machen 12 % der Bewohner aus, doch sie bauen 25 % der Mannheimer Häuser. Die Neider schreien giftig herum, Mannheim sei bald „eine pure, lautere Judenstadt“ und nennen es das „kurpfälzische Jerusalem“ – bei 12% Juden.
Die Modernisierung verwirrt die Bürokratie wie die jüdische Orthodoxie, beide setzen auf Repression: Eine Kleiderordnung für Juden soll den modernen Geschmack unterdrücken. Jüdische Männer, Sephardim von der iberischen Halbinsel, dürfen keine spanische Mode tragen: weite, reich und bunt bestickte Kleider und Mäntel. Den Frauen sind kostbare Kleider und Mäntel aus Damast und Seide untersagt.
Nach dem Vorbild der Orthodoxie von Frankfurt und Worms werden schwarze Mäntel vorgeschrieben, wenigstens ohne Schabbesdeckel. Frauen und Mädchen dürfen an ihren Kleidern kein Gold und Silber tragen. Jede fröhliche Veranstaltung ist verboten, solange der Tempel in Jerusalem nicht aufgebaut ist, außer bei Hochzeiten.
Dann trumpfen die jüdischen Familien umso mehr auf: Sie fahren mit Kutschen durch die Stadt, feiern öffentlich mit brennenden Fackeln und Spiel, wohl mit Komödianten und Musikern, Hofnarren tanzen auf den Gassen dem Hochzeitszug voraus, die Zimmer der Hochzeitsfeier werden – wie klug – von Soldaten bewacht, das Ganze kann neun Tage dauern, prächtiger als eine gräfliche oder fürstliche Feier.
Joseph Süß hält es mit der Modernität, ist also ein ganz normaler Mannheimer Jude. Den Gegensatz zwischen Orthodoxie und modernem Leben verschärft in Stuttgart eine kleine Gruppe Frankfurter Einwanderer um den Hoffaktor Marx Nathan, auch sie macht aus dem kulturellen Unterschied einen Glaubensgegensatz.
Süß wird darunter zu leiden haben, denn die Zeugen der Anklage, durchwegs orthodoxe Juden, belasten ihn skrupellos – und lügen: Er sei bettelarm aus Mannheim gekommen, habe nirgends Kredit genossen, sei ein gottloser, schlechter Jude, bei dem jeder Rabbiner die Todesstrafe befürworten müsse. Süß selbst erfährt von diesem Verrat seiner Glaubensbrüder nie, in der Todeszelle verschweigen sie ihm ihre üble Rolle im Prozess.
Der Heidelberger Süß hat eine überlegene Strategie, sich von Einengung freizuhalten. Im Jahr 1732 hat ihn der württembergische Erbprinz Carl Alexander - ein Jahr, bevor er Herzog wird – zu seinem Privatbankier und Hof- und Kriegsfaktor gemacht. Mit seinem gewandten Auftreten bei Hof versteht Süß wichtige Personen für sich zu gewinnen. Dabei hilft ihm sein Charme, wie man ihn im ländlichen, pietistischen Württemberg nicht kennt.
Süß macht seine ersten Fortschritte in Württemberg sofort unter den Frankfurter Bankiers bekannt. Der Erbprinz will von Süß jährlich 80.000 Gulden geliehen bekommen. Süß selbst hat noch nicht einmal ein Viertel so viel Kapital. Wie sein christlicher Buchhalter später sorgenvoll sagen wird, beweist sich Süß als Spieler, er riskiert, wo keiner etwas riskieren will – und meistens gewinnt er.
Genau so risikofreudig stürzt er sich in die Stuttgarter Münzproduktion, wo er nach drei Jahren Hetze und Gefahren nur 0,7 % Gewinn macht. Er ist kein pedantischer Rechner, kein Buchhalter, kein Kleingeist, Bilanzen macht er fast nie, bei ihm ist alles im Fluss.
Der Mut und die offene Art, mit dem Landesherrn eine klare, keine höfisch verschwurbelte Sprache zu sprechen, imponieren dem neuen Herzog, einem erfolgreichen kaiserlichen General und Statthalter von Belgrad. Es wächst ein Vertrauensverhältnis heran, das bis zum Tod des Herzogs halten wird.
Süß’ offener, moderner Stil zeigt sich auch in seinen Briefen, er diktiert ein unverschachteltes, zweckrational durchdachtes Deutsch. Hier spricht ein Aufklärer mit klarem Aufbau und knapper Darstellung. Aufblähungen im Konzept werden gestrichen, lange Ausführungen gekürzt. Süß ist dem deutschen Kanzleistil unendlich überlegen.
Wie er sich in Frankfurt außerhalb des Gettos etabliert, gegen die Obstruktion des Magistrats, ist eine Meisterleistung. Er mietet im Gasthaus „Zum goldenen Schwan“ - es ist die kaiserliche Post nahe der Judengasse - ein Zimmer, damit fällt er nicht auf, er wohnt ja eigentlich noch in Mannheim. Alle paar Monate mietet er ein oder zwei weitere Zimmer dazu, selbst im Hinterhaus. Das gibt zwar keine zusammenhängende Wohnung, aber die Firma kann arbeiten.
Zum Durchbruch kommt Süß, als der Herzog ihn 1734 zum württembergischen Residenten in Frankfurt ernennt. Damit kann Süß den Kampf um die Befreiung von der Gettopflicht aufnehmen, er ist anerkannter Interessenvertreter Württembergs, Diplomat, wenn auch zweiten Ranges.
Der Magistrat wird sich an Süß die Zähne ausbeißen, der Heidelberger ist dank der Hilfe Württembergs nicht ins Getto zu zwingen.
In Frankfurt beginnt er seinen Lebensstil zu entfalten. Nach dem Vorbild von Kollegen der Judengasse sammelt er Ölbilder und Radierungen: Landschaften, Bauern, Tiere und Jagden, aber auch Fürsten.
Er versteht sich als Diener der Regenten, mit altmodischen, kleinkarierten Bürgern kann er zu nichts kommen. Seine Zimmer müssen mit diesen Bildern tapeziert gewesen sein, bei seinem Tod fanden sich in seiner Frankfurter Wohnung 149 Ölbilder. Nur zwei davon zeigen ein jüdisches Thema, zwei andere heißen „nackete Bilder“, auf einem andern peitscht ein Mönch eine Nonne aus. In Stuttgart umfasst seine Bildersammlung 4256 Kupferstiche: viele Kaiser, Fürsten und eine Menge Theologen.
Für seine Bibliothek, die in Süddeutschland einmalig ist, interessieren ihn vor allem Aufklärungsphilosophen. Zwei Deutsche stechen hervor: der Sachse Samuel Pufendorf, der nur in Schweden etwas werden konnte und in Verbindung mit Spinoza in den Niederlanden kam, und der Leipziger Christian Thomasius.
Aus den Hauptgedanken dieser Philosophen gewinnt Süß seine politische Grundüberzeugung: Abschüttelung der Theologie durch ein aufgeklärtes Rechtsdenken, Schwerpunkt auf dem Recht, nicht auf der Moral, zentrales Gewicht auf der individuellen Gewissens- und Denkfreiheit, im ganzen Deutschen Reich habe Toleranz zu herrschen, die Folter lehnt Süß kategorisch ab, was er der württembergischen Geheimjustiz immer wieder vorhalten wird, Verwaltungs- und Finanzwesen seien wissenschaftlich zu betreiben.
In Mannheim musste er sich noch als Jude ansprechen lassen, in Frankfurt war das vorüber, er wohnte nicht mehr unter ihnen. In Stuttgart verbat er sich strikt, als Jude tituliert zu werden. Er hielt, wie wir gesehen haben, nichts von den Vorschriften der Rabbiner, die traditionelle jüdische Kleidung hat er wohl nur in der Kindheit getragen, anders seine konventionelle Mutter. Und er sprach nicht von Gojim.
Was war sein Glaube? War er überhaupt noch Jude? Für ihn war das keine Frage, er lebte so, wie er sich die Freiheit nehmen konnte. Sein Glaube wird erstmals zum Problem, freilich einem kleinen, als er in der Stuttgarter Zeit an eine Heirat denkt.
Die Erwählte war eine aus Portugal stammende Jüdin, jetzt vermögend in England lebend. Sie zählte zu den Maranen, darunter verstand man Juden der iberischen Halbinsel, die von der spanischen Inquisition vor die Alternative gestellt worden waren: Taufe oder Tod. Wer sich weigerte, musste flüchten. Die im Land bleiben wollten, unterwarfen sich, aber nur zum Schein.
Die Familien beharrten innerlich bei ihrem jüdischen Glauben, den sie im Geheimen weiterhin praktizierten. Die Inquisition fand Spitzel, die am Sabbat an den Häusern entlang schlichen. Die sich zum Schein unterworfen hatten, hießen in der katholischen Kultur MARANOS, Schweine, oder auch CONVERSOS.
Ihre erzwungene Niederlage, ihre Treue über Generationen hinweg, ihre prekäre Stellung zwischen den Religionen, ihr schlechtes Gewissen, ihre ständige Angst, erwischt zu werden, und die Ketzerbrände vor Augen – das alles machte sie zu scharfsinnigen, geistig überlegenen Menschen.
Diese portugiesische Engländerin wollte nur einen Mann von Adel. Süß hätte vom Kaiser geadelt werden müssen, aber der Kaiserhof behauptete, ein Jude sei im Deutschen Reich noch nie in den Adelsstand erhoben worden. Aus Wien hörte er, falls er konvertiere, könne er sofort geadelt werden. Diese Nähe der innersten Überzeugung zur Käuflichkeit war ihm zuwider. Er antwortete, er sei mit seiner Religion zufrieden, trotz mancher Beschränkung habe er als Jude bis jetzt „in ziemlicher Freiheit“ gelebt (S. 241).
Süß war Pragmatiker und befand sich erfolgreich in jüdischen und anderen Geschäftsbeziehungen. In Sachen Religion ließ er sich nicht bevormunden, er war Freidenker und Aufklärer, wenn auch ein jüdischer.
Anders reagierte sein Inneres, sobald er drangsaliert wurde und andere Juden in Gefahr sah. Unter Druck entwickelte sich etwas in ihm, was ich seine geheime jüdische Identität nennen möchte. Als jüdische Händler zu ihm nach Stuttgart kamen, die nicht so viel Macht und Ansehen genossen wie er, wuchs er in die Stellung des jüdischen Schtadlans hinein, des Judenschultheißen.
In seinem Haus richtete er eine koschere Küche ein. Gerne und energisch vertrat er die kleine jüdische Kollegengruppe gegen Gewaltmaßnahmen. Wenn ein jüdischer Händler ins Gefängnis flog und in Kürze verarmt wäre, half er ihm heraus.
Als Süß zum ersten Mal nach Württemberg kam, traf er den Hoffaktor Wolff Gabriel Levin aus Fürth im Gefängnis an. Ohne Süß’ Hilfe wäre der schwerkranke Mann in der Haft gestorben. Für solche Hilfestellungen hat Süß wenig Dank gesehen, er tat es selbstverständlich. So etwas wird rasch vergessen.
Am stärksten berührt mich der Fall des Juden Mayer in Berlichingen an der Jagst. Wegen einer Geldstreitigkeit war der arme Schlucker im württembergischen Künzelsau vom Vogt auf die Folter gelegt worden. In dieser hoffnungslosen Lage starb seine Frau. Als der Gefangene nach anderthalb Jahren herauskam, waren durch die Folter seine bisher gesunden Glieder zerschlagen, er konnte nicht mehr gehen und nicht mal mehr vor den Türen der Nachbarn Brot zusammenbetteln, für seine vier kleinen Kinder und für sich.
Süß war machtlos, aber wenigstens warf er dieses Schreiben nicht weg.
Wenige Wochen vor dem Tod des württembergischen Herzogs sah er sich am Hof in die Ecke gedrängt, nun wollte er einmal dem Herzog sein Herz ausschütten. Dem toleranten katholischen Herrscher, den die evangelischen Regierungsräte genauso verabscheuten wie den Juden, offenbarte er die Grundsätze seiner Religion. „Die sicherste und beste Religion“ sei „den höchsten Beherrscher Himmels und der Erde fürchten und lieben“, den Herzog „verehren, meinem Nächsten gern, ohne auf Geld und Gut zu sehen, dienen.“ (S. 399)
Als man ihn in der Haft immer stärker bedrängte, zum Christentum überzutreten, formulierte er eine Entschlossenheit, die dem Land und der Zeit unendlich weit voraus war: Auch wenn man mich zum Kaiser von Wien oder zum Papst von Rom machen würde, so stünde es mir als einem Gefangenen doch nicht an, den Glauben zu wechseln.
Wann kehrte Süß seine geheime jüdische Identität offen hervor? Das geschah just am ersten Tag seiner Haft auf der Festung Hohenneuffen.
Schlagartig weigert sich, anders als koscher zu essen. Wer hier nur auf die Religion achtet und nicht ebenso auf die politische Selbstbehauptung des Gefangenen, kommt zum Kurzschluss: Aha, der Süß wird erst wieder Jude, wenn er nicht anders kann und wenn’s um das Leben geht. –
Mitnichten. In der Festungshaft muss er jeden Tag befürchten, mit dem Essen vergiftet zu werden. Deshalb wollte er die Zubereitung der Speisen vor seinen Augen kontrollieren. Und er verlangte einen jüdischen Koch. Vom eifrigen Beten und religiösen Klagen zu Gott melden die Untersuchungsrichter, Wächter und Protokolle nichts.
Je bedrohlicher die Haft im Laufe der Monate wird, desto mehr wendet sich Süß der jüdischen Askese zu. Er ernährt sich nur noch mit ganz wenig und nur koscher: mit Tee, Eier und Brot. Einen koscheren Koch verweigert man ihm auf dem Hohenasperg. Oft fastet er zwei bis drei Tage ohne Unterbrechung. Am Ende des monatelangen, schleichenden Hungerstreiks ist er spindeldürr, der Kommandant befürchtet, Süß könne ihm noch vor dem Galgen sterben.
Als in der Todeszelle ein evangelischer Pfarrer nach dem andern Süß bedrängt, sucht er sie mit dem jüdischen Glaubensbekenntnis Schma Jisrael in die Flucht zu schlagen. Er lässt sich auf keine theologischen Diskussionen mehr ein, während er als freier Mensch gerne mit zwei Kapuzinern diskutierte, solange sie als Beichtväter des Herzogs Gäste an seiner Tafel waren.
Die Messiasfrage ist ihm im Gefängnis egal, er bleibt beim Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Je länger er fastet und je mehr er gegen den Justizmord kämpft, desto stärker wird er. Je härter die Haft, desto machtvoller widersteht der total abgemagerte Todeskandidat, von Resignation und Flucht in die Religion keine Spur.
Worin lag seine geheime Widerstandskraft? Ich denke, sie kommt nur zum Teil aus seinem jüdischen Glauben. Herausgefordert und bestärkt empfindet sich Süß durch das Bewusstsein, zu Unrecht sterben zu müssen. Es ist die Angst jedes Juden, mit seiner Ermordung werde in der Stadt ein Pogrom ausbrechen, deshalb müsse dieser Tod unbedingt verhindert werden.
In keiner Phase seiner letzten Zeit ist Süß nur religiös, ist er nur Märtyrer, er fragt jeden, der zu ihm in die Todeszelle kommt, ob dieser ihm auch nur einen einzigen Grund nennen könne, der den Galgen rechtfertige. Keiner weiß einen.
Damit ahnt er die Ratlosigkeit des Kriminalgerichts, das ohne einen juristischen Grund das Todesurteil fällt. Dass er von seinen Richtern zu Unrecht umgebracht werde, will er alle jüdischen Gemeinden Deutschlands wissen lassen, mit einer hebräischen Memorschrift.
Bis zuletzt bleibt er ein um seine Freiheit kämpfender politischer Mensch, er verlangt tief greifende Änderungen des Gerichtsverfahrens, damit nicht weiterhin voreingenommene, abhängig gehaltene Richter Unrecht sprechen.
Gegen den Morddrang der Justiz gestaltet er seinen Abgang als orthodoxer Jude, die zehn Gebote mit einem schwarzen Tuch an die Stirn gebunden.
Quelle: Hellmut G. Haasis: Joseph Süß Oppenheimer, genannt Jud Süß. Finanzier, Freidenker, Justizopfer. Rowohlt, 1. Aufl. 1998.
Schächter, Salomon: Relation von dem Tod des Joseph Süß seel. Gedächtnus. Fürth/Stuttgart 1738. Einst verlegt von Mardochai Schloß alias Marx Nathan. Mit hebräischen Lettern gedruckt von Chajim ben Zvi Hirsch in Fürth. Mit einer Originalradierung von Angela Laich, einem Judenstern der Nazizeit und einer erklärenden Beilage hg. von Hellmut G. Haasis. Bibliophile Ausgabe, Bleisatz, 100 Mappen, signiert, nummeriert, DIN A 4, 15 Blätter. Paris-Strasbourg-Basel-Reutlingen-Praha. Freiheitsbaum 1994.