haasis:wortgeburten

Missgriff auf Kosten des „Jud Süß“
Joshua Sobol: Der Kaufmann von Stuttgart.
Uraufführung in Stuttgart, Altes Schauspielhaus (Mai 2013)
Besprechung von Hellmut G. Haasis

Respekt. Seit seinem fünfzehnten Lebensjahr (1954) schlägt sich der israelische Theaterautor Joshua Sobol mit dem ermordeten Joseph Süß Oppenheimer herum. Ein in Stuttgart bisher verschlafener Mord. Je unklarer, desto besser für die Vermarktung. Und nur noch darum geht es der Medienindustrie.

Gehenkt worden war der Heidelberger Finanzberater und Händler auf dem Stuttgarter GALGENBUCKEL, im Jahr 1738. Sechs Jahre lang blieb seine Leiche hängen, ein im Wind klapperndes Skelett, hoch droben in einem Käfig.

Die Verkündung des Todesurteils über Joseph Süß Oppenheimer am 4. Februar 1738 im Herrenhaus, oberem Saal, auf dem Stuttgarter Marktplatz.

Für jeden Passanten an der Straße nach Ludwigsburg eine unmissverständliche Ankündigung, was man in diesem Land erwarten musste, falls man sich gegen die patrizischen Kreise stellte. Nicht nur Juden, auch Vaganten, Hausierer und sonstige Abweichler.

Es reichte für viele. Zehn Prozent der Leute lebten sowieso auf der Straße, in den Wäldern, in Verstecken, auf der Flucht.

Erst Carl Eugen, der nächste Herzog, griff 1744 durch. In seiner ersten Amtshandlung befahl er, das Schreckgespenst des Judenhasses am Fuße des Galgens zu verscharren. Die Regierungsräte und Patrizier (Ehrbarkeit) sahen das nicht gerne.

Seitdem schreibt es sich flott gegen den toten Juden, stets in geerbter Abneigung.

In der epochalen Erzählung des Stuttgarter Märchendichters Wilhelm Hauff „Jud Süß“ (1827) schlug der alte Hass wieder einmal durch – und siegte auf der ganzen Länge, bis heute.

Warum und von wem Süß gehenkt worden war, ist in Württemberg bis heute so klar wie ein Nebeltag auf der Schwäbischen Alb.

Herrlich anzusehen, dieser Tote, zwölf Meter über dem Talkessel. Am höchsten Galgen des Deutschen Reiches, worauf die Stuttgarter stolz waren.

So hätte es bleiben können. Doch da schlug der Roman „Jud Süß“ (1925) von Lion Feuchtwanger ein. Nach Verlagsangaben angeblich in drei Millionen Exemplaren verkauft, inklusiv Übersetzungen.

Wer’s glaubt, kann der nächste Papst werden.

Von nun an war das Thema nicht mehr tot zu kriegen.

Der nächste Schritt im MEDIENZIRKUS: der Nazifilm „Jud Süß“ von Veit Harlan (1940). Die Herrenmenschen lockten 22 Millionen Gaffer ins Kino, mindestens genauso viele in die übersetzten Fassungen in allen Ländern, die von deutschen Armeen geknechtet wurden.

Der größte finanzielle Erfolg von Goebbels Filmwirtschaft. Den aktuellen Wirtschaftsleuten ein gutes Vorbild, was sich alles lohnen kann.

Dieser „Jud Süß“-Film macht heute im nachwirkenden NS-Kulturerbe noch immer den lebendigsten Teil aus. Eine tödliche Geschichtsfälschung, die den nachgeborenen Generationen im Magen liegen bleibt.

Öffentlich darf das LÜGENWERK nicht gezeigt werden, nötig ist eine geschlossene Sonderveranstaltung mit wissenschaftlicher Einführung. Welcher Filmfan will sich das antun?

Mit all seinen Hintergründen, Akteuren und brachialen Rechtsbrüchen lässt sich der Justizmord von 1738 erst seit 1998 verstehen: dank einer Biografie, die sich erstmals komplett durch die 30.000 Seiten Gerichtsakten hindurch gefressen hat:
Hellmut G. Haasis: Joseph Süß Oppenheimer, genannt Jud Süß. Finanzier, Freidenker, Justizopfer. 479 Seiten.

Von dieser Wissensfülle ist auf den Theaterbühnen auch nach 14 Jahren nichts angekommen. Beherrschen eigentlich Analphabeten die Theaterwelt? Im Gegensatz zum Publikum, das unermüdlich Fragen nach dem Ermordeten stellt, wollen die Dramatiker nicht wissen, was wirklich geschah.

Sei alles bloß Geschichte, kalter Kaffee, im besten Fall Mythos. An historischer Wahrheit sei nichts zu verdienen, sagen die Herren mit der Kasse im Hirn.

Was die Theatermacher brauchen, ist eine fetzige Story, günstig für den Ruhm, einen Mord zelebriert zu haben, ohne etwas davon zu verstehen. Bildung? Historische Aufarbeitung? Da lachen die Zyniker der Medien. Alles nur Lüge, egal wie und warum und von wem.

Joshua Sobol erhielt 2009 vom Fernsehregisseur Dieter Wedel den Auftrag, bei den Nibelungenfestspielen in Worms den hingerichteten Juden zu präsentieren.

Ein geschickter Schachzug, einen Israeli zu beauftragen. Ein wohlmeinender Schutzschild. Jude: ja, aber kein deutscher. Israeli: gut, aber keiner mit historischen Kenntnissen oder gar Ambitionen in solch abwegiger Richtung.

Wäre geschäftsschädigend, das Publikum bliebe aus, glaubte Wedel.

Bekannt ist Joshua Sobol als schneller Schreiber. Nach wenigen Wochen lieferte er für Worms eine durch und durch israelische Fassung. Der Staat Israel als die einzige progressive Kraft im Nahen Osten, die auf die antisemitische Gegenwehr der palästinensisch-arabischen Umgebung stoße. Israelischer Fortschritt gegen arabische spätfeudale Reaktion.

Sobol lieferte einen nationalen israelischen Schulterschluss. Wer in diesem Zusammenhang etwa einen Bombenhagel auf Gaza nicht für vertretbar oder wünschenswert hält, hört schnell die Totschlagparole „Antisemit“.

Davon kann Felicia Langer (geb. 1930) in Tübingen ein Lied singen, kein Klagelied, sondern voller Empörung.

Warum die Kriege im Vorderen Orient ausgerechnet der Heidelberger Jude Süß und schon im Jahr 1738 büßen musste, wird wohl für immer in Sobols Herz versenkt bleiben.

Dieter Wedel, auf die Sensationsgeilheit des Fernsehpublikums abonniert, verlangte von Sobol mehrfach Überarbeitungen. Nach der vierten griff Wedel durch und schrieb selbst ein neues Stück, das im Sommer 2011 herauskam.

Auf den Plakaten erschien Dieter Wedel als Mitautor, an zweiter Position, nach der Umarbeitung 2012 sah sich Sobol auf den zweiten Rang verdrängt.

Dem Thema Mord an Süß haben alle Bearbeitungen nicht gut getan. Das Justizgeschehen wurde nie verständlich, aber das interessierte die Festspielleitung ja auch nicht. Im Vorfeld hatten die Theatermacher meine Biographie bekommen, samt ähnlichem historisch gesichertem, neuem Material.

Für die Katz: ein Schlag ins Wasser.

Beim Kontakt mit dem Dramaturgen bekam ich eingeschenkt: Die Problematik des Rechts, des gebrochenen damaligen Rechts, die rechtlichen Verwickelungen des ganzen Justizmordes, die differenzierten Motive der Mordrichter, all das müsse ausgeklammert bleiben.

Interessiere das Publikum nicht, VIEL ZU SCHWIERIG.

Damit verlor das Geschehen seine reale Verankerung bei den damals herrschenden Politikern. Feine Ausflucht. Gute Entschuldigung für die Mörder.

2012 schritt Wedel auf diesem Irrweg weiter. Herausgekommen ist wohl ein antinazistisches Stück, aber auch ein Hassstück. Das Nazireich wurde mit ins Boot vor dem Wormser Dom geholt.

Um den Fernsehgeschmack zu bedienen, stemmte sich Süß auf der Bühne gegen einen von Wedel selbst gebastelten Nazifilm. Musste das sein?

Eine mordsüchtige Nazibande agiert auf einem Filmstreifen neben dem Stück. Man hätte glauben können, es handle sich um den damaligen Stuttgarter Judenhass, nach dem Motto:

DAS VOLK STEHT AUF.

Hier begegnen wir einem alten Versatzstück des deutschen Antisemitismus, wie es Lion Feuchtwanger zum Nazi Veit Harlan weiter gegeben hat.

Es rächt sich, wenn die Theaterleute die Geschichte nicht studieren, sondern nur von anderen Schauerstücken abschreiben. Die „Jud Süß“-Verarbeitung ist eine endlose Geschichte von denkfaulen, bequemen, geschichtsfernen ABSCHREIBERN. Damit kann man in dieser Branche offenbar weit kommen.

Der parallele Nazifilm schlägt über den Zuschauern zusammen mit einer Aufdringlichkeit, wie sie dem Medium Film eigen ist. Süß erscheint bei jeder Filmszene als schon todgeweiht. Die Zuschauer wissen schon lange, worauf alles hinausläuft. Ohne Spannung, Überraschung, aufklärende Lösungschancen haben wir schnell ein triviales Stück vor uns.

Keine Filmszene ließ sich mit dem Theatergeschehen auf der Bühne verbinden. Eine zweite Ebene zusätzlich, wo schon die erste nicht zu fassen war.

Wedel missachtete einen uralten Grundsatz, dass bei der Konkurrenz von zwei Darbietungsebenen „Wort gegen Bild“ diejenige mit dem Wort verliert, hier also das Theaterstück. Es siegt immer das Bild, hier der Nazischmarrn.

Endlich hat Sobol in Stuttgart 2013 die Chance bekommen, seinen Süß ohne Einmischung vorzustellen. Am Anfang schwebt der Käfig in der Höhe, hinter dem Vorhang durchschimmernd. Das unentbehrliche Markenzeichen des Ermordeten. Damit ist das Ende schon vorweggenommen. Dramaturgisch eine Todsünde.

Folkloristisch geht’s weiter. Klezmer mit Klarinette, eine Tanzgruppe. Wo Klezmer ertönt, scheint’s jüdisch zu werden, automatisch. Wir hören Jiddisch, was der historische Süß absolut vermied, er wollte ein moderner Geschäftsmann sein, nicht reduzierbar auf seine Herkunft. Als Erwachsener trug er NIE EINE KIPPA. Vom koscheren Essen und Trinken hielt er schon lange nichts mehr. Dennoch bot er seinen ausnahmslos noch orthodoxen jüdischen Geschäftskollegen in seinem Haus zusätzlich eine koschere Küche.

Zum Beginn des Stücks hat Süß soeben in Mannheim, seiner ältesten Geschäftszentrale, eine Niederlage erlitten. Er hat zwar vom Kurfürsten der Pfalz für diesen Staat das Stempelpapier gepachtet, das von jetzt an alle Bürger bei den Behörden für Urkunden verwenden müssten. Aber alle boykottieren es, auch die Gerichte und herrschaftlichen Behörden. Und da jammern unsere eiligen Historiker vom ABSOLUTISMUS in Deutschland. Wenn man genau hinschaut, bleibt da oft nicht viel übrig übrig, vor lauter bürgerlich-behördlicher SCHLAMPEREI.

Soeben hat also Süß vor dem Mannheimer Gericht verloren, die Ungehorsamen bekommen Recht - angeblich. 800 Gulden habe es den Süß gekostet. Wie viel das wert ist, erfahren wir nicht. - Für 1.000 Gulden baute man in Mannheim ein neues Haus.

Und der Pächter Süß bekommt jetzt sein dem Landesherrn vorgeschossenes Geld für das amtliche Stempelpapier nicht ersetzt.

Hier bediente sich Sobol meiner Biografie, ohne die eigentliche Bedeutung der Mannheimer Erfahrung zu verarbeiten. Süß lernte nämlich durch die Obstruktion sowohl der staatlichen Behörden als auch der Bürgerschaft, dass er nur gestützt auf einen Landesherrn wirtschaftlichen Erfolg haben konnte.

Diese Lehre wird er in Stuttgart beherzigen. (meine Biographie S. 51ff)

Ausgerechnet diese Niederlage will Süß feiern, gar mit jüdischer Kultur? Komisch. Süß zieht bei Sobol aus der Schlappe nur den Schluss, er solle halt nicht mehr geldgierig sein.

Blech. Da klingt bereits Feuchtwanger an, der uns ins Dunkel hinunterziehen wird. Mit moralinsaurem Zeigefinger.

Was für eine platte Dramaturgie.

Süß kommt mit dem neuen Herzog Karl Alexander, dem er bereits als Erbprinzen 80.000 Gulden leiht, an die Macht. Er will des Herzogs Ratgeber werden, die öffentlichen Angelegenheiten prägen, einen „besseren Staat“ schaffen. Die Moral verbessern.

Ein reichlich naive Vorstellung von einem Finanzbeschaffer. Ob Sobol diesen erfundenen Süß wirklich selbst glaubt? Er lässt Süß träumen, am Profit überhaupt nicht interessiert zu sein. Was für ein Gutmensch.

Soll diese märchenhafte Gestalt womöglich die Finanzwelt zu einer moralischen Welt machen? Man will’s kaum glauben. Die Dialoge stolpern bei Sobol so platt über die Bühne, dass schon von Anfang an nichts glaubwürdig ist.

Hier spricht kein Finanzier, eher ein Religionseiferer. Von dieser Sorte haben wir heute wirklich genug, weltweit und in allen Schattierungen religiöser Verirrungen.

„Ein Laster“ hat er wenigstens, dieser Moralapostel: die Frauen. Die Dramaturgie freut sich, das Publikum kann auf Klatschniveau rechnen. Die Boulevard-Leser fühlen sich heimisch.

Der historische Süß war weit davon entfernt: viel zu isoliert, nach keinem Liebeserlebnis zufrieden, ständig weiter hetzend, überall ausgeschlossen, besonders von der Frauenwelt.

Mit dem wirklichen Süß hätte man auf der Bühne keinen erotischen Blumentopf ernten können, also wird in Sachen Liebe ein Abziehbildchen ausgeschnitten und an die Bühnenwände geklebt.

Zu Süß’ Kontrahent wird der Baron Röder, bei Veit Harlan ein kreuzbraver, knochentrockener Patriot, bei Sobol Repräsentant der Hofwelt. Er spricht Süß direkt als „Jude“ an. Im historischen Stuttgart hätte er sich das nicht getraut. Süß hatte es sich verbeten, so tituliert zu werden. Religionsdinge wollte er auch dem geschäftlichen Alltag draußen halten.

Sobol dürfte so was in meiner Biografie gelesen haben. Schwamm drüber. Wer das Theater beleben will, darf drüber hinaus lügen, bis die Bretter sich biegen. Es ist ja eh egal, mit was für einem neuen Vorurteil die Zuschauer nach Hause gehen.

Diesem Röder nun will Süß weismachen, er gebe dem Herzog Kredit zum Wohl des Landes. Er verpfändet sein Vermögen. Warum? „Eigene Dummheit“, meint Süß. Und schiebt noch naiver nach: Er glaube, der Herzog wolle „das Land reformieren“.

Hören wir so nicht Pressesprecher jeder Regierung? Und schütteln uns: Lügenpack.

Zum Trost begegnen wir einer weiteren modernen Plattitüde, wie die Gazetten sie uns einbläuen: Alle Finanziers seien Betrüger. Das Publikum freut’s.

Hier gab’s den einzigen Szenenapplaus des ansonsten wenig ankommenden Stückes. - Morgen wählt man ja wieder die bekannten Parteien in die Parlamente.

Der Israeli Sobol beschreitet selbst bei der Nachforschung nach Süß’ Herkunft eine alte falsche Fährte, das scheint bei seinem übel meinenden Ansatz unvermeidlich zu sein.

Ein Ausfall, um die jüdische Familie Süß zu demütigen. Der Heidelberger Finanzier sei gar kein richtiger Jude, sein Vater vielmehr der katholische General Heydersdorff, der vor den französischen Truppen die Stadt schändlich preisgab.

Diesen Unsinn verzapften einst die Heidelberger, um mit der Mutter die ganze Familie anzuschmieren. Sobol hätte wissen können, welches trübes Spiel er hier treibt. Der General war zur Zeit des behaupteten Abenteuers bereits seit Jahren im Gefängnis. Und Süß’ Mutter außerdem viel zu jung, bei der Schwängerung wäre sie erst zwölf Jahre alt gewesen, ein sexuell unreifes Mädchen (Biografie S. 17/18).

Ihre Schwängerung hätte zudem einen lebenslangen Makel dargestellt. Davon hätten wir aus anderen, besseren Quellen gehört. Und eine angesehene Ehe völlig unmöglich. Sobols Rumschnüffeln in der Herkunft des Süß ist Unfug mit böser Absicht.

Um Württembergs Finanzen zu verbessern, schlägt Sobol wie ein heutiger Finanzminister ein allgemeines Steuersystem vor, ohne Privilegien für die höheren Kreise.

Sobol weiß, dass er hier wild flunkert.

Es tut einer schwer verleumdeten historischen Persönlichkeit auf der Bühne nicht gut, wenn sie nach dem Horizont heutiger Sensationsjournalisten zugeschnitten wird.

Dem Herzog rutscht mal geschwind sein Antisemitismus heraus, auch das ist historisch nicht belegt: Er wolle keine Gelegenheit hinausgehen lassen, um einen Juden aus der Welt zu schaffen.

Glaubt Sobol, mit solchen Erfindungen das Problem des deutschen Antisemitismus angemessen zu beschreiben?

Auch die einzige Frau, mit der Süß ein halbes Jahr gut, man kann sagen, glücklich zusammen gelebt hat, die Luciana Fischer, wird von Sobol verunstaltet. Aus der gebildeten, tüchtigen Tochter eines pfälzischen Regierungsrats macht er absichtlich eine einfache Bedienung in einer Schwankwirtschaft.

Das Liebesverhältnis Luciana-Joseph bleibt papieren, wie die meisten Dialoge in diesem unglücklichen Theaterstück.

Für die zweite Wormser Fassung erfanden die beiden Autoren Großgrundbesitzer im alten Württemberg. Unfug. Im kleinwirtschaftlichen herzoglich-evangelischen Württemberg gab es auf Grund der REALTEILUNG des Besitzes schon lange keine großen Höfe mehr.

Sobol weiß das, ich hatte es den Herren auch gesagt. Sie halten den Einwand, ihre Figuren seien historisch unglaubwürdig, wahrscheinlich für die Skrupel eines kleinlichen Historikers.

Lucie, eigentlich Luciana Fischer, betet naiv das Steuerprogramm des Süß nach. Das Stück verkommt mehr und mehr zum Deklamationstheater. Die Figuren stehen häufig unbeschäftigt herum, was durch die kleine Bühne unterstützt wird. Lucie: Nur der Jud könne das Land ändern. Durch ein neues Steuersystem, wiederholt Süß. Flaches Zeitungsniveau.

Es kommt noch die Gräfin von Grävenitz ins Spiel, die Geliebte des vorherigen Herzogs Eberhard Ludwig. Auch sie darf zum Kaffeeklatsch beisteuern: Süß sei „ein Künstler bei den Frauen“.

Wär’ er gern gewesen, aber man ließ ihn nicht. Ein Jude war als erotische Figur tabu. Eine Frau, die sich mit ihm einließ, war unten durch. Bei Hof und in besseren Kreisen hatte Süß nie Chancen. Das wusste er. Auch sonst hatte er in ganz Stuttgart keinen einzigen Freund.

Im Gegenzug will Süß vom Herzog, dass die Judensteuer abgeschafft wird. Mit solchen Gesprächen bekommt man nur Zeitungsgeraschel, kein lebendiges Theater.

Sobol mag gespürt haben, dass er auf diesem Niveau keine echten Persönlichkeiten schafft, kein Verständnis für die Entstehung und Pflege des deutschen Antisemitismus. Entschieden flüchtet er in die Globalfinanzpolitik. Es gehe im Staat doch nur um das Transportwesen, den Handel. Die Welt sei „ein einziger Marktplatz“. Süß wolle Kapital investieren gegen die Restriktionen auf dem Markt.

Wir sumpfen im ideologischen Gewäsch der Globalisierung herum. Lächerlich, für diese Substanzlosigkeit so viele Personen und ein Theaterhaus zu bemühen.

Süß gibt sich modern, über die Wirtschaftsliberalen hinaus. Bei Sobol blitzt der gemäßigte Sozialdemokrat durch. Nötig sei eine Steuerprogression, die übrigens erst 1848 aufs Tapet kam. Was Sobol da bietet, ist ein wirrer Haufen angelernter Parolen, zu keiner Epoche passend.

Wieder und wieder posaunt Süß hinaus, er wolle „das Wohl des Landes fördern“. Immer dieselben Parolen, gestanztes Wortgeklingel. Sobol versteht nicht, solche Gedanken aus einer Konfrontation aufzubauen.

Es ist zum Schnarchen.

Die Fahrt von Joseph Süß Oppenheimer am 4. Februar 1738 zum Galgenbuckel hinauf, rechts oben zu sehen. Süß in der Mitte auf dem einachsigen Karren, in dem gewöhnlich die Tierkadaver auf den Schindanger gefahren wurden.

Während Süß so die Bühne mit seinen Sprechblasen füllt, bleibt der Herzog schwach. Süß dagegen wird ein immer gewaltiger aufgeblasener Luftballon: Er wolle das Land „in die Zukunft katapultieren“.

Dieses Gewäsch haben die vom Finanzkapitalismus gebeutelten Völker heute satt. Warum nochmals abends auf der Bühne hören? Wegen solchen Zeitungsgeschwafels braucht man nicht ins Theater zu gehen.

Die engbrüstige Aktualisierung transportiert ein altes Vorurteil, Süß sei in Württemberg doch nur Gast, er habe kein Recht, in die Steuerpolitik einzugreifen. Hat er ja auch nie getan.

Und er solle „die Tradition des Landes respektieren“. Wenn es ihm nicht passe, solle er gehen.

Ach ja, es ist immer anschaulich, aber nicht lustig, sich auf das Niveau der Stammtische zu begeben.

Um dem Herzog, angeblich für den Krieg, Geld zu beschaffen, verlangt Süß das Münzmonopol. Sobol hätte in meiner Biographie besser lesen soll. Ein Finanzberater konnte nie dieses Monopol bekommen, das blieb immer beim Landesherrn, überall im Deutschen Reich.

Irgendwie scheinen heimlich neue Steuern beschlossen worden zu sein. Über Nacht? Wie und von wem, bleibt neblig. Der Untertan, der Bauer Demmler, sei auf einmal verpflichtet, die neuen Steuern seines Großgrundbesitzers zu bezahlen. ???

Mager die antisemitische Predigt eines evangelischen Pfarrers. Die Juden sollen enteignet werden. Nur? Hatte Luther nicht weit mehr gepredigt?

Kennt Sobol den vehementen Judenhass Martin Luthers nicht? Selbst diese Chance lässt sich Sobol hinausgehen. Ein Jammer.

Luthers Hassgedanken wurden von den Nazis begierig nachgedruckt, massenhaft. Die evangelische Kirche hat sich nach dem Krieg in Schweigen gehüllt, auch bei diesen Peinlichkeiten.

Als durch die neue Steuerpolitik Hass über Süß zusammenschlägt, lässt Sobol ihn einfach den jüdischen Glauben verleugnen. Billige Lösung und GROTTENFALSCH.

Der wirkliche Süß von Stuttgart und Heidelberg war einer unserer ERSTEN AUFKLÄRER in Deutschland, besaß die einzige Aufklärungsbibliothek in Süddeutschland. Er hatte im Geschäftsleben die Religion eines vernünftigen, zuverlässigen und loyalen Geschäftsmanns. Er war nicht Atheist, wie Sobol mit seiner Begabung für Verfälschungen meint. Joseph Süß ist DER ERSTE TOLERANTE AUFKLÄRER, der keiner Religion eine besondere Vorliebe entgegen bringt, solange er in Freiheit lebt. Solange……!

Sobol dürfte gelesen haben, dass Süß trotz der zunehmenden Gefährdungen in der brutalen Haft lieber die Religion seiner Vorfahren vorzog. Schon früher hatte ihm der kaiserliche Hof in Wien zur Kirche herüberziehen wollen: Wenn er übertrete, könne er in den ADELSSTAND erhoben werden.

Süß fühlte sich bei seinem jüdischen Glauben durchaus wohl, er hatte überall gut damit gelebt. Warum muss Sobol auch diesen Charakterzug verhunzen?

Damit verfehlt Sobol sogar eine jüdische Reaktion unter dem Faschismus, als Juden unter dem NS-Terror und spätestens in den Todeslagern es vorzogen, sich offen zu ihrer Herkunft zu bekennen.

Angesichts der angeblich zunehmenden Kampagne im Land gegen Süß soll die württembergische jüdische Gemeinde dem Süß geraten haben, sich von der Politik zurückzuziehen.

Sobol patscht wieder daneben. In Württemberg gab es keine Gemeinde, seit 1496 nicht. In Stuttgart lebte 1737 als der einzige genehmigte Jude der Hoffaktor Marx Nathan, zusammen mit dem Personal seiner Handelsfirma.

Eine handlungsfähige Gemeinde ist das nicht, eher ein kleines Häufchen von Verängstigten, die jeden Tag mit einem Pogrom rechnen mussten. Der staatliche Schutz war in Württemberg kümmerlich.

PAUSE

Danach singt Süß mit Lucie ein Liebeslied, jiddisch. Das Problem der Münzfälschung hat Sobol nicht verstanden, obwohl hier ein großes Kapitel bei mir zu finden ist (S. 126-151). Zuerst schreibt Sobol richtig bei mir ab, der Geheimrat Georgii werfe Süß den minimal geringeren Goldgehalt der Münzen vor: „Hochverrat!“

Süß: Das rühre von den gestiegenen Preisen für das Edelmetall her, bedingt durch den Krieg. Das Land müsse mehr Geld prägen, um die hohen Kriegskosten zu bestreiten, behauptet Sobol.

Tatsächlich zahlte im Reichskrieg gegen Frankreich die kaiserliche Kasse die Kriegskosten, nicht Württemberg. Süß konnte bei gestiegenen Metallkosten seine extrem hohe Münzpacht für den Herzog nicht mehr erwirtschaften, außer er senkte den Edelmetallgehalt. Was übrigens damals auch andere deutsche Münzstätten machten.

Süß gibt wieder ein Fest, den jüdischen Karneval. Leider kommt auch hier kein Schwung auf die Bühne. Steifes Deklamationstheater, ein müder Haufen auf der Bühne. Fast so spannend wie Tipp-Kick, Tischfußball.

Die im Stück funktionslose 14jährige Magda übernimmt reichlich unglaubwürdig die Rolle des persischen Judenhassers Haman im Exil, der erlaubte, dass Juden ermordet und ausgeplündert werden durften. Von Fasching ist in dieser zähen Szene nichts zu spüren.

Die Großgrundbesitzer und Patrizier erkennen, dass Süß den Herzog völlig unter Kontrolle hat. Hier drückt erneut der antisemitische Roman „Jud Süß“ von Feuchtwanger durch. Der fast unmündig gehaltene Herzog soll endlich gestürzt werden.

Das hätten die biederen Württemberger nicht mal zu denken gewagt, sie waren keine frühen Jakobiner. Paris ist woanders und zwei Generationen später. Armer Sobol.

Den Süß, angeblich der zweitwichtigste Mann in Württemberg – oder nicht doch der wichtigste? - beten die Frauen und Mädchen an. Diese Männerphantasie pflegte in Worms schon Dieter Wedel. Bei so einer erotischen Kunstfigur erfahren wir mehr über Wedel als über Süß.

Mit sechs Frauen sechs Kinder zu machen, ist eine Empfehlung Wedels für das Thema, aber der eingekesselte Süß brachte es nur zu einem einzigen Kind. Und gerade von seinem kleinen Sohn erfuhr er bis zum Galgen nichts. Leider erzählt Sobol davon nichts. Ist halt keine prickelnde, den Hass steigende Sensation.

Wenn’s ins Bett geht, muss wieder Feuchtwanger ran. Süß soll dem Herzog das kleine Mädchen Magda ins Bett locken, eine erst vierzehnjährige. Unfug. So jemand war damals viel zu jung.

Magda wird durch Süß’ Mithilfe dem Herzog ins Prunkbett gezerrt, mit Gewalt. Süß sperrt die Türe zu, die Vergewaltigte schreit lange von drinnen.

Hier kehrt eine widerliche Szene der zweiten Wormser Fassung wieder. Um Süß zum Untier zu machen, wurde er von Wedel/Sobol zum Bewacher des Zimmers erniedrigt, in dem die Tochter eines Kirchenrats vergewaltigt wurde.

Wedel hatte daran Geschmack. Der kriminelle Voyeurismus wurde gut sichtbar rund zehn Minuten auf der Wormser Bühne zelebriert.

Ein Grundsatz der Theaterwelt, den mir schon ein Dramaturg von Friedl Schirmer im Stuttgarter Schauspielhaus aufs Auge drücken wollte: Der Süß muss etliche üble Seite im Charakter tragen, sonst darf er nicht auf die Bühne kommen.

Sonst wäre er ein Gutmensch, und der habe im Theater nichts zu suchen. Eine deutliche und peinliche Zusammenarbeit mit dem allgegenwärtigen Antisemitismus. Nein, meine Herren Theatermacher, so beschreiten sie, ohne es zu merken, die ausgetretenen Pfade der deutschen Antisemiten.

Der Vater, der die Vergewaltigung seiner Tochter mit anhören muss, bekommt das Justizministerium versprochen. – Was in Württemberg überhaupt nicht existierte. – Und ist zufrieden, selbstverständlich. Ein Vater, der hier rebelliert hätte, wäre diesen Theatermachern sicher inakzeptabel gewesen.

Das Purimfest, der jüdische Karneval, stört angeblich die christliche Fastenzeit. Nun setzt der traditionelle Judenhass ein, die Juden hätten Gottes Sohn umgebracht. Süß will flüchten, wird festgenommen. Ohne Haftbefehl. Mal wieder eine der vielen Anleihen bei meiner Biographie. Erste Haft auf der Festung Hohenneuffen bei Nürtingen, der Onkel Landau geht zu Süß auf die Festung.

Naiv, wie wenn es sich um eine Wanderung handelte. Die Festung war total abgeschlossen, die Obrigkeit ließ niemand zu dem Gefangenen, sie hätte mit heimlichen Nachrichten nach außen rechnen müssen. Süß sollte tot geschwiegen werden.

Der Prozess sei nur ein Scheinprozess, die wichtigsten Richter sind nur bei 12 Sitzungen von 102 überhaupt anwesend. Bei mir abgestaubt, folglich wenigstens richtig.

Aber Sobol verfehlt Süß’ Notlage, in dem er eine Delegation an den Kaiser in Wien in Gang setzt, für Süß. Gab es eben gerade nicht, wie Süß seinem Pflichtverteidiger Mögling bis zum Ende vorwarf.

Die nicht existenten jüdischen Gemeinden schicken eine Delegation an die anderen jüdischen Gemeinden in Deutschland, um für Süß etwas zu unternehmen. Doch die Juden wollen nichts für ihn tun. Sobol findet einen Ausweg aus der Zwangslage: Das seien halt JÜDISCHE BONZEN gewesen. Schwach, dieser Autor.

Der Pfaffe Hofmann verspricht Süß in der Haft die Freiheit, wenn er zum Christentum übertrete. Süß will nicht, denn er habe überhaupt kein Interesse an irgendeiner Religion.

Und dafür sterben? Absolut unglaubwürdig. Wofür den Märtyrer spielen?

Das Ende wenigstens kommt akzeptabel daher. Der Käfig schwebt vom Schnürboden herunter, hält diskret noch in der Höhe an. Süß bleibt davor stehen. Den Rest können wir uns denken.

In Worms hatte es da eine martialische Fassung gegeben. Süß wurde von einem antisemitischen Großgrundbesitzer den Galgenbuckel hinaufgeprügelt und in die Schlinge gepresst.

Wir haben das unnütze Theaterstück von Joshua Sobol überstanden. Und in Sachen Antisemitismus nichts gelernt. Von Süß fast nichts Zutreffendes erzählt bekommen.

Ein verlorener Abend. Passend zu den vielen untauglichen Stücken und Texten zu Joseph Süß Oppenheimer.

Es bleibt noch viel zu tun für die Rehabilitierung des Joseph Süß Oppenheimer, vom Stuttgarter geheimen Kriminaltribunal ermordet. Der deutsche Theaterbetrieb wird dazu kaum etwas beitragen können.

Hellmut G. Haasis
Juni 2013

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Anhang

Joshua Sobol:
Joseph Süß und unser „Süß-Land“

Säkularisierte Juden sind nicht wirklich gottlos. Sie sind Ableger der kabbalistischen Hypothese, dass Gott nicht perfekt ist und dass die Mission des Menschen darin besteht, diese Unvollkommenheit auszubessern und seine Fehler zu korrigieren.

Diese Tradition lässt sich auf Abraham zurückführen, der mit Gott stritt und versuchte, ihn von seinem Plan, Sodom und Gomorrha zu zerstören, abzubringen. Die Konfrontation mit Abraham zeigte, dass es Gott an moralischer Integrität mangelte.

Verleitet durch seinen Zorn, war er dabei, die ganze Bevölkerung dieser zwei Städte auszulöschen, ohne einen Gedanken daran zu wenden, ob es wirklich moralisch zu rechtfertigen sei, die Guten zusammen mit den Bösen zu töten.

Während ihrer langen Geschichte und besonders während der Zeiten der Spanischen Inquisition waren Juden bei vielen Gelegenheiten gezwungen, ihren eigenen Glauben aufzugeben und sich dem Glauben der herrschenden Mehrheit anzupassen.

Der Fall der Marranen ist beispielhaft: Die Juden lernten, der Form halber zu konvertieren, um so der Verfolgung zu entgehen. So entstand die so genannte „Marrano Mentalität“, die sich in einer tief gehenden Missachtung jeglicher Tradition äußert, da Tradition lediglich als sinnloser Gehorsam gegenüber den vorgegebenen Regeln angesehen wird und darum nichts mit Vernunft oder Wahrheit zu tun hat.

Aus der Kombination dieser beiden Strömungen entstand der säkularisierte Jude, dem bewusst ist, dass er sich weder auf Gott noch auf die Tradition verlassen kann, um die Unvollkommenheit der Welt oder der menschlichen Verfassung oder der sozialen Ungerechtigkeit zu verstehen und zu verbessern.

Joseph Süß Oppenheimer war solch ein säkularisierter Jude. Er wurde 1698 geboren und war neun Jahre alt, als die Englische Ostindien-Kompanie eine britische Aktiengesellschaft wurde und die „Megacorporation“ entstand, um Handel mit dem indischen Subkontinent zu betreiben. (1)

Als junger Geschäftsmann beobachtete (2) Joseph Süß, wie diese globale britische Handelsgesellschaft mit Seide, Baumwolle, Tee, Opium, Salpeter, Salz und Indigofarbstoff handelte. Da er durch keinerlei Fesseln der Tradition gebunden war (3), kann Joseph Süß nicht ertragen, dass sein Land, das Herzogtum Württemberg (4), der Kraft und Energie hinterher hinkt, die die schnell wachsende Wirtschaft in England und den Niederlanden antreibt.

Er versteht: Um seinem Land einen wirtschaftlichen Anstoß geben zu können, der Württemberg eventuell in die zukünftige Welt der Weltwirtschaft befördern könnte (5), muss er zunächst die Vorrechte der Landstände abschaffen, die die Schubkraft des Landes in Richtung Zukunft blockieren. (6)

Um dieses Ziel zu erreichen, erringt er die Kontrolle über das Münzmonopol (7) und macht so die ersten Schritte hin zu einem modernen Steuersystem (8), das vielleicht Herzog Karl Alexander aus dem harten Griff der rückschrittlichen, konservativen Aristokratie befreien könnte.

Diese Maßnahmen waren ein Dorn im Auge der reaktionären führenden Klasse. Die parasitäre Oberschicht hält Joseph Süß für ihren Todfeind und beschwört seine Vernichtung herauf.

Der Rest ist Geschichte. (9)

Als ein Ereignis der hinterlistig geführten Gerichtsverhandlung (10) wird Joseph Süß zum Inbegriff eines Sündenbocks des modernen Antisemitismus, der den Juden als eine kosmopolitische Kreatur (11) begreift, der einerseits illoyal gegenüber seinem Land und dessen sakrosankten Traditionen ist und andererseits einen geheimen Plan verfolgt, die Weltherrschaft (12) zu erlangen.

So gesehen wird Joseph Süß zum Vorläufer von Alfred Dreyfus in Frankreich, zum Vorläufer der jüdischen Intellektuellen und Schriftsteller in Stalins Sowjetrussland und zum Vorbild der nationalsozialistischen Repräsentation des Ewigen Juden in Veit Harlans berüchtigtem Film „Jud Süß“.

Ich stieß zum ersten Mal auf den Fall „Joseph Süß“ im Alter von 15 Jahren, als unser Lehrer, ein Überlebender des Holocaust, in einer Literaturklasse Lion Feuchtwangers „Jud Süß“ vorlas.

Viel später, vor etwa zwanzig Jahren, wurde ich von einem hebräischen Theater gebeten, Paul Korngolds „Jew Suess“ (13) ins Hebräische zu übersetzen.

Aber mein erneuertes Interesse am Charakter Joseph Süß wurde durch die Tatsache geweckt, dass der Staat Israel heute sowohl von den traditionellen als auch von den Neo-Antisemiten als eine Art „Jud Süß-Staat“ behandelt wird.

Alle diabolischen Eigenschaften, die fälschlicherweise (14) mit der Figur Joseph Süß verbunden worden waren, werden heutzutage gehässig auf Israel übertragen. So sehr, dass es nicht überraschend wäre, wenn die UN die Entscheidung billigen würde, Israel „Süß-Land“ zu nennen.

Diese widerwärtige Situation, dass mein Land von einer krankhaften Koalition zeitgenössischer Schurken böswillig beschmutzt, diffamiert und gehasst wird, so wie es Joseph Süß damals wurde, inspirierte mich dazu, eine „Süß-Trilogie“ zu schreiben.

„Der Kaufmann von Stuttgart“ ist ein Teil davon.“

(Der Kaufmann von Stuttgart. Schauspiel von Joshua Sobol. Uraufführung. Altes Schauspielhaus (Stuttgart), Spielzeit 2012/13. Programmheft, S.7-8)
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Anmerkungen von Hellmut G. Haasis:
(1) Mit der Englischen Ostindien-Kompanie hatte der kleinstädtische Heidelberger Händlersohn Joseph Süß nie zu tun. In der Kurpfalz war davon nie die Rede, Indien für das Ländchen am unteren Neckar überhaupt nicht existent. Das Ganze ist eine verkrampfte Konstruktion, die nichts erklärt, nur mehr verwirrt.
(2) Wie soll er das von Heidelberg oder Mannheim aus beobachtet haben? Die Indienkompanie handelte nicht am Neckar. Völlige Verkennung der riesigen regionalen Differenz.
(3) Süß war keineswegs ein bindungsloser moderner Egoist, er baute sein Leben im jüdischen Zusammenhang auf, selbst in Frankfurt. In Mannheim ging er zum moderneren Lebensstil der zugewanderten SEPHARDEN aus Spanien und Portugal über, aber er blieb immer Jude. Sobol schnitzt sich da einen anderen Menschen.
(4) Sobol weiß genau, was für einen Galimathias er da redet. Nicht Württemberg war die Heimat von Süß, sondern die Kurpfalz. Das war er in meiner Biographie mehr als ein Dutzend Mal zu lesen. Es ist gebräuchlicher Theaterunfug, jede Figur neu zu erfinden, alle reale Orientierung durcheinander zu wirbeln.
(5) Württemberg in die kommende Weltwirtschaft hineinbefördern? Dafür war das Land, war auch Süß um einige Nummern zu klein. Und sein Schicksal, seine Ermordung hat mit der Weltwirtschaft nichts zu tun. Das passt eher in die Pressekonferenz irgendeines Ministeriums oder einer Partei oder eines Parlaments.
(6) Eine Schubkraft in Richtung Zukunft? Blutleeres Gefasel. So entstehen keine Theaterideen, sondern nur Leerphrasen.
(7) Das Recht, Münzen zu prägen, lag immer beim Landesherrn. Darüber wachte der Kaiser mit einer Menge von Münzbeamten. Im Zweifelsfall wurden zu schlechte Münzen vom Kaiser verrufen. Das geschah regelmäßig mit den Münzen der kleinen Grafschaft Montfort am Bodensee, aber nicht mit den von Süß geprägten Münzen.
(8) Süß führte in Württemberg nie ein Steuersystem ein, erst recht nicht ein modernes.
(9) Wenn der Rest Geschichte ist, müssen wir dann annehmen, dass alles vorher nicht Geschichte war? Oder meint Sobol, der Rest sei überholt? Und doch macht er weiter. Ein unverständlicher Satz.
(10) Die Gerichtsverhandlung wurde nicht bloß hinterlistig geführt, sondern völlig geheim. Was die Herren dort alles getrickst haben, findet sich weit dokumentiert in meiner Biographie. Das hätte sich zu erzählen gelohnt, damit man die antisemitische Grundlage des Prozesses versteht.
(11) Kosmopolitismus wurde Süß in Stuttgart nie vorgeworfen, auch nicht bei Feuchtwanger. Das war eine Erfindung von Veit Harlan, dem Sobol lieber nicht hätte folgen sollen.
(12) Süß wurde nie vorgeworfen, die Weltherrschaft erringen zu wollen. Sobol sollte den NS-Antisemitismus nicht ins Zeitalter des Barock zurücktragen.
(13) Es handelt sich nicht um ein Stück des Wiener Komponisten Korngold, übrigens Erich Wolfgang Korngold (1897-1957), sondern um ein Theaterstück des Prager Paul Kornfeld (1889-1942 Getto Lodz, nicht nazistisch Litzmannstadt): „ HYPERLINK "http://de.wikipedia.org/wiki/Jud_S%C3%BCss_%28Kornfeld%29" \o "Jud Süss (Kornfeld)" Jud Süss. Tragödie in drei Akten und einem Epilog“. Uraufführung Oktober 1930 im HYPERLINK "http://de.wikipedia.org/wiki/Theater_am_Schiffbauerdamm" \o "Theater am Schiffbauerdamm" Theater am Schiffbauerdamm in Berlin.
(14) Völlig an den Haaren herbeigezogene Parallelisierung von Joseph Süß aus Heidelberg mit dem heutigen Staat Israel. Das geht nur, wenn man an der historischen Persönlichkeit annähernd alles verfälscht.

 


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