Die Berliner Journalistin Ruth Andreas-Friedrich (1901-1977) schrieb in Berlin ab 27. September 1938 (Vermeidung des Weltkriegs, Hitler bekommt in München die sudetendeutsche Gebiete der Tschechoslowakei geschenkt) Tagebuch. Sporadisch, gelegentlich so breit, dass man Zweifel bekommt, ob die Einträge so entstanden sind oder nicht erst nachher aufgefüllt wurden, z. B. nach dem Krieg.
Besonders während der Bombardierungen kommen mir die großen und ausgefeilten Einträge zweifelhaft vor – wenigstens im genauen Wortlaut. Manches sieht aus, wie wenn die Autorin später nach stichwortartigen Einträgen ganze Kapitel ausgeschrieben habe. Die Stimmung dürfte sie freilich getroffen haben.
“Berlin, Donnerstag, 9. November 1939
Gestern Abend ist im Münchner Bürgerbräu eine Höllenmaschine losgegangen. Kurz nachdem Hitler seine Ansprache an die alten Mitkämpfer und Blutordensträger beendet und die Versammlung verlassen hatte.
500 000 Mark sind zur Feststellung des Täters ausgesetzt. “Mensch, wenn die getroffen hätte, lägen wir alle betrunken unter dem Tisch!” empfängt mich Hollner in der Redaktion. Karla verhält sich merkwürdig still. Ob sie mehr über die Zusammenhänge weiß, als sie sagen will? In den Abendblättern schäumt man vor Zorn. “Es besteht kein Zweifel, dass bei diesem Attentat der englische Secret Service die Hände im Spiel hat”, tobt man.
Flamm und Andrik sind der Meinung, man habe wieder mal einen “Reichstagsbrand” inszeniert. Das heißt, sein Bombenattentat selbst veranstaltet.
In vielen Kreisen geht das Gerücht, Himmler habe dadurch seine Macht beweisen, Hitler die “Gnade der Vorsehung” veranschaulichen wollen. Vom wahren Täter fehlt jede Spur. Sechs alte Kämpfer mussten daran glauben. Mehr als ein halbes Hundert wurden verletzt. Seltsamerweise befindet sich kein einziger Prominenter darunter.
Karla lächelt wie eine Sphinx. Erich Tuch lässt sich nicht sprechen. Wir beraten uns mit Hinrichs, der gerade auf Urlaub kommt. Fremd und ein bisschen beängstigend in seiner Luftwaffenhauptmannsuniform. “Wäre das Ding bloß früher losgegangen!” schimpft er enttäuscht. “Was nützen uns Höllenmaschinen, wenn sie nicht rechtzeitig explodieren!” Über den vermeintlichen Täter weiß auch er nichts auszusagen. Eines nur steht ihm bombenfest. Der Secret Service steckt nicht dahinter.
(Dann folgt ein viel späterer Eintrag.)
Berlin, Montag 4. Dezember 1939
Immer noch munkelt man um die rätselhafte Bürgerbräu-Affäre. Als das Gerücht über eine Inszenierung aus den eigenen Reihen im Volk beängstigenden Umfang annahm, entschloss sich die Regierung, koste es, was es wolle, einen Täter herbeizuschaffen. Elser heißt der Mann, der, reichlich verspätet, mit Bild und Steckbrief, in allen Zeitungen erscheint. Man griff ihn angeblich, als er, den Plan des Bürgerbräukellers in der Tasche, soeben die Schweizer Grenze passierte.
Seltsame Duplizität der Verbrecherfehlhandlungen. Van der Lubbe steckt sich, als er den Reichstag anzündet und das Feuer ihm schon die Jacke versengt, sein kommunistisches Parteibuch in die Hosentasche. Vorsorglich, damit es im Falle seiner Ergreifung auch wirklich gefunden wird.
Elser tut das gleiche mit dem Plan seines Attentats. Was nützt ihm dieser Plan in der Schweiz? Will er ihn, zum ewigen Andenken, eingerahmt über seinem Bett aufhängen? Kein versierter Verschwörer lässt sich mit kompromittierenden Dokumenten erwischen. Am wenigstens dann, wenn er stunden-, tage- oder gar wochenlang Zeit hat, sie zu vernichten, im Ofen zu verbrennen, einem Gully anzuvertrauen oder mit der Wasserspülung hinunterzuspülen.
“Wenn es ihn wenigstens gäbe, diesen Elser!” sagt ein alter Reichsgerichtsrat verstimmt. “Aber ein Täter, der schon vor Jahren gestorben ist und nur noch als Photographie im Verbrecheralbum fungiert ...” Er schaut uns bekümmert an: “Für solches Theater setzt man die höchste deutsche Gerichtsbehörde in Bewegung.” Karls lächelt wie eine Sphinx. Doch das Volk beruhigt sich durch die Photographie. Und über der Nacht, dass Finnland mit Russland in den Krieg eingetreten ist, gerät Herr Elser samt Bürgerbräukellerplan, Höllenmaschine und Photographie aus dem Verbrecheralbum allmählich in Vergessenheit.”
(Ruth Andreas-Friedrich: Der Schattenmann. Schauplatz Berlin. Tagebuchaufzeichnungen 1938 1948. Mit einem Nachwort von Jörg Drews. Frankfurt/Main 1. Aufl. 1947, neue Edition 2000, S. 66-68)